Silvia Engels: Bundeskanzlerin Merkel hatte im Ringen mit der CSU zugesagt, bilaterale Abkommen über Flüchtlingsrücknahmen abschließen zu wollen. Frankreich hat gestern grundsätzlich einem solchen Abkommen zugestimmt. Neben Italien, Österreich und Griechenland steht auch Bulgarien als Land für ein solches Abkommen auf der Liste der Kanzlerin.
Am Telefon ist Antoinette Primatarova, sie arbeitet als Politikanalystin am Zentrum für liberale Strategien in Sofia und war zuvor stellvertretende Außenministerin Bulgariens. Guten Morgen, Frau Primaterova.
Antoinette Primatarova: Guten Morgen.
Engels: Was für ein bilaterales Abkommen Angela Merkel genau im Sinn hat, das weiß man noch nicht. Aber wahrscheinlich schwebt ihr vor, dass Flüchtlinge, die in Bulgarien registriert wurden, wieder dorthin zurückgeschickt werden. Könnte man sich das in Bulgarien vorstellen?
Primatarova: Das ist noch nicht richtig zu einem Thema in Bulgarien geworden seitens der Regierung. Es gab nur ein Zeichen, dass das Thema offensichtlich im Zusammenhang mit den Diskussionen in Deutschland akut wird. Der Ministerpräsident hat am Montag während der Tagung der europäischen Ausschüsse der Parlamente, wobei Bulgarien die Ratspräsidentschaft hat, reagiert und gesagt, Bulgarien ist dafür, die Grenzen der Europäischen Union zu schließen und nur Flüchtlinge aufzunehmen, die legal einreisen.
Aber gestern Abend hat die Sozialistische Partei in Bulgarien - und das ist dann ganz anders als in Deutschland, wo die CSU darauf pocht, bilaterale Abkommen abzuschließen und Flüchtlinge zurückzuweisen -, die Sozialistische Partei in Bulgarien hat an die große Glocke gehängt, ohne jetzt explizit zu sagen, dass es um ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Bulgarien gehen könnte, gewarnt, dass Europa uns 45.000 Flüchtlinge, die über Bulgarien nach Deutschland oder in andere EU-Länder gekommen sind, zurückgibt.
Deshalb hat sie den Ministerpräsidenten aufgefordert, vor dem Europäischen Rat Ende des Monats im bulgarischen Parlament Rechenschaft dazu abzulegen, welche Stellung Bulgarien dazu hat. Bei uns ist es die Sozialistische Partei, die das Thema Flüchtlinge instrumentalisieren will und Ängste schüren will, denn 45.000 Flüchtlinge, die jetzt nach Bulgarien zurückgeschickt werden sollten, um sich die Dimension vorzustellen muss man sagen, dass in Bulgarien selbst auf der Höhe der Flüchtlingswelle 2015 der größte Andrang 20.000 war. Das wäre praktisch viel schlimmer als 2015, wenn es dazu kommen würde, und das wird natürlich eine sehr schwierige Situation sein.
Das Interessante ist, dass bulgarische Nationalisten, also ein Teil der Regierung, bis zu diesem Moment eigentlich darüber still sind und nichts gesagt haben. Offiziell gibt es keine Meinung, aber es wird unheimlich schwierig sein, und das Interessante ist, dass die oppositionelle Sozialistische Partei jetzt anfängt, Ängste zu schüren, dass wir von Flüchtlingen, die über Europa zurückgeschickt werden können, überschwemmt werden können.
"Ein solches bilaterales Abkommen wäre im klaren Widerspruch zu den Bemühungen Bulgariens"
Engels: Das heißt, Ihre Einschätzung wäre, die bulgarische Regierung würde unter Druck geraten und tendenziell nicht einem solchen bilateralen Abkommen zustimmen?
Primatarova: Ja, es wird sehr schwierig sein, weil auch die offizielle bulgarische Position, auch in der Ratspräsidentschaft, aber auch seit 2013 ist, dass Bulgarien an einer allgemeinen europäischen Lösung interessiert ist, und insofern wäre ein solches bilaterales Abkommen im klaren Widerspruch zu den Bemühungen Bulgariens, auch im Rahmen der Ratspräsidentschaft eine europäische Lösung zu finden.
Engels: Schauen wir noch auf die Situation in Bulgarien, die ja speziell ist. Bulgarien ist Mitglied der EU, aber kein Schengen-Staat. Bulgarien liegt nicht auf der sogenannten Westbalkan-Route, es grenzt aber an die Türkei, wo ja viele Flüchtlinge aus Syrien zurückgehalten werden. Wie geht Bulgarien denn praktisch mit den Flüchtlingen um, die ins Land kommen? Werden sie erfasst, aber reisen sie dann weiter?
Primatarova: Offensichtlich kommt es dazu, dass Flüchtlinge, die erfasst werden, dann irgendwie weiterziehen. Es hat 2017 sogar Fälle in Deutschland gegeben, wo nicht nur registrierte Flüchtlinge, sondern Flüchtlinge, die Asyl in Bulgarien bekommen haben, nach Deutschland weitergezogen sind, dort neue Anträge gestellt haben. Aber deutsche Gerichte haben dann unterschiedliche Urteile gefasst.
Es gibt Urteile in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in anderen Bundesländern, wo Gerichte entschieden haben, dass selbst Flüchtlinge mit Asylantenstatus in Bulgarien nicht zurückgeschickt werden können - aus Gründen der Humanität, dass Bulgarien nicht dasselbe Niveau von sozialen Leistungen den Flüchtlingen bieten kann, und dergleichen mehr.
Die erfassten Flüchtlinge - die Zahlen sind natürlich rapide gesunken. Ich habe gesagt, auf der Höhe der Flüchtlingswelle waren es 20.000. 2018 jetzt bis Juni sind praktisch nur etwa vier bis 500 Schutzbedürftige registriert worden in Bulgarien. Das sind sehr niedrige Zahlen und deshalb diese Angstmacherei, dass jetzt plötzlich 45.000 zurückkommen könnten in Bulgarien. Die Flüchtlingskapazitäten, die geschaffen wurden im Zusammenhang mit der 2015-Krise, belaufen sich auf etwa 5.000, 5.500 Plätze, und momentan weist die Statistik des bulgarischen Amtes für Flüchtlinge aus, dass nur 691 Flüchtlinge in solchen Lagern, Aufnahmestellen registriert sind.
"Bulgarien hat sich eigentlich nie den Visegrád-Ländern angeschlossen"
Engels: Sie haben es eben schon angesprochen: Bulgarien hat ja gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das Land hat ja schon mehrere Vorschläge gemacht, um Flüchtlinge besser und vielleicht auch fairer innerhalb der EU zu verteilen, und Bulgarien setzt sehr stark auf eine bessere Sicherung der Außengrenzen. Diese Vorschläge sind bislang alle nicht mehrheitsfähig geworden. Gerade aus Mittel- und Osteuropa gibt es dagegen starken Widerstand. Wie sehen Sie die Chancen, dass auf dem EU-Gipfel Ende Juni noch eine Einigung zu erreichen ist?
Primatarova: Die Möglichkeiten, eine Einigung im Rahmen des Ministerrates der Europäischen Union zu erreichen, wo Bulgarien die Ratspräsidentschaft hat, die sind erschöpft. Es ist klar geworden, dass es nicht dazu kommen kann, und da hat auch die Bundeskanzlerin Merkel kommentiert, dass man es versuchen wird, auf der Ebene des Europäischen Rates zu lösen.
Das heißt aber, im Europäischen Rat kann man nur mit Konsens eine Entscheidung durchbringen, während zum Beispiel 2015 gegen die Meinung der Visegrád-Länder diese Quoten so konfliktpotent geworden sind in der Europäischen Union und durchgesetzt wurden durch einen Mehrheitsbeschluss.
Bulgarien hat eigentlich sich nie den Visegrád-Ländern angeschlossen, weil es als eine Außengrenze der Europäischen Union sich dessen bewusst ist, dass es potenziell auch in dieselbe Lage geraten könnte wie Griechenland oder Italien, und deshalb war selbst in diesen Vorschlägen, die nicht konsensfähig geworden sind während der Ratspräsidentschaft, vorgesehen, dass im Ausnahmefall, wenn, sagen wir mal, die Flüchtlingszahlen in einem gewissen Land über 140 Prozent dessen gehen, was man als gewissermaßen akzeptabel finden könnte - 100 Prozent wäre berechnet auf der Grundlage von der Bevölkerung, dem Bruttoinlandsprodukt und dergleichen mehr, wieviel ein Land überhaupt aufnehmen kann.
Bei 140 Prozent wäre man in einem Krisenszenario und da hat Bulgarien mitgetragen, dass dann es wirklich zu einer Umverteilung der Flüchtlinge kommt. Aber die Visegrád-Länder haben das nicht akzeptiert. Unter gewissen Umständen wäre Bulgarien bereit, auch eine solche Entscheidung mitzutragen, weil es aus pragmatischen Erwägungen selbst in einer solchen Lage sein könnte.
Engels: Das war noch mal die bulgarische Position. Die Einigungschancen stehen aber nicht gut für den EU-Gipfel, so vielleicht kurz zusammengefasst.
Primatarova: Ja.
Engels: Vielen Dank, Frau Primaterova, dass Sie heute Zeit gefunden haben. Das war die ehemalige stellvertretende Außenministerin Bulgariens. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.