200.000 Schülerinnen und Schüler befinden sich aktuell in Quarantäne, über 3.000 Lehrerinnen und Lehrer haben sich mit dem Coronavirus infiziert. Dennoch plädiert Professor Dr. med. Jörg Fegert dafür, Kitas und Schulen möglichst lange offen zu lassen. Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm hält den persönlichen Kontakt der Kinder mit Gleichaltrigen und Lehrern für zentral.
Kinder brauchen Kontakt, vor allem diejenigen, die in der Coronakrise am stärksten betroffen sind. Sie brauchen die soziale Gruppe und die Unterstützung durch Schüler und Lehrer am dringendsten. In verschiedenen Studien sieht man bereits einen leichten Anstieg von psychosomatischen Beschwerden und leichten Auffälligkeiten - vor allem, wenn in der Wohnung wenig Platz ist und Eltern gestresst sind. Es gibt die Befürchtung, dass die Bildungsungleichheit durch diesen Zustand wächst und die psychische Gesundheit der Kinder leidet. Daher ist es wichtig, Kitas und Schulen so lange wie möglich offen zu halten - auch wenn dabei Engpässe bei Räumen und Personal entstehen.
Die Schule ist zentral wichtig. Dort finden und definieren Kinder ihren Platz in der gleichaltrigen Gruppe - auch, wenn viele Aktivitäten heute im Internet stattfinden. Der Nahbereich Schule ist immer noch ein Ort, wo soziale Nähe geknüpft bzw. Ablehnung und Zuneigung aushandelt werden. In der Coronapandemie kommt es zu einer neuen Situation: Für viele Jugendliche fallen informelle Treffs und Partys weg. Hinzu kommt eine neue Form des Mobbings: Wird ein Kind Corona-positiv getestet und andere müssen deshalb in Quarantäne, kommt es nicht selten zu Angriffen im Netz. Die Kinder müssen deshalb sensibilisiert werden, damit sie sanft und pfleglich miteinander umgehen. Kinder dürfen nicht an den Pranger gestellt werden - eine Infektion kann schließlich jedem passieren.
Die zentrale Rolle liegt bei den Eltern, die sehr viel steuern müssen. Besonders belastet sind Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Sie benötigen die meiste Unterstützung. Anzeichen von Entspannung zu Hause im ersten Lockdown gab es zumeist nur bei Familien, die es sich leisten konnten.
Lehrer und Lehrerinnen sind ebenfalls zentrale Ansprechpartner: Sie werden sowohl digital als auch emotional gebraucht. Sie steuern beim Lernen oder schlichten, wenn Kinder wegen einer Corona-Infektion gemobbt werden. Ärzte können Informationen liefern und in Gremien einbringen, zielgruppenspezifisch Hilfen fokussieren und die prekären Lebenslagen adressieren.
Kinder sind sehr flexibel. Sie stellen sich auch bei vielen neuen Coronaregeln am schnellsten um und weisen Erwachsene in manchen Fällen sogar darauf hin. Das Wichtigste, was man beim lebenslangen Lernen lernt, ist sich auf unterschiedliche Verhältnisse einzustellen. Das meiste lässt sich also nachholen. Was sich nicht nachholen lässt: wenn Kinder Abschlüsse nicht schaffen oder wegen Bildungsungleichheit deklassiert werden. Corona-bedingt droht über die soziale Ungleichheit hinaus eine riesige Gesundheitsschere und Bildungsschere aufzugehen. Die Klammerfunktion der Schule, die alle Kinder zusammenbringt, sollte zusammenbleiben.