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Bilanz der Ruhrtriennale
Heiner Goebbels' große Fußspuren

Es ist die letzte Ruhrtriennale unter der Leitung von Heiner Goebbels. Der scheidende Intendant zielte dabei nicht auf Überwältigungstheater. Seine Programmierung könnte eher "spröde" genannt werden.

Von Karin Fischer |
    Der Intendant des Kunstfestivals "Ruhrtriennale"
    Der scheidende Intendant des Kunstfestivals Ruhrtriennale (AFP / John MacDougall)
    Diese Ruhrtriennale hat das Glück des Augenblicks ins Theater zurückgebracht. Jenen Moment des totalen Einverständnisses und des Hingerissenseins, der sonst nur Liebende ereilt. Dieses Augenblicksglück hatte viele Momente: Wenn eine Schafherde im Halbdunkel der riesigen Jahrhunderthalle in Bochum meditative Kreise zog und in der Eröffnungspremiere "De Materie" von Louis Andriessen so offensichtlich vor Augen führte, was es mit dem Ganzen und seinen Teilen so auf sich hat. Wenn Fred Frith mit den ersten Tönen seiner auf den Knien liegenden E-Gitarre ein elektrisierendes Gebirge aus Klang erschafft. Oder wenn in Romeo Castelluccis Inszenierung von Morton Feldmans "Neither" durch einen hohen Lichtkran die Spielfläche so schwankend beleuchtet wird, dass die riesige in die Halle gebaute Lokomotive sich tatsächlich schneller auf die Zuschauer zu bewegt.
    Führendes Festival Europas
    Dabei zielt Heiner Goebbels keineswegs auf Überwältigungstheater. Seine Programmierung "spröde" zu nennen, wäre angemessen; Gefälligkeit ist seine Sache nicht. Regisseure wie Castellucci oder der Choreograf Boris Charmatz sind die derzeit anstrengendsten, provozierendsten Figuren des europäischen Theaters: Ihre Bilder sind schön aber rätselhaft wie die eines Magritte; ihre Fragen an die Kunst sind hoch intellektuell. Und doch war die Ruhrtriennale unter Heiner Goebbels auch und vor allem eine Schule der Sinne, und ihr Signum: das ungewöhnliche Geräusch.
    Heiner Goebbels hat das Festival in den vergangenen Jahren zum führenden in Europa gemacht, näher an den Idealvorstellungen des Gründungs-Intendanten Gérard Mortier als sein Vorgänger Willy Decker und mit Impulsen, die ein Festival wie Salzburg kaum noch zu setzen vermag: Die verrückte Idee, den Knochenstaub Tausender toter Rinder mithilfe von Maschinen als "Frühlingsopfer" auf die Musik von "Le Sacre du Printemps" zum Tanzen zu bringen. Das auch finanziell ehrgeizige Projekt, die Oper von Harry Partch "Delusion of the Fury" wieder hörbar zu machen, für die jede Menge abgefahrener Musikinstrumente extra nachgebaut wurden. Goebbels hat auch viele Orte der Industriekultur wieder nachhaltig für eine Kunst etabliert, die konzeptuell und sinnlich funktioniert: ein Turm aus Wasser auf Zollverein in Essen; den Metallfluss zum Hüpfen, "Melt"; die Verwirrung der Wahrnehmung durch die Strichcode-Performance in Rioji Ikedas "test pattern". Goebbels hat den Tanz gestärkt und dessen wichtigste Protagonisten zur Ruhrtriennale geholt. Er hat die Kulturschaffenden der Region und hervorragende Institutionen vom ChorWerk Ruhr bis zu Pact Zollverein oder dem Museum Folkwang in Essen eingebunden. Und die Kinder, etwa in der Neuproduktion seiner eigenen "Surrogate Cities" mit einer Choreografie von Mathilde Monnier. Die man sicher auch für naiv halten kann. Doch "Surrogate Cities Ruhr" hat vielen Menschen aus dem Ruhrgebiet neue Bewegungs- und Hör-Räume erschlossen, nicht nur den 140 beteiligten Laien. Auch die Kinderjury, "The Childrens' Choice Award" ist ein Erfolgsmodell. Vor drei Jahren sagte Heiner Goebbels zu diesem Ansatz:
    "Ich denke, es geht in der Kunst um eine sehr unmittelbare Erfahrung – wie wenn Sie vor einem Bild stehen, das sich Ihnen nicht erklärt, aber dessen Dunkelheit Sie anzieht. Das schließt die Erkenntnis nicht aus, aber sie beruht auf mehr als dem Nachvollzug einer Geschichte. Ich glaube, dass Erfahrung alle unsere Sinne einbezieht, auch etwa den Sinn, dass man etwas nicht versteht. Nicht umsonst haben wir eine Kinderjury ins Leben gerufen, mit 75 Kindern aus verschiedenen Schulen, die uns sagen werden, was sie von den Sachen halten. Und dass wir Ihnen das zutrauen heißt, dass die Kunst, die wir präsentieren, keiner bildungsbürgerlichen Voraussetzung bedarf, sondern etwas mit Hören und Sehen zu tun hat. Wir haben es "No Education" genannt."
    Children´s Choice-Award
    Und so gab es bei der Vergabe der Children's Choice Awards gestern Nachmittag auch wieder jede Menge ungewöhnlicher Preis-Kategorien:
    "Den Preis 'Der Darsteller hat Talent' vergeben wir, weil er auf einer Gitarre Geige gespielt hat. Und der Preis geht an 'Fred Frith'."
    Weitere Preise heißen: "I love it!"; "Das Schönste an dem Stück war deine Stimme"; "Die Show, wo ich danach den Regisseur umbringen wollte UND das grausamste Stück, das ich je sah" oder: "Sie sollten ihre Schrauben nachziehen". Dieser Preis ging übrigens an "manger" von Boris Charmatz. Und wer gesehen hat, wie ein paar Leute, einfach indem sie viele Seiten essbares Papier variantenreich in sich hinein stopfen und danach glücklich oder überessen auf dem Boden zappeln, wie diese Tänzer das Essen als Surrogat, als Ersatz von Liebe inszenieren, der ist irritiert und gebannt von der Performance und der Botschaft – ganz ohne Überwältigungstheater. Johan Simons, Goebbels Nachfolger ab 2015, ist ein erfahrener Bespieler der Ruhrtriennale. Als Intendant hat er jetzt gestiegene Erwartungen zu erfüllen.