Was vermag Bildung, womit ist sie überfordert? Diese Frage steht im Zentrum der Interventionen des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann. Sein neues Buch versammelt Beiträge zur Bildungspolitik und Kulturkritik. Die Zusammenstellung mutet dem Leser die eine oder andere Wiederholung zu, aber gerade dadurch wird deutlich, was den Autor umtreibt:
"Ich habe die Studienpläne, die Lehrpläne studiert. Ich arbeite ja seit Jahren im Universitätssystem. Ich hab die Bologna-Reform von Anfang an mitgemacht, ich kenne die Debatten, die Sitzungen, die Gremien, die Vorstellungen und Konzeptionen, die hier herumschwirren, das heißt also, ich wäre manchmal froh, wenn's nur Übertreibungen wären..."
So antwortet Konrad Paul Liessmann in einer Fernseh-Talkshow auf die Frage, ob er nicht doch ein zu schwarzes Bild male von der gegenwärtigen Bildungspraxis, dem schulischen und akademischen Alltag. Keineswegs, glaubt Liessmann, die Bildung werde buchstäblich zugrunde gerichtet.
Die größte Gefahr drohe ihr allerdings nicht von ihren Feinden und Verächtern, sondern von ihren Bewunderern.
"Auf der einen Seite ist für uns Bildung ganz, ganz wichtig geworden und ist der Überbegriff für alles, was sozusagen hier an Ressourcen und Energien und Talenten und Begabungen ausgeschöpft werden soll. Und auf der anderen Seite ist der gebildete Mensch für uns nach wie vor jemand, der verdächtig ist, weil er vielleicht nicht nur qualifiziert ist, weil er nicht nur fit für den Arbeitsmarkt ist, sondern darüber hinaus Ansprüche hat. Ich glaube, wir haben mit dem Bildungsbegriff das Problem, das wir ihn einerseits sehr eng fassen, andererseits viel zu weit fassen."
Forderung und Wirklichkeit klaffen auseinander
Eben darin besteht die "Provokation der Bildung", die diesem Band den Titel gibt. Einerseits, konstatiert der Autor, dient die Forderung nach "mehr Bildung" als Passepartout für soziale und wirtschaftliche Probleme aller Art, von der Arbeitslosigkeit über die grassierende Demokratiefeindlichkeit bis hin zum mangelnden Wirtschaftswachstum. Andererseits aber kann mit "Bildung im klassischen Sinn" (wie Liessmann etwas unscharf formuliert) kaum jemand noch etwas anfangen.
Heilserwartung und Desinteresse - wie passt das zusammen?
"Bildung, darin besteht ihr Stachel, lässt sich nicht auf formale Fähigkeiten und Anwendungsorientierungen reduzieren."
Konrad Paul Liessmann kämpft für einen normativen Begriff von Bildung. Diese ziele auf Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung. Sie entstehe maßgeblich aus Erfahrungen, in erster Linie durch die Begegnung mit klassischer Literatur.
Solche Erfahrungen, argumentiert der Autor, seien aber notwendigerweise individuelle. Lehrpläne könnten ihnen höchstens Raum geben und Anlässe bieten, aber sie ließen sich nicht planen.
Politisch unangenehm, aber durchaus folgerichtig: Bildung lässt sich weder vermessen noch kontrollieren, weder aufspalten noch portionsweise verteilen, kurz: nicht effizient organisieren.
"Lesen ist ein einsames Geschäft […] Man kann die Auseinandersetzung mit und die Aneignung von Literatur nicht erzwingen, man kann nur den Boden dafür bereiten. Lesen, in all seinen Varianten, ist geblieben, was es immer war: ein Minderheitenprogramm."
Ein "Minderheitenprogramm" - diese Haltung steht diametral zur bildungspolitischen Praxis des vergangenen Jahrzehnts. Zielstrebig wurde die Ganztagsschule eingeführt, die Akademikerquote erhöht, heute beginnt etwa jeder zweiter Schulabgänger ein Studium. Bildung für Bevölkerungsmehrheiten statt für Eliten - wie geht das? Geht das überhaupt?
Der Verlust der klassischen Bildung
Konrad Paul Liessmann beurteilt die Bildungsexpansion der letzten Jahre skeptisch. Er beklagt, dass die schöne Literatur und die alten Sprachen aus den Lehrplänen gedrängt wurden. Er kritisiert ungerechtfertigt gute Noten und Abgangszeugnisse ohne Aussagekraft. Vor allem aber missbilligt er das pädagogische Konzept der "Kompetenzorientierung".
"Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung, die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird, alles wird in Bezug auf dieses Können notwendigerweise als Mittel zu interpretieren sein."
Literatur gerate so "zum Vorwand, um Kompetenzen zu schulen". Als Unterrichtsmaterial sei das jeweils besondere literarische Werk tendenziell austauschbar, gleichwertig, damit gleichgültig. Ein derart instrumentelles Verhältnis hält Konrad Paul Liessmann für nicht weniger als barbarisch.
"Wer heute von Bildung spricht, glaubt an Wunder. Es gibt nichts, was man den Schulen nicht zutraut. Chancengleichheit für alle und Elitenbildung, Hochbegabtenförderung und Integration aller Benachteiligten, soziales Miteinander und Wettbewerbsvorteile für jeden, Beschwörung der Kreativität und Normierung des Denkens […] Individualisierung als Standardisierung, Bestnoten noch für die Schlechtesten."
Bildung als Wettbewerb
Bildung gelte als sozialpolitische Wunderwaffe. Damit, erklärt Liessmann, seien die Einrichtungen Institutionen heillos überfordert, die Anforderung paradox. Schule und Universität sollen Chancengleichheit herstellen und Wettbewerb organisieren. Wettbewerb führt aber notwendigerweise zu Ungleichheit. Er diskriminiert, das heißt: er unterscheidet zwischen Erfolgreichen und Erfolgslosen.
"Es überrascht, wie sehr Menschen, die an anderer Stelle das Erbrecht mit Zähnen und Klauen verteidigen, sich über die Tatsache, dass auch die Disposition für Bildungserfahrungen 'vererbt' werden, empören können […] Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Bildungssystem das schlechte Gewissen der Erwachsenenwelt auffangen soll - so, als würde die Vererbbarkeit von materiellem Vermögen keine Rolle mehr spielen, gelänge es nur die Vererbbarkeit von Bildung aufzuheben."
Touché! Liessmanns Kritik trifft ins Schwarze, wenn er den Bildungsglauben als innerweltliche Religion kennzeichnet. Auf die bildungspolitische Gretchenfrage - "Wie hältst Du es mit dem Privileg?" - hat er dagegen keine Antwort zu bieten. Und wie er den Gebildeten zeichnet - erhaben über den Moden und dem Meinungsstreit, reich an bleibenden Werten, sprich: den Klassikern - das ist weniger anachronistisch als nostalgisch, eine Verklärung einer vermeintlichen Vergangenheit. Immerhin: mit seiner scharfen Kritik am volkspädagogischen Machbarkeitswahn legt Konrad Paul Liessmann den Finger in die Wunde.
Konrad Paul Liessmann: Bildung als Provokation
Paul Zsolnay Verlag, 238 Seiten, 22 Euro.
Paul Zsolnay Verlag, 238 Seiten, 22 Euro.