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Bilder aus dem Land der Zukunft

Das Filmfestival von Rio strengt sich an, eines der größten der Welt zu werden und versucht dem traditionsreichen Mostra von São Paulo das Wasser abzugraben.

Von Peter B. Schumann | 13.10.2012
    Rio de Janeiro, diese wunderbare Stadt, leidet an einem Minderwertigkeitskomplex, seit es den Status der Hauptstadt an Brasilia verloren und ihm die Betonwüste São Paulo den Rang als Kulturzentrum streitig gemacht hat. Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2014 soll sich das ändern.
    Rio rüstet kulturell auf: mit der Restaurierung alter Gemäuer, mit der Erschaffung neuer Museen und der Verwandlung verwaister Hafenlager in eine Kulturmeile. Dort, im Magazin der Utopie Nr. 6, ist das internationale Filmfestival eingezogen.

    Alles ist riesig, denn das Rio Fest strengt sich an, eines der größten der Welt zu werden und räumt mit 427 Filmen alles ab, was es meist auf anderen Festivals eingekauft hat: ein Supermarkt, der ganz gezielt der traditionsreichen Mostra von São Paulo, dem wichtigsten Cineasten-Ereignis Brasiliens, das Wasser abzugraben versucht. Rio bietet immerhin mit "Premiere Brasil" den breit gefächerten Überblick über den Stand des Filmschaffens der großen Nation.

    Eine Geschichte von Liebe und Wut erzählt Luis Bolognesi in einem Zeichentrickfilm. Dazu breitet er die 600-jährige Historie Brasiliens in vier Kapiteln aus: von der Vernichtung der indigenen Völker durch die Portugiesen, über die Sklaverei und die Militärdiktatur der 60er- und 70er-Jahre bis in die Zukunft 2096, wo er Rio in Trümmern sieht als Folge eines weltweiten Kampfs um das Wasser.

    Fünf Jahre lang hat Luis Bolognesi an dieser durchaus politischen Geschichte gearbeitet. Er will damit ein Genre für das erwachsene Publikum erschließen, das auch in anderen Ländern Lateinamerikas erprobt wird. Dazu bedient er sich einer raffiniert auf das Wesentliche reduzierten Zeichentechnik und einer manchmal etwas überbordenden Tonspur.

    Denn auffallend an den bemerkenswertesten Beiträgen dieser Jahresproduktion ist der wohltuend sparsame Einsatz der Musik und der ausgeklügelten Verwendung von Originaltönen, Dialogen und musikalischen Elementen. Auf diese Weise gelingt es Bernard Attal in "Die unsichtbare Sammlung", den poetischen Gehalt der gleichnamigen Novelle von Stefan Zweig herauszuarbeiten. Ein junger Mann hofft, einem alten Gutsbesitzer dessen kostbare Sammlung von Radierungen abzuluchsen, um damit sein Antiquariat vor der Krise zu retten. Seine Reise aufs Land wird zu einer Entdeckung nicht materieller Werte.

    Nur wenige Filmemacher greifen direkt soziale Konflikte auf wie Bruno Safadi den Irrsinn christlicher Sekten in seinem Werk Eden. Oder wie Philippe Barcinsky, der in "Zwischen den Niederungen" den gesellschaftlichen Absturz eines Mannes schildert, der sich zu einem Leben auf der Müllhalde entscheidet und sich dort dem Machtkampf um die Reste der Gesellschaft ausgesetzt sieht.

    Auch die Vergangenheit der Diktatur spielt wieder zunehmend eine Rolle wie zum Beispiel in dem Dokumentarfilm "Ein Tag, der 21 Jahre dauerte". Darin weist Camilo Tavares nach, dass sich die USA 1964 am Militärputsch unmittelbar beteiligt haben, weil der linke Präsident Goulart angeblich ihre Interessen gefährdete.

    Gesellschaftliches Engagement und formale Brillanz vereint Kleber Mendonça Filho in "Der Ton aus dem Umfeld", einem Film aus Recife, einem der immer zahlreicher werdenden Produktionszentren in den einzelnen Bundesstaaten, fern von dem Jahrzehnte alten Monopol Rio.

    Der Regisseur verzichtet auf jegliche Geschichte, reiht Situationen aneinander, die sich verschränken, ergänzen, erklären. Eine Gruppe von Wachleuten bietet sich an, den Schutz in einer Straße der oberen Mittelschicht zu übernehmen. Was harmlos beginnt, endet tödlich, entlädt sich aber nicht in schockierenden Bildern.

    Das Unwesen brasilianischer Milizen, der Paramilitärs, behandelt Kleber Mendonça Filho hier und setzt dabei nicht auf den Knalleffekt der Gewalt, sondern auf die Aussagekraft seiner Filmästhetik. Die mit nahezu hundert Filmen größte Jahresproduktion Lateinamerikas bietet nicht nur ein Übermaß an banalster, vom Fernsehkommerz mitfinanzierter Unterhaltung, sondern in der "Premiere Brasil" des Rio Film Festes auch einige Highlights, die sich durchaus mit der großen Tradition der 60er-Jahre vergleichen lassen.