Archiv

Bildung in Brasilien
"Die Verhältnisse sind desolat"

In Brasilien sorgen die hohen Kosten für die bevorstehende Fußball-WM bei gleichzeitig knappen Kassen für die Bildung für Ärger und Proteste. Bei Grund- und Mittelschulen seien die Ressourcen tatsächlich knapp, sagte Christian Müller vom DAAD in Rio de Janeiro im DLF. Anders sähe es bei den Hochschulen aus.

Christian Müller im Gespräch mit Ulrike Burgwinkel | 04.06.2014
    Die Arena Pernambuco in Recife
    Dass die Regierung immense Beträge in den Bau von Stadien steckt, während das brasilianische Schulsystem mangelhaft ist, erzürnt die Bürger. (picture alliance / dpa - Srdjan Suki)
    Ulrike Burgwinkel: Im Vorfeld der Fußball-WM steht Brasilien im Fokus der Weltöffentlichkeit. Hohen Kosten für die WM stehen extrem knappe Ressourcen für Bildung entgegen, von preisgünstigem Wohnraum mal ganz zu schweigen. Jeden Tag gibt es Proteste und Demonstrationen, das kann man auch bei uns in den TV-Nachrichten sehen. Christian Müller ist der Leiter des Büros des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Rio de Janeiro. Guten Tag, Herr Müller!
    Christian Müller: Guten Tag!
    Burgwinkel: Herr Müller, wer geht denn da für die Bildung auf die Straße?
    Müller: Das ist eine ganz breite Mischung aus Personen, die zum Teil direkt mit der Bildung zu tun haben, also Lehrer zum Beispiel. Lehrer gehen auf die Straße, und das haben wir letztlich ja auch in ausführlicher Weise gesehen, Lehrer, die über ihre schlechten Arbeitsbedingungen, auch über ihre schlechten Löhne klagen, die protestieren gegenüber der Regierung, auch der Öffentlichkeit über die Verhältnisse, die in den öffentlichen Schulen hier herrschen. Also, wenn wir sagen, dass wenig Ressourcen für Bildung da sind, dann gilt das für das Schulwesen, also für die Grundschulen, für die Mittelschulen. Die sind schlecht ausgestattet im öffentlichen Bereich. Da sind die Verhältnisse wirklich desolat, und das weiß man auch.
    Hingegen, um das mal gleich zu sagen, in unserem Bereich, also im Bereich der Hochschulbildung, ist das öffentliche Universitätswesen sogar relativ gut finanziert. Da gehen auch die Professoren nicht auf die Straße, das kann man nicht sagen. Da reden wir über die Studenten. Die Studenten, die eher aus politischen Gründen gegenüber den Missständen in Gesellschaft und Politik klagen, gar nicht mal eigentlich gegen ihre Studienbedingungen, aber doch gegenüber gesellschaftlich-politischen Missständen. Da sehen wir halt viele Studenten auf der Straße, die die öffentlichen Proteste anführen.
    Burgwinkel: Dann sind die Hauptforderungen auch gar nicht unbedingt, bei den Studierenden zumindest, auf die eigenen Bedingungen gerichtet, sondern in der Tat auf das politische System?
    Müller: Ja, genau so. Natürlich gibt es mal Auslöser, und das im letzten Jahr schon, die aus den normalen Lebensbedingungen kommen, Buspreise: Was kostet mich das Busticket jeden Tag oder einmal im Monat, und da war eine Preiserhöhung letztes Jahr in Sao Paulo beschlossen worden, das löste dann diese Kette aus Protesten und Manifestationen, Demonstrationen aus, die das ganze Land überzogen haben.
    Brasilianische Regierung fördert Mobilität der Studierenden
    Burgwinkel: Jetzt möchte ich doch noch gerne auf Ihren Arbeitgeber zu sprechen kommen, auf den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Welche Rolle spielt denn der DAAD im Rahmen dieser Bildungsproteste? Oder spielen die Austauschprogramme eine Rolle? Wer zum Beispiel ein Land wie Deutschland kennengelernt hat, der sieht möglicherweise seine Heimat anschließend auch kritischer.
    Müller: Ja, das kann man sicherlich sagen. Ich glaube, die große Hoffnung, die wir haben, und da kann ich jetzt auch die brasilianische Regierung durchaus mitrechnen, die ja mit einem großen eigenen Programm die Mobilität der Studenten enorm fördert in den letzten Jahren. Auch die Regierung hat natürlich schon das Ziel, ihre jungen Leute auch international besser auszubilden, auch zu weltgewandteren und auch kritischeren Menschen zu erziehen, und dass man auch auf das eigene Land anders schaut, auch die Entwicklungsperspektiven, auch die Entwicklungsnotstände sozusagen hier klarer sieht. Natürlich ist der erste Gedanke, dass man da in seiner eigenen Wissenschaftswelt schaut, also wie ist mein Kurrikulum, wie muss mein Kurrikulum des Studiums modernisiert werden, vielleicht auch die Uni-Verwaltung, die zum Teil auch im Argen liegt, aber sicherlich auch allgemeingesellschaftliche Missstände. Das ist durchaus eine Hoffnung, die man hat und die wir alle haben, und das ist ja auch ein Teil der Begründung für internationale Mobilität, dass man einfach lernt, dass in anderen Ländern auch andere Wertesysteme vielleicht mindestens mal kennenlernt. Man muss sie ja nicht gleich übernehmen.
    Und da sehe ich auch schon unter unseren Alumni, also den ehemaligen Geförderten, die draußen waren, die in Deutschland waren, die hierher zurückkommen, könnte ich ganz viele Beispiele nennen, wo Menschen wirklich sich auch neu Gedanken machen, wie strukturiere ich mein Leben, wie komme ich zur Arbeit, muss ich unbedingt mit dem Auto fahren oder kann man vielleicht auch anders sich bewegen, mit öffentlichem Nahverkehr oder sogar mit dem Fahrrad? All solche relativ simple Fragen man neu stellt und neu beantwortet. Das beobachte ich in ganz breiter Form, und das ist, glaube ich, auch eine Hoffnung, die wir aus diesen großen Mobilitätsprogrammen ziehen, und auch zu Recht ziehen.
    Burgwinkel: Das war Christian Müller, der Leiter des DAAD-Büros in Rio de Janeiro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.