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Bildung
Das Schulbuch als Forschungsobjekt

Das Schulbuch hat als Leitmedium zur Wissensvermittlung noch lange nicht ausgedient. Doch die Herausforderung der digitalen Medien setzt Verlage und Autoren zunehmend unter Druck. Wo steht das Schulbuch als Wissensmedium? Eine interdisziplinäre Tagung an der Gutenberg-Universität in Mainz ist dieser Frage nachgegangen.

Von Mirko Smiljanic |
    Eine Grundschülerin sortiert ihre Schulbücher
    Der Druck auf das klassische Schulbuch ist hoch (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Schulbücher wurden zu allen Zeiten misstrauisch beobachtet. Lehrer haben eine andere Perspektive als Eltern, Politiker eine andere als Fachverbände. Je nach politischer Orientierung des jeweiligen Bundeslandes sind die Inhalte entweder zu kritisch oder zu angepasst; wichtige Informationen würden fehlen, aktuelle Entwicklungen nicht widergespiegelt, Mädchen und Frauen in unzeitgemäßen Rollen dargestellt, das Layout sei mangelhaft, das Buch zu teuer und das Gewicht zu hoch. Was viele nicht bedenken: Inhalt und Form des Schulbuches seien eng miteinander verwoben, sagt Tobias Röhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Mainz und Organisator der Tagung "Das Schulbuch als Wissensmedium".
    "Die Form ist nicht nur wichtig für sich, sondern weil sie ja maßgeblich beeinflusst, wie der Inhalt erscheint und was für Inhalte da auch erscheinen. Um Ihnen ein einfaches Beispiel zu geben: Es ist für uns auch so ein profanes Detail wichtig, dass ein Schulbuch ein Buch sein muss, das offen liegen bleiben muss."
    Würde das Buch sich selbst zuklappen, hätte das für bestimmte Seiten oder Kapitel - also für Inhalte - dramatische Folgen: Sie würden möglicherweise nicht mehr gelesen, sind de facto nicht mehr vorhanden. Vergleichbares gilt für das Gewicht des Schulbuches. Mediziner fordern leichte Bücher, um die Belastung der Kinder zu reduzieren, womit sie aber gleichzeitig Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen.
    "Wenn man sich anguckt, was in den Verlagen passiert auf der Entwicklerseite, dann tauschen die sich in Redaktionssitzungen genau über solche Fragen aus, und wenn das Schulbuch ein bestimmtes Gewicht nicht überschreiten darf, dann müssen notfalls auch Inhalte geopfert werden, das heißt, diese materielle Seite ist auch relevant für die inhaltliche Seite der Schulbücher."
    Spätestens jetzt stellt sich die Frage, warum Verlage und Schulen nicht stärker die Möglichkeiten digitaler Medien nutzen? Warum ist das papierne Buch immer noch schulisches Leitmedium, während schon Erstklässler ohne Scheu Computer, Tablets und Smartphones nutzen? Zunächst einmal, sagt Tobias Röhl, sind Bücher aus Pappe und Papier "räumliche" Medien:
    "Ich weiß vielleicht noch, es stand vorne im Buch, vorne links oben, oder es stand hinten im Buch oder in der Mitte, diese Möglichkeit fehlt mir beim digitalen Schulbuch, ich habe das nicht in gleicher Weise räumlich, haptisch vor mir liegen und kann mich schlechter darin orientieren. Es gibt Studien von amerikanischen Universitäten, die mit Lehrbüchern Versuche gemacht haben, und festgestellt haben, dass das noch nicht so gut funktioniert, weil man sich nicht merken kann, an welcher Stelle stand was."
    Wo ist die Mitte eines E-Books?
    "Noch nicht so gut funktioniert", sagt Tobias Röhl und deutet damit ein gewisses Entwicklungspotenzial an. Nicht verleugnen lässt sich: Der Druck auf das klassische Schulbuch ist enorm. Dies hat mehrere Gründe, sagt Stefan Aufenanger, Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Zunächst einmal lassen sich digitale Medien wie Tablet-PCs wesentlich breiter einsetzen.
    "Das heißt, wenn zum Beispiel Physik- oder Chemieexperimente gemacht werden, werden die per Video aufgenommen mit dem Tablet, oder es werden Fotos gemacht, es wird ein Bericht dazu geschrieben, alles wird eingebunden in einer Präsentation: Oder in anderen Schulen werden die verschiedenen pädagogischen Anwendungen, Apps, wie wir sie nennen, verwendet. Das kann zum Beispiel im Sportunterricht sein, etwa die Möglichkeit, beim Hochsprung per Video den Sprung aufzuzeichnen. Der Lehrer oder die Lehrerin kann sofort den Schülern zeigen, was hast du da falsch gemacht oder was war gelungen, man kann das gemeinsam ansehen, muss nicht extra noch einen Fernseher aufbauen."
    Außerdem lässt sich die Sprungkurve im Mathematikunterricht für eine Kurvendiskussion nutzen - fachliche Vernetzung wird bei digitalen Schulmedien groß geschrieben. Nun sind klassische Schulbücher für solche Einsätze ohnehin ungeeignet. Aber auch auf deren ureigenem Terrain bieten E-Books weiterreichende Möglichkeiten.
    "In der Hinsicht, dass man Texte zur Verfügung stellt, sie liest, die Texte im digitalen Bereich können genauso wie in einem Buch oder in einer Zeitschrift markiert werden, man kann Anmerkungen machen, wir experimentieren zum Beispiel mit dem Social Reading, das heißt, dass ein Text im Internet steht, den man über einen Tablet sich anschaut, und dann kann gemeinsam eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern am Text Diskussionen führen, obwohl sie nicht real zusammen sind."
    Tablets: Teure Hardware mit ungewisser Lebensdauer
    Das Problem eines hohen Gewichts haben Tablets natürlich nicht, allerdings dürfe man die hohen Kosten nicht vernachlässigen. Alle Kinder brauchen Hardware und regelmäßig neue Programme, das ist teuer. Finanzielle Aspekte versetzen aber auch die Verlage in eine gewisse Schockstarre. Niemand wagt den großen digitalen Sprung.
    "Das eine ist, dass die meisten Schulbuchverlage verlangen, dass in der Schule auch das Schulbuch physisch vorhanden sein muss, damit es digital gekauft werden kann; und das zweite ist, dass wir in Deutschland ja verschiedene Zulassungsverfahren für Schulbücher haben, und einige Bundesländer verlangen zum Beispiel, dass das 'Schulbuch digital' eins zu eins ist wie das physische Schulbuch. Das heißt, dass dort keine Videos drin sind, keine Audios, keine Animationen oder interaktive Möglichkeiten."
    Die Verlage fürchten um ihr Geschäft, womit sie die gleichen Probleme haben, wie die Musik- und Medienindustrie: Beim Wechsel von der analogen in die digitale Welt gibt es auch Verlierer. Übrigens auch auf Seiten der Schüler. Studien zeigen, dass der Einsatz digitaler Medien keineswegs immer zu besseren Noten führt. Dies würde erst dann erreicht, wenn wirklich jeder Schüler und jede Schülerin den Umgang mit der neuen Technik beherrscht. Eine weltweite Vergleichsstudie, die "International Computer and Information Literacy Study", kam erst kürzlich zu dem Ergebnis, dass in Deutschland genau hier gravierende Defizite herrschen: Jeder fünfte Schüler kann nicht mit Computern umgehen!
    Hier sieht Stefan Aufenanger eine wichtige Aufgabe der Eltern. Er habe nichts dagegen, wenn "neben einem gedruckten Buch Eltern ein digitales Buch verwenden, wir führen selbst dazu Forschungen durch, es sind immer mehr Eltern, die digitale Medien verwenden, entweder ihr Smartphone verwenden oder ein Tablet verwenden, um mit den Kindern interaktive Kinderbücher anzuschauen, und ich denke, auch im Grundschulbereich gibt es viele Möglichkeiten, wo man gute Texte verwenden kann mit den Kindern. Wir werden bestimmt noch in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine parallele Nutzung haben, das heißt, das die Printbücher im schulischen Bereich und im außerschulischen Bereich bedeutsam sind, aber sie werden stärker noch ergänzt durch die digitalen Bücher."