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Bildung
"Die Kinder sind im Schatten des Ausländerrechts"

Jeder dritte einreisende Flüchtling in Deutschland sei ein Kind oder Jugendlicher und sie müssten auch als Kinder behandelt werden, sagte Ekin Deligöz (Die Grünen) im DLF. Das Vorstandsmitglied von UNICEF Deutschland kritisiert, dass begleitete Flüchtlingskinder mit ihren kinderspezifischen Bedürfnissen als solche nicht wahrgenommen würden.

Ekin Deligöz im Gespräch mit Benedikt Schulz |
    Schüler malen an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
    "Die beste Investition ist immer noch die Investition in die Ausbildung", sagte die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz. (dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte)
    Benedikt Schulz: Zwei Geschichten über Flüchtlinge in Deutschland und über die Bildung, die ihnen ermöglicht wird, die haben wir gerade gehört. Zwei durchaus positive Beispiele, die aber auch davon leben, dass sich Einzelne für sie engagieren, und deutschlandweit ist das immer noch die Ausnahme. Vor der Sendung habe ich gesprochen mit Ekin Deligöz, sie sitzt für die Grünen im Bundestag, und sie ist Vorstandsmitglied bei UNICEF Deutschland. Und meine erste Frage an sie war: Was ist ein Menschenrecht auf Bildung eigentlich wert, das für Flüchtlingskinder nur eingeschränkt gilt?
    Ekin Deligöz: Zunächst mal müssen wir feststellen, dass in Deutschland jeder dritte einreisende Flüchtling ein Kind oder ein Jugendlicher ist. Das ist eine relativ hohe Zahl, und eigentlich müssen wir diese auch als Kinder behandeln. Dazu sind wir auch verpflichtet, wir haben die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben, daraus kommen natürlich auch Pflichten. Und zu diesem Recht der Kinder gehört bei uns in Deutschland auch dazu das Recht auf Bildung. Nicht nur ein Recht, sondern eigentlich eine Pflichtausbildung. Wir haben ja Schulpflicht für die Kinder, die in Deutschland aufwachsen. Leider gilt diese Pflicht und dieses Recht für die Kinder auf der Flucht nur eingeschränkt. Und damit sind die Kinder ein Stück weit auf der Schattenseite dieses Rechtsanspruchs und fallen geradezu hinten raus. Es ist extrem schwierig für sie, überhaupt an die Bildungseinrichtungen heranzukommen, und da müssen wir einfach konsequenter an der Umsetzung noch arbeiten.
    "Ausländerrecht sehr eingeschränkt"
    Schulz: Sie haben gesagt, es ist extrem schwierig, überhaupt erst mal an Bildung zu kommen, also überhaupt einen Schulplatz zu bekommen. Wo liegen denn die größten Probleme da?
    Deligöz: Das ist dann schon mal von vornherein. Es ist nicht immer überall selbstverständlich, dass, wenn Kinder einreisen und in den Auffanglagern oder in den Ersteinrichtungen aufgenommen werden, dass sie dann möglichst schnell integriert werden, zum Beispiel über Sprachkurse, zum Beispiel über einen Kindergartenbesuch, weil man muss auch bedenken, dass über 45 Prozent der Kinder, die auf der Flucht sind und in Deutschland einreisen, unter fünf Jahren sind. Es wäre ein Leichtes, zu sagen, ihr könnt in einer Kindergartengruppe mit integriert werden. Das wäre gut für ihre sprachliche Entwicklung, sie würden eine gewisse Normalität erleben, sie würden andere Kinder erleben. Und Kindergarten ist ja weit mehr als nur eine Einrichtung für Kinder, wo sie aufgehoben sind, sondern das ist durchaus auch eine Bildungseinrichtung.
    Das Zweite ist, wir reden auch über Jugendliche. Und das Beste, was wir ihnen mit auf den Weg geben können, egal wie ihr Aufenthaltsstatus ist, ist eine gute Ausbildung. Wenn sie damit irgendwann mal zurückkehren, können sie sich eine Existenz daraus aufbauen. Also es ist nicht nur essenziell, dass die Jugendlichen beschäftigt sind und Inhalt in ihrem Leben bekommen, sondern dass diese Ausbildung auch nachhaltig ist.
    Da ist leider das Ausländerrecht sehr eingeschränkt. Es ist nichts selbstverständlich. Es gibt in Bayern jetzt die ersten Schulen, die die Flüchtlinge einschulen, insbesondere in den Berufsschulen. Das ist auch gut so, aber es ist noch eine Ausnahme in Deutschland. Eigentlich müsste es selbstverständlich sein. Kinder reisen ein, kommen in die Jugendhilfe, in die Schulen und in die Kindergärten, und, ganz wichtig, in die Sprachkurse.
    "Der Blick auf die Kinder muss geschärft werden"
    Schulz: Starre und unflexible Reglungen im Ausländerrecht sind jetzt nichts Neues. Ist der Politik das Thema nicht wichtig genug?
    Deligöz: Das Thema ist der Politik nicht bewusst genug. Die Kinder sind im Schatten des Ausländerrechts. Man orientiert sich immer an den Erwachsenen, das heißt, bei den Eltern. Bei dem geringen Anteil von unbegleiteten Minderjährigen ist das Problem ja ein bisschen besser gelöst, weil die kommen dann gleich in die Jugendhilfe, und die Jugendhilfe sorgt dafür, dass sie auch Integration in die Bildungseinrichtungen finden. Bei den begleiteten Kindern, also die Kinder, die mit ihren Eltern oder mit anderen Bezugserwachsenen einreisen, fallen diese leider in den Schatten und werden mit ihren kinderspezifischen Bedürfnissen als solche nicht wahrgenommen.
    Der Blick auf die Kinder muss geschärft werden, und die Kinderrechte als solche, nicht nur als Anhängsel ihrer Eltern, muss in den Vordergrund gestellt werden. Da sind wir sehr, sehr weit hinten, ganz im Gegenteil, wir sind geradezu dazu verpflichtet, die Rechte der Kinder auch in dieser Frage wahrzunehmen.
    "Die beste Investition ist immer noch die Investition in die Ausbildung"
    Schulz: Konzentrieren wir uns kurz auf den Bereich akademische und berufliche Ausbildung. Da führt ja in der Regel der Weg nur über einen bürokratischen Umweg, nämlich eben auch über die Ausländerbehörde. Müssen da die Regelungen an der Stelle schlicht flexibler werden? Müssen auch so Möglichkeiten zur Beihilfe wie das Bafög oder wie das BAB, muss das flexibler an die Gegebenheiten angepasst werden?
    Deligöz: Auf jeden Fall müssen wir unser Sozialrecht in der Frage flexibilisieren und Zugänge ermöglichen. Stellen Sie sich mal vor, ein junger Mensch auf der Flucht, der womöglich zu Hause keine richtige Schulbildung hatte, schafft es, in Deutschland Abitur zu machen und Zugang an die Universität zu schaffen, was das für eine Leistung ist. Das müssen wir unterstützen. Das müssen wir auch im Eigennutzen unterstützen, wenn die Jugendlichen hier bleiben, brauchen wir sie als qualifizierte Teilnehmer dieser Gesellschaft. Wenn die Jugendlichen zurückkehren in ihre Heimatländer, brauchen wir sie auch in der Qualifizierung, um die jeweiligen Länder wieder aufbauen zu können.
    Also, das Beste, was wir tun können, sei es unter dem Gesichtspunkt der globalen Verantwortung, Entwicklungshilfe, oder auch für das Verbleiben hier in diesem Land, ist Investition in die Bildung, Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, und zwar von allen Kindern und Jugendlichen, egal, wie sie nach Deutschland gekommen sind, ob sie hier aufwachsen, unter welchen Bedingungen. Die beste Investition ist immer noch die Investition in die Ausbildung.
    Schulz: Sagt Ekin Deligöz, Vorstandsmitglied bei UNICEF Deutschland. Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.