Seit knapp einem Monat ist die überwiegende Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler im Distanzunterricht. Ein Ende ist nicht wirklich absehbar. Vieles hat sich zwar eingespielt, gerade im Vergleich zum ersten Lockdown. Doch Kinder und Jugendliche sind von der Coronakrise besonders betroffen. Denn durch den Distanzunterricht entfällt für sie die Schule als sozialer Ort, als Ort der Begegnung mit Freunden und mit Lehrkräften. Insbesondere Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, zu denen Lehrkräfte keinen Kontakt mehr haben, verlieren häufig den Anschluss.
Markus Warnke ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Wübbenstiftung, die sich für mehr Chancengerechtigkeit von Kindern aus sozioökonimisch benachteiligten Familien einsetzt. Im Dlf-Gespräch sagte er, er hätte sich eine differenziertere Lösung von der Politik gewünscht und einen Plan B.
Philipp May: Herr Warnke, dort wo der häusliche Background fehlt, wie ist die Lage da gerade?
Markus Warnke: Vielleicht muss man sich die Lage auch angucken schon vor der Corona-Situation. Wir reden von Schulen, wo 70 bis 100 Prozent der Kinder aus Familien aus dem Sozialhilfebezug kommen. Es ist schon vorher so gewesen, vor der Corona-Krise, dass viele Erstklässler zunehmend gar keine Kindergartenerfahrung haben. Das heißt, sie haben gar nicht gelernt zuzuhören, im Stuhlkreis zu sitzen. Sie haben nicht gespielt, gepuzzelt, können den Zahlenraum nicht so gut erfassen, haben nicht gebastelt, nicht gemalt, können den Stift gar nicht halten. Das sind die Grundvoraussetzungen, mit denen die Schülerinnen und Schüler schon vor Corona in die Schule gekommen sind, und jetzt kommt Corona dazu. Der Lernort Schule fehlt, und alles bricht quasi zusammen.
"Wir versuchen Bildungsbrücken zu organisieren"
May: Können Sie mal ein Beispiel nennen? Wie wirkt sich das ganz konkret aus auch bei Ihrer Arbeit?
Warnke: Bei unserer Arbeit ist es so: Wir arbeiten mit ungefähr 200 Schulen in vier, fünf Bundesländern in Deutschland zusammen und sehr intensiv zum Beispiel in Duisburg-Marxloh, ein durchaus ja bundesweit bekannter Standort mit vielen Problemen, aber auch mit sehr, sehr engagierten Schulen. Diese Schulen haben zu Beginn des Jahres zum Beispiel Lernpakete gepackt, weil die Digitalisierung da noch nicht so gut funktioniert. Die Technik ist noch nicht so ausgereift, wie das an anderen Schulen der Fall ist. Lernpakete wurden gepackt und an einer Schule, einer Grundschule, die ungefähr 400 Schülerinnen und Schüler hat, wurden zum Beispiel am ersten Tag 90 Lernpakete nicht abgeholt.
May: Was passiert dann mit den Lernpaketen? Dann fährt jemand vorbei, nehme ich mal an, aus der Schule und bringt die vor Ort dann zu den Schülerinnen und Schülern? Oder wie ist das?
Warnke: Das sollte man meinen. Das wird auch oft versucht. Das ist etwas, was wir jetzt gerade versuchen, mit den Schulen und auch mit den Trägern vor Ort zu organisieren. Zusammen im Übrigen auch mit der Stadt und dem Schulministerium hier in Nordrhein-Westfalen versuchen wir, solche Bildungsbrücken zu organisieren. Das ist richtig, aber in der Regel, muss man sagen, fällt an vielen Stellen erst mal der Kontakt total flach, weil nämlich die Telefonnummern nicht mehr da sind, weil kein Elternteil rangeht, weil die technische Ausstattung nicht gut ist. Wir versuchen, Bildungsbrücken zu bauen. Die Gefahr besteht aber, dass der Kontakt komplett abbricht.
"Alle Länder hatten keinen Plan B"
May: War es aus dieser Perspektive möglicherweise auch ein Fehler, dass man gerade für solche Schulen einen Lockdown verhängt hat? War da möglicherweise oder ist da möglicherweise der Kollateralschaden zu groß? Oder war man einfach nur nicht genug vorbereitet?
Warnke: Man war auf jeden Fall nicht gut genug vorbereitet. Das muss man sagen. Ich hätte mir tatsächlich auch eine differenzierte Lösung gewünscht, dass man tatsächlich bei dem Lockdown vielleicht mal gefragt hätte, an welchen Schulen funktioniert die Technik noch nicht und wo ist die Situation auch so, dass von zuhause aus man nicht davon ausgehen kann, dass die Eltern, wie das jetzt in der Regel der Fall ist, den Assistenzlehrer spielen können. Insbesondere in Brennpunktschulen, denke ich, hätte man differenzierter hinschauen müssen.
May: Das heißt, was muss man jetzt machen - das Kind ist ja ganz offensichtlich schon in den Brunnen gefallen, so wie Sie das beschreiben -, um die Situation zu verbessern?
Warnke: Ich habe ein bisschen die Sorge, dass ein Déjà-vu sich wieder anbahnt und die ganze Situation sich wiederholt. Seit den Sommerferien warnen eigentlich eine Reihe von Experten genau vor dieser Situation und sie mahnen an, dass es Lösungen geben muss, einen sogenannten Plan B. Frau Ernst, die neue Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, hat letzte Woche eingestanden, dass alle Länder keinen Plan B hatten. Sie attestiert sich selber und ihren Kolleg*innen, allesamt berufserfahren, aus allen Parteien im Übrigen, im Prinzip ein Totalversagen und das ist natürlich fatal.
"Darüber nachdenken, wie man bessere Lernzeiten organisiert"
May: Wie erklären Sie das?
Warnke: Mich wundert das absolut, weil die Lernrückstände waren ja auch nach dem ersten Lockdown schon da. Alle, die sich mit der Situation an diesen Schulen beschäftigen, wissen, dass die Lehrer, die Schulleiter einem sagen, jedes Wochenende, was ein Kind unter normalen Bedingungen schon nicht in der Schule ist, ist ein Problem. Jede Ferien, die diese Kinder nicht in den Schulen sind, sind ein Problem. Jetzt haben wir mehrere Wochen, monatelang die Schulen geschlossen und mit dieser Situation muss man sich jetzt dringend auseinandersetzen.
May: Was gäbe es denn tatsächlich für Möglichkeiten, wie man diese Kinder – Sie haben von einem Beispiel erzählt: 400 Lernpakete; 90 Lernpakete wurden noch nicht mal abgeholt. Das ist ein Viertel der Kinder, die im Prinzip unter dem Radar gehen. Wie kriegt man die wieder in den Fokus?
Warnke: Da braucht man auf jeden Fall langfristige Strategien und gut durchdachte Therapien und nicht die täglichen Pflaster, die die Politik tagtäglich verteilt, oder auch die Schmerztabletten. Jetzt redet man gerade, was schon mal ganz gut ist, darüber, wie man die nächsten Ferien nutzen kann, die nächsten Sommerferien. Diese Diskussion hatten wir vor einem Jahr auch schon. Richtig ist: Wir müssen darüber nachdenken, wie man mehr und bessere Lernzeiten organisiert. Ich denke da als allererstes aber daran, wirklich an Schule anzusetzen. Optimal wäre aus meiner Sicht, über kleinere Klassengrößen nachzudenken. Ich weiß, dass viele sagen, das ist jetzt naiv, so etwas kann man ja gar nicht irgendwie organisieren, wir haben jetzt schon einen eklatanten Lehrkräftemangel, die Räume sind knapp. Nichts desto trotz: Über solche Sachen muss man nachdenken, oder alternativ zum Beispiel über feste Lerngruppen, die wirklich konstant über einen längeren Zeitraum – und da rede ich von Jahren – gemeinsam versuchen, jetzt die Dinge aufzuholen, die seit einem Jahr mehr oder weniger jetzt nicht vermittelt werden konnten.
May: Ist es eine Geldfrage oder eher eine Ressourcenfrage? Sie haben es ja gerade schon angedeutet.
Warnke: Bei Geld geht es ja auch um Ressourcen. Ich würde aber erst mal sagen, es geht um personelle Ressourcen.
"Alle Kinder haben natürlich in dieser Situation Bedarfe und Bedürfnisse"
May: Das meinte ich.
Warnke: Es ist natürlich so: Dadurch, dass es die Lehrer jetzt nicht gibt, wird man die auch nicht von heute auf morgen zaubern können. Insofern müssen wir natürlich schauen, wie man das idealerweise verknüpft, auch durchaus mit einer großen Flexibilität und Kreativität, mit den vorhandenen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, der Familienbildung. Da gibt es eine Reihe von Angeboten und da muss man jetzt einfach kreativ mit umgehen und schauen, wie man diese Sachen gut miteinander verknüpft und in Einklang bringt.
Die Ressourcen: Wir brauchen grundsätzlich mehr Ressourcen an diesen Stellen. Aber ich weiß auch, die kriegen wir nicht von heute auf morgen. Umso wichtiger, dass man sich jetzt darum bemüht und kümmert, weil da gibt es verschiedene Rechtskreise und Fördersysteme aufeinander abzustimmen.
May: Was mich wundert: Es wird jetzt wirklich seit im Prinzip dem ersten Lockdown permanent oder viel auch über die Schulen diskutiert und die Probleme, die sich daraus ergeben. Die Bundeskanzlerin hat noch vor dem zweiten Lockdown gesagt, diesmal sollen die Schulen wirklich als letztes dran kommen, wenn wieder das Land runtergefahren werden muss. Wird möglicherweise aber da immer auf die Bedürfnisse der falschen geschaut, die nicht das Problem darstellen, die Anwalts-, Apotheker-, Journalistenkinder, um mich mal mit selbst reinzunehmen, wo Beschulungsdefizite ohnehin viel besser aufgefangen werden?
Warnke: Dazu zählen auch die Kinder von Geschäftsführern von Stiftungen selbstverständlich. – Ich würde nicht sagen, auf die falsche Seite, aber zu einseitig. Alle Kinder haben natürlich in dieser Situation Bedarfe und Bedürfnisse, worauf die Politik reagieren muss. Aber tatsächlich glaube ich: Ich nehme mal den Klassiker, das Gymnasium. Da sitzen genau die Eltern, die Sie beschrieben haben. Die wissen ganz genau, wie sie den Oberbürgermeister, den Dezernenten, die Lokalpresse aktivieren können, wenn irgendetwas schiefläuft. Ich nenne mal eine Zahl: An 98 Prozent aller Gymnasien gibt es Lernplattformen. Aus einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2020 für die befreundete Robert-Bosch-Stiftung ist das rausgekommen. 60 Prozent der Gymnasien sagen jetzt schon, wir können sehr, sehr gut Videokonferenzen durchführen. Das sind unglaublich hohe Werte im Vergleich zu allen anderen Schulformen und deswegen glaube ich schon, dass man relativ einseitig zumindest die Probleme erst mal da thematisiert und anspricht und alles andere ein bisschen oder ziemlich außen vor lässt.
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