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Biennale-Preisträger über Diversität im Theater
Jens Hillje: "Berlin ist wie ein Brennglas"

Als er 2013 am Gorki anfing, "fanden nur Menschen, sehr weiß, mit sehr deutschem Nachnamen auf der Bühne statt", sagte Jens Hillje, Co-Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin, im Dlf. In diesem Jahr erhält er den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig für sein Lebenswerk.

Jens Hillje im Gespräch mit Karin Fischer |
Intendant und Dramaturg Jens Hillje
Jens Hillje, Co-Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin (Esra Rotthoff)
Deutschland sei seit Jahrhunderten ein Einwanderungs- und ein Auswanderungsland gewesen und Migration eine Realität, die zu diesem Land und zu Berlin schon immer gehört habe und immer gehören werde, so Jens Hillje im Dlf. Das Gorki verstehe sich als Stadttheater, "aber es ist eine sehr komplexe, sehr diverse, sehr heterogene Stadt, die wir auf der Bühne künstlerisch verhandeln."
Das war damals etwas Neues, die Auseinandersetzung darüber, "wer wir sind und wer wir sein wollen in der Zukunft dieser Gesellschaft". Das postmigrantische Theater wolle Schluss machen mit der Lüge zum Beispiel über die 'Gastarbeiter':
"Es gibt sehr viele Schichten von Menschen, die nacheinander in die Stadt gekommen sind und diese Stadt jetzt gemeinsam ausmachen." Für das Theater heiße das konkret: Diese Menschen sind Bürgerinnen und Bürger einer Stadt, bezahlen für das Theater und sollen auf dem Theater stattfinden, so der Co-Direktor des Gorki-Theaters.
"Die Realität, als wir mit dem Gorki 2013 angefangen haben, war: Es fanden nur Menschen, sehr weiß, mit sehr deutschem Nachnamen auf der Bühne statt - in den Geschichten, in den Schauspielern, in den Machern, den Regisseuren, den Autoren, Autorinnen. Und das hat das Gorki verändert", so Hillje im Dlf. Er betrachtet als die dem Stadttheater ursprünglich eingeschriebene Aufgabe: "Das, was noch nicht ist, zu reflektieren."
Die blinden Flecken wahrnehmen
Das Gorki-Theater arbeite heute mit dem Begriff der Diversität. "Die migrantische Erfahrung ist die einer Diskriminierung in der Gesellschaft. Der Ansatz, den wir gewählt haben, ist: Was sind unsere blinden Flecken? Auf welche Gruppen, auf welche Konflikte, auf welche Menschen muss man schauen und deren Geschichten erzählen, damit wir uns anders wahrnehmen als Gesellschaft."
Im Theater könne auch Identität verhandelt, Geschichte persönlich genommen werden. Hilljes Projekt zur Eröffnung des Gorki-Theaters fragte: "Wo warst du die letzten 100 Jahre?" Als Mensch trage man immer die letzten 100 Jahre seiner persönlichen, individuellen, seiner Familien- und Nationalgeschichte in sich: im Körper oder im Verhalten. Das aufzublättern und zu fragen, wie sich die eigene Identität gebildet hat oder aus was sie sich speist, sei eine der großen Möglichkeiten und Chancen von Kunst oder von Theater. Durch Bewusstmachung der eigenen Identität könnten andere, fremde Identitäten auch einfacher akzeptiert werden.
Entscheidung fürs Deutsch sein
Hillje musste sich ebenfalls in diese Gesellschaft integrieren. Nachdem seine Eltern aus der DDR flüchteten, wuchs er zuerst in Mailand auf. Nach der Rückkehr der Familie nach Deutschland fühlte sich Hillje in Niederbayern nicht ganz zugehörig. Nach seinem Coming-out in den 80er Jahren und mit dem Stempel als "schwuler Junge auf dem Land" versehen, sei das Theater ein Ort für ihn gewesen, um sich selbst zu verwirklichen. Nachdem er zuerst vergeblich versuchte, nach Italien zurückzukehren, habe er dann aktiv die Entscheidung getroffen, das Deutsche als seine Identität anzuerkennen. Der schwelende Streit darüber, was "Deutsch sein" bedeute, könne aber auch eine positive Energie entfalten, wenn man es nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft beziehen würde.
Neue Autoren erzählen neue Geschichten
Oft neige das Theater zur Stagnation und brauche daher den Prozess der Öffnung. Dafür habe man am Gorki-Theater in den letzten Jahren neue Autorinnen und Autoren hinzugezogen und andere Menschen eingeladen, ihre Geschichten auf die Bühne zu bringen. Dazu gehört auch das 2016 entstandene Exil-Ensemble, bestehend aus Schauspieler*innen aus Syrien, Palästina und Afghanistan. "Was uns wichtig war, ist, einer der Lehren der Geschichte nachzukommen: Gerade für deutsche Theatermenschen war es wichtig, zwischen 1933 und 1945 die Möglichkeit eines Exils zu haben. Das ist ein Teil unserer Geschichte." Das Gorki ermögliche es anderen Künstlerinnen und Künstlern ihrer Kunst am Theater nachzugehen, auch wenn sie fremd sind in der Sprache. Das sei ein sehr produktiver Prozess. Das Theater könne gesellschaftliche Debatten grundsätzlich schneller auf der Bühne verhandeln als Film und Fernsehen und dabei von utopischen Momenten berichten - von dem, was man als Gesellschaft zusammen sein könnte, wenn man friedlich und offen miteinander lebt.
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