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Big Brother. Beobachtungen

Wer behauptet, dass nur die Dummen Big Brother schauen, hat unrecht. Der Beweis: Dreizehn internationale Akademiker, die Mehrzahl in Doktorwürden, einige sogar Universitätsprofessoren, haben die umstrittene Sendung nicht nur gesehen, sondern mit wissenschaftlichem Interesse verfolgt. Das Ergebnis ihrer Beobachtungen ist nun in Buchform erschienen. Unter dem Titel „Big Brother. Beobachtungen“ bildet dieses Buch beim Bielefelder transcript Verlag den Auftakt zu einer neuen Reihe über Masse und Medium.

Sibylle Kroll |
    Hat man in den dreizehn Beiträgen eine kritische Anti-Big-Brother-Haltung zu erwarten? Der Literaturwissenschaftler Gregor Schwering, Dozent an der Uni Siegen, gehört zu den Herausgebern des Bandes und beantwortet unsere Frage:

    „Dieses Buch positioniert sich nicht unmittelbar einsichtig auf einer Seite. Wir haben einen Weg dazwischen gesucht, d.h. abseits der Flügelkämpfe. Es ging uns eben darum, eine Heterogenität der Gesichtspunkte zu wahren, denn Big Brother ist ja keineswegs ein einheitlich wahrgenommenes Format, also es gab weder eine massive Anti-Haltung, noch eine massive Pro-Haltung. Es gab sowohl als auch, und genau das spiegelt letztendlich auch das Buch wieder im Einsatz der Autoren.“

    Mit Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftlern sind im Buch gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen und Perspektiven vertreten. Die Autoren sind jedoch weder am Inhalt der Sendung noch an empirischen oder statistischen Erhebungen und ihrer Auswertung interessiert. Ihr Augenmerkt gilt in der Hauptsache der Funktionsweise der Erfolgs-Sendung, die sie als Versuchsanordnung und als multi-mediales Format analysieren. Ein wesentlicher Aspekt dieser Reality-Show, der die Zuschauer nach wie vor fasziniert, wird von den Autoren besonders genau unter die Lupe genommen. Schwering:

    „Da war diese Behauptung der Authentizität. In Big Brother ist alles echt, die Leute sind keine professionellen Schauspieler, die spielen sich selbst wurde immer gesagt, und dabei wurden zwei Dinge vergessen: ...dass diese Leute, die in das Haus eingezogen sind, sorgfältig durch den Sender ausgesucht wurden, das ist die eine Sache, und das andere war natürlich, dass die Einwohner des Containers in dem Moment, wo sie drin waren und wo sie wussten, jetzt müssen wir sozusagen immer eine Runde weiterkommen, quasi gezwungen waren, sich selbst innerhalb einer Rolle zu begreifen und diese Rolle dann auch möglichst authentisch rüberzubringen. Das war eine Inszenierung und eine Inszenierung – und das ist das Interessante daran –, die versuchte sich selbst als Inszenierung vergessen zu machen.“

    Angesichts der neuen Regeln der soeben gestarteten dritten Staffel, zu denen die Enttarnung eines „Maulwurfs“ gehört, stellen sich in puncto Authentizität neue Fragen: Zum Beispiel, ob nicht schon in den beiden vorigen Staffeln ein Maulwurf heimlich die Geschicke und Gesprächsthemen im Container steuerte. Ob etwa das vielzitierte Shakespeare-Gespräch mit Zlatko wirklich so spontan war? Der Gesprächsverlauf ist im Buch genau nachzulesen und lässt den Leser stutzen: Wieso weiß Zlatko den Vornamen des ihm angeblich unbekannten Autors? Dem Medienwissenschaftler Nicolas Petheš dient das berühmt gewordene Gespräch zum Anlass, über die Grenzverwischung zwischen E und U, zwischen Hoch- und Popkultur zu philosophieren. Dieser wunderbar ironische Beitrag ist die Nr. 1 auf der Skala der Leselust. Am anderen Ende befindet sich die anspruchsvolle und für den Normalleser schwer zugängliche Theorie des Voyeurismus, die Gregor Schwering aus Schriften des Philosophen Jean-Paul Sartre und des Psychoanalytikers Jacques Lacan entwickelt. Bei der Lektüre dieses Beitrags drängt sich die Frage auf, ob der Sammelband sich nur an wissenschaftliche Insider richtet:

    „Wir haben natürlich schon in erster Linie an Kollegen gedacht, aber es kann auch den interessierten Laien interessieren, es kommt eben nur darauf an, ob der gewillt ist, sich auf einen wissenschaflichen Jargon einzulassen, warum sollte es nicht so sein. Wenn ich heute mein Auto zum Automechaniker bringe, dann lasse ich mich auch auf dessen Jargon ein, und wenn der mir irgend etwas erzählt von ‚defekter Zylindermuffe‘ oder so (keine Ahnung ob es so etwas gibt), dann stelle ich mich auch nicht dahin und sage dem Automechaniker, das können Sie aber bitte auch mal einfacher sagen.“

    Wenn man sich auf das Buch einlässt, und auch einmal bereit ist zum Lexikon zu greifen, um etwa das Wort Rhizomatik nachzuschlagen, ist der Band auch für Nichtakademiker über weite Strecken gut lesbar und verständlich. „Big Brother. Beobachtungen“ gibt spannende Einblick in die Funktionsweise und gesellschaftlichen Hintergründe des Phänomens Big Brother. So erfährt man, daß es im Zusammenhang mit Big Brother nicht nur um die Verschiebung der Grenzen zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ geht: In unterschiedlichen Beiträgen wird darüber diskutiert, ob wir eine Veröffentlichung des Privaten oder umgekehrt eine Privatisierung der Öffentlichkeit erleben – was jeweils völlig unterschiedliche Folgen für die Zukunft unserer Gesellschaft erwarten ließe.

    Für jene, die das alles für Haarspalterei halten, für die Zlatkos unter uns, hat Gregor Schwering einen interessanten Vorschlag: Werden Sie kreativ – machen Sie aus dem Buch einen Hit:

    „Da legt man einfach einen deftigen Hausbeat unter, nimmt einige Schnipsel aus den Texten, witzige Sätze gibt's ja genug, macht daraus einen Text, singt das und wenn man es mit der entsprechenden Aura versieht, also in den Köpfen der Leute etwas anstößt, dann könnte das der Beginn von Science House sein oder Science Techno.“