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"Bild"-Chef Reichelt attackiert China
Weltgesprächsstoff Nr. 1b

In einem Video greift Julian Reichelt die chinesische Politik in der Corona-Krise an. Arno Orzessek vermutet in seiner Glosse, dass der "Bild"-Chefredakteur die Auflage seiner Zeitung im Blick hat - oder doch die informatorische Weltherrschaft?

Von Arno Orzessek |
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt; im Hintergrund das Logo der Bildzeitung.
"Bild"-Chef Julian Reichelt (imago / Jörg Schüler)
War David einst nervös, bevor er den Riesen Goliath per Steinschleuder umgelegt hat? In der Bibel steht davon nichts. Insofern hinkt der Vergleich des Hirtenjungen David mit Julian Reichelt ein bisschen. Denn in dem Video, in dem sich der Bild-Chefredakteur die Weltmacht China vorknöpft, wirkt er durchaus hibbelig - trotz seiner herrlich männlichen Mimik, in der wir Cineasten das Beste von Dirty Harry alias Clint Eastwood und Hannibal Lecter im Schweigen der Lämmer verehren.
Aber was nicht ein bisschen hinkt, ist ja kein Vergleich. Und für Reichelt ist kein Vergleich zu groß. Ist denn unter ihm die "Bild" etwa nicht das, was einst der "Spiegel" war – das "Sturmgeschütz der Demokratie"? Studieren Sie mal das Video! Beherzt vertieft Reichelt in englischer Sprache die Thesen, die vorher die Papier-"Bild" auf Deutsch behandelt hat und dafür von der chinesischen Botschaft gedisst wurde: China habe nicht pünktlich vor Corona gewarnt, schulde uns jetzt die Kohle, die der Shutdown kostet, und sei überhaupt mega-fürchterlich; Überwachung, Unrecht, Unfreiheit, Ideenklau etc.
Reichelt ist so unerbittlich, dass man denkt: Wow, der könnte UN-Chefankläger werden – oder später mal Richter beim Jüngsten Gericht. Selbst Donald Trump jr. fand Reichelts Performance so stark, dass er das "Bild"-Video prompt geteilt hat. Auch wenn es zur Wahrheit gehört, dass seitdem ein Shitstorm durch seinen Twitter-Account bläst. User SilentStormOne etwa postete: "Die 'Bild' ist eine Zeitung mit der man toten Fisch beleidigt wenn man ihn darin einwickelt."
Reichelt in der Weltpresse
Doch zurück zu den Lebenden. Zwar verschweigt Chinas Presse unseres Wissens, ob sich Präsident Xi Jingping persönlich das Video reingezogen hat. Aber bestimmt hat er – so wie damals Erdogan Böhmermanns Ziegenficker-Gedicht. Immerhin erscheint im Video das Porträt Xis wie das eines gesuchten Schwerverbrechers. Und was kann er da schon anderes gedacht haben als: Bei Konfuzius, nicht nur der Trump! Dieser Reichelt ist genauso furchtlos! Der macht auch keinen Unterschied zwischen den Fakten und dem Blauen vom Himmel, wenn er uns anpissen will.
So oder so spricht vieles dafür, dass Reichelts Video nächst Corona Weltgesprächsstoff Nr. 1b ist. Ob Radio France Internationale, Radio China International, World Socialist Web Site oder The Jerusalem Post – alle berichten über den Angriff aufs Reich der Mitte. Viele haben allerdings ein Problem: Wie entlarvt man Reichelts Behauptungen, wie prangert man die anti-chinesische Hetze an, ohne sich verdächtig zu machen, implizit den Tunichtgut Xi und Chinas Machenschaften zu verteidigen?
Der Weg zur informatorischen Weltherrschaft
Einen guten Trick, um die gelbe Gefahr in der eigenen Argumentation zu bannen, fand das Online-Magazin "Telepolis": Es zerflückt zunächst Reichelts Rede lang und breit, schließt dann aber einen geopolitischen Essay an. Wahnsinns-Aufwand, klar. Es liest sich, als würde "Telepolis"-Autorin Renate Dillmann mit intellektuellen Kanonen auf einen Spatzen schießen.
Andererseits: Vielleicht ist Reichelt doch ein ausgepichter Stratege. Schließlich sinkt die Auflage der "Bild" wie ein Flugzeug im Landeanflug – und das nötig zur Handlung. Darum unter uns, Herr Reichelt: Hatten Sie bei Ihrer Video-Hetze "Der Morgen stirbt nie" im Sinn? Also den Bond-Thriller, in dem der Medien-Mogul Elliot Carver Krieg zwischen Großbritannien und China anfackeln will, um die informatorische Weltherrschaft zu erringen – was 007 verhindert.
Fiesling oder 007?
Denn wenn nun Ihr Fan Trump jr. Papa Donald bewegen würde, US-Truppen gegen China zu schicken, stünden "Bild" und Springer-Verlag natürlich treudoof an der Seite der USA, wie damals in Vietnam – was Springer nicht die Weltherrschaft brächte, aber ordentlich Auflage wohl, oder?
Nur bedenken Sie, Julian: Haben Sie im Ost-West-Konflikt erst den fiesen Elliot Carver gegeben, können Sie nicht auch noch James Bond sein. Und das wäre doch für einen Mann Ihres Formats sehr traurig.
Arno Orzessek. Seit 1966 Arbeiter- und Bauernsohn, geboren in Osnabrück. Studierte in Köln Philosophie und anderes. Dank "unverlangt eingesandt": SZ- und DLF-Autor; auch: zwei Romane. Lebt seit 2000 rundfunktreu in Berlin. Angesichts der Unordnung der Dinge thematisch unspezialisierter Stoffwechsel-Spezialist. Welt-Erfahrung per Motor- und Rennrad, plus Lektüre. Radio-Ideal: Geistvolles in sinnlicher Sprache; Ziel: Gedankenübertragung; Methode: Arbeit am Text; Verfassung: der Nächste bitte!