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Bildung in Syrien
"Zwei Millionen Kinder können nicht zur Schule gehen"

Ohne Schule kein Unterricht: In Syrien ist ein großer Teil der Schulen zerstört, Millionen Kinder können nicht unterrichtet werden. Das berichtete Ninja Charbonneau von Unicef im DLF. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen fordert, Angriffe auf Schulen zu unterlassen - denn damit verstoße man gegen Völkerrecht.

Ninja Charbonneau im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Ein kleiner Junge sitzt vor einem grauen Schulgebäude mit einer Wandmalerei auf dem Bordstein.
    Kein Unterricht: Geschlossene Schule in der Region Ghuta nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus. (ABDULMONAM EASSA / AFP)
    Manfred Götzke: Im Jahr fünf des Syrien-Krieges leiden Hunderttausende Menschen in Syrien, aber auch in den Nachbarländern. Es fehlt an den elementarsten Dingen, die Menschen hungern und es gibt kaum medizinische Versorgung. Morgen sollen deshalb in London auf der Syrien-Geberkonferenz neue Hilfsmilliarden eingesammelt werden, und zwar schnell, damit der Tod nicht schneller kommt als das Geld - so hat es der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen jetzt formuliert. Das UN-Kinderhilfswerk fordert auch mehr Hilfe für die syrischen Kinder und warnt vor einer verlorenen Generation, eine Generation, die seit Jahren keine Schulen mehr besuchen kann. Ninja Charbonneau ist Pressesprecherin von Unicef Deutschland, hallo, Frau Charbonneau!
    Ninja Charbonneau: Hallo!
    Götzke: Ist Bildung, sind Schulbesuche in den umkämpften Regionen in Syrien momentan überhaupt möglich?
    Charbonneau: Das ist sehr unterschiedlich. Also, es gibt Regionen, die wirklich so hart umkämpft sind, dass ein Schulbesuch nicht möglich ist oder nur sehr schwer möglich ist, zum einen weil ein großer Teil der Schulen auch zerstört ist oder so schwer beschädigt ist, dass er nicht benutzbar ist, oder auch als Notunterkunft für Flüchtlinge dienen muss oder gar zu militärischen Zwecken zweckentfremdet wird. Also, die fehlenden Schulen sind das eine Thema und natürlich der unsichere Schulweg, wenn die Eltern zu viel Angst haben müssen, dass ihren Kindern schon auf dem Weg etwas passiert oder gar in der Schule, denn auch Angriffe auf Schulen selbst sind an der Tagesordnung. Dann lassen sie zum Teil ihre Kinder wieder zu Hause. Aber wir sehen in Städten wie Homs zum Beispiel, dass, sobald sich die Lage wieder beruhigt, dann auch der Schulbesuch dort wieder möglich ist.
    "Viele Kinder sind seit drei Jahren nicht zur Schule gegangen"
    Götzke: Können Sie das beziffern, also, welcher Anteil der Schüler, der Kinder und Jugendlichen in die Schule gehen kann in Syrien und wie viele nicht?
    Charbonneau: In Syrien selbst können zwei Millionen Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen, die eigentlich im besten Schulalter wären, also bis 17 rechnen wir hier. Und in den Nachbarländern sind es noch mal rund 700.000 syrische Flüchtlingskinder, in Jordanien, im Libanon, in der Türkei, die dort nicht zur Schule gehen können.
    Götzke: Das ist dann die verlorene Generation?
    Charbonneau: Die Gefahr besteht auf jeden Fall, denn viele Kinder und Jugendliche sind zum Teil seit zwei Jahren, seit drei Jahren, manche noch länger nicht zur Schule gegangen. Und wir wissen aus allen Kontexten, dass, je länger so eine Situation dauert, desto schwieriger wird es dann auch, den Wiedereinstieg zu finden für diejenigen, die schon so viel verpasst haben.
    Götzke: Jede vierte Schule in Syrien ist zerstört, natürlich sind solche Angriffe auf Schulen völkerrechtswidrig. Sie fordern jetzt, solche Angriffe zu unterlassen. Wie groß sind denn Ihre Hoffnungen, dass das passiert?
    Charbonneau: Es darf nicht sein, Schulen sind ein Ort für Kinder zum Lernen, sie sind geschützte Orte per Völkerrecht. Und daran müssen sich alle halten. Das heißt, wir fordern wiederholt mit Nachdruck alle Konfliktparteien auf, das Völkerrecht zu achten, ihrer Verpflichtung nachzukommen und besonders Schulen, aber auch natürlich Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen zu schützen.
    Götzke: Sehr schwierig in einem Krieg, in dem die meisten Opfer Zivilisten sind.
    Charbonneau: Das ist richtig, da können wir appellieren, da müssen wir appellieren. Und wir appellieren auch an diejenigen, die Einfluss ausüben können auf die Konfliktparteien, dass sie dort ihre Macht geltend machen, dass sie dort auch weiter Druck ausüben und den Druck verschärfen.
    Selbstlernkurse für Zuhause
    Götzke: Unicef will dieses Jahr rund ein Viertel des Budgets für Bildung ausgeben, das ist mehr als im vergangenen Jahr. Aber was können Sie im Krieg in Syrien überhaupt leisten, wie sind Sie da vor Ort überhaupt aktiv?
    Charbonneau: Erstaunlich viel. Also, das merke ich immer wieder in allen Gesprächen, dass sich viele Leute wundern, dass wir überhaupt in Syrien arbeiten können. Wir können sehr viel dort erreichen, wir haben rund 170 Mitarbeiter vor Ort und arbeiten mit einem breiten Netzwerk zusammen. Und wo immer es möglich ist, leisten wir Hilfe. Im Bereich Schulen heißt das konkret, dass wir zum Beispiel helfen, Schulen zu reparieren wie eben in Homs, wo der Schulbesuch wieder möglich ist. Das kann aber auch heißen, dass wir Schulmaterial verteilen, letztes Jahr zum Beispiel gab es keine funktionierenden Druckereien mehr, dann ist Unicef - eigentlich eher eine untypische Aufgabe für uns - hingegangen und hat die Schulbücher selbst gedruckt, damit wieder Schulmaterial verteilt werden kann. Und wir haben zusammen mit der Regierung, mit dem Bildungsministerium einen Selbstlernkurs entwickelt, in dem die wichtigsten vier Fächer drin stehen, damit Kinder auch zu Hause oder in einem Gemeindezentrum zum Beispiel außerhalb von Schulen lernen können.
    Götzke: Können Sie das noch mal näher erläutern, was ist genau dieser Selbstlernkurs, wie funktioniert das?
    Charbonneau: In dem Selbstlernkurs werden vier Fächer unterrichtet, Mathe, Englisch, Arabisch und Wissenschaften. Und diese Schlüsselfächer kann man sich dann selbst zu Hause aneignen unter Anleitung eines Erwachsenen. Das kann ein Elternteil sein, das kann aber auch ein geschulter Freiwilliger sein, der zum Beispiel in einer Notschule unterrichtet oder in einem Gemeindezentrum. Uns ist ein großes Anliegen, dass auch unter schwierigsten Bedingungen es möglich ist, dass die Kinder zumindest nicht ganz den Anschluss verlieren, selbst wenn es vielleicht nicht möglich ist, gerade wie normal jeden Tag zur Schule zu gehen.
    Kinder in der Dahyet al Rasheed School in Amman (Jordanien). Morgens gehen dort die jordanischen Kinder zum Unterricht, nachmittags syrische Flüchtlingskinder.
    Dahyet al Rasheed School in Amman (Jordanien): Morgens gehen dort die jordanischen Kinder zum Unterricht, nachmittags syrische Flüchtlingskinder. (dpa/picture alliance/Soeren Stache)
    Götzke: Die Arbeit von Unicef in Flüchtlingscamps ist ja relativ bekannt, in den Zeltstädten in Jordanien, im Libanon, da gibt es Schulen. Jetzt sind aber 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge gar nicht in den Camps, sie leben ganz normal in den Städten. Was bedeutet das für die Kinder, können die im Libanon, in Jordanien auf die öffentlichen Schulen gehen?
    Charbonneau: Das ist in der Tat ein großes Problem, denn es ist auch eine große Herausforderung für die Gastgemeinden, also für die Städte und Dörfer, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Man muss sich mal vorstellen, dass es einige Städte gibt an den Grenzen, zum Beispiel im Libanon oder in der Türkei, in denen es mittlerweile genauso viele Flüchtlinge wie Einheimische gibt. Das ist natürlich dann eine Belastung auch für das Schulsystem. Wir sind dort hingegangen und haben nach vielen Gesprächen erreicht, dass die Flüchtlingskinder genau wie die anderen Kinder auch in öffentliche Schulen gehen können, und die laufen jetzt zum Teil in Jordanien, im Libanon zum Beispiel im Schichtbetrieb, dass morgens die einheimischen Kinder da sind, nachmittags die Flüchtlingskinder. Das ist zwar auch nur eine Zwischenlösung, aber das ist auf jeden Fall schon mal ein guter Weg.
    Götzke: Ninja Charbonneau warnt vor einer verlorenen Generation in Syrien, Kinder, die jahrelang keine Schule besucht haben. Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.