"An keinem Punkt ist die Unbeweglichkeit unserer politischen Verhältnisse so deutlich sichtbar wie an der Herrschaft der Formeln über das politische Denken, die längst schon den Weg zu den Sachen versperrt."
Freiburg im Januar 1968. Wie ein Komet erscheint der Soziologe Ralf Dahrendorf am bewölkten Himmel der damals vor sich hin dümpelnden Oppositionspartei FDP.
"Der Wall von Formeln, den wir um uns aufgebaut haben, ist fast schon zu einer Bastille geworden, die die politisch Führenden von den Menschen im Lande trennt."
Dabei war ihm die Entscheidung, sich in der Politik für die Liberalen zu engagieren, biographisch nicht vorgegeben. Denn der intellektuelle Senkrechtstarter ist vom Widerstand seines sozialdemokratischen Vaters Gustav Dahrendorf gegen Hitler politisch-moralisch geprägt worden.
Sohn Ralf sieht sich immer als "doppelt gebranntes Kind des Totalitarismus". Die Historikerin Franziska Meifort schildert seine Zeit der erneuten Verfolgung im besetzten Nachkriegs-Berlin:
"Und dann nach 1945, als die sowjetischen Besatzer in der Stadt waren und sein Vater aus dem Zuchthaus befreit wurde, engagierte sich Gustav Dahrendorf früh bei der SPD, stellte sich dann aber gegen die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD und geriet also selber ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes. Und wieder wurde Dahrendorf auf dem Schulweg abgepasst von Geheimdienstmitarbeitern, diesmal nicht von der Gestapo, sondern vom sowjetischen Geheimdienst und verhört."
Konflikttheoretiker in einer offenen Gesellschaft
Der gebürtige Hamburger studiert Philosophie und Germanistik, tritt dem sozialistischen SDS bei und promoviert mit 23 über den Gerechtigkeitsbegriff bei Marx. Danach absolviert er noch ein PhD-Studium an der London School of Economics. Dort untermauert er sein Freiheitscredo, das ihn ideologisch von der traditionellen Sozialdemokratie wegführt. Unter seinem positivistischen Ziehvater Karl Popper avanciert Dahrendorf zum Konflikttheoretiker. Franziska Meifort beschreibt ihn als den deutschen Protagonisten einer "offenen Gesellschaft":
"Insbesondere die Popper'sche Position, das wir in einer Welt der Ungewissheit leben, dass niemand weiß, was richtig und was falsch ist und dass wir stets auf der Suche nach neueren und besseren Antworten sein müssen. Und in diesem Sinn hat er sich dann zum Prinzip des Trial-and-Error bekannt. Also man muss immer wieder ausprobieren und sehen: Funktioniert etwas oder funktioniert etwas nicht?"
Das "akademische Wunderkind" wird Professor in Saarbrücken, ehe er an der Universität Tübingen seine intellektuelle Mission entdeckt: Dahrendorf trommelt für Bildungs- und Hochschulreformen und einen gesellschaftlichen Demokratisierungsdiskurs. "Bildung ist Bürgerrecht" wird zu seinem Markenzeichen. Als er mit seinen ehrgeizigen Plänen als Gründungsrektor der Reformuni in Konstanz auf bürokratische Grenzen stößt, treibt es ihn in die Politik.
"Er hatte einen unbedingten Wunsch nach Wirkung, war deshalb stets auf der Suche nach den größtmöglichen Einflussmöglichkeiten. Willy Brandt berät er, Kurt-Georg Kiesinger ganz entscheidend, vor allem in seiner Zeit als Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Und schließlich reicht ihm das auch nicht mehr".
Freiluftduell mit Rudi Dutschke
In der aktiven Politik versucht der brillante Rhetoriker zunächst sein Glück als freidemokratischer Landtagsabgeordneter in Stuttgart. Seine kurzlebige Politkarriere beginnt er mit einem Paukenschlag. Der eloquente Diskutant streitet sich draußen vor der Tür des Freiburger Bundesparteitags der Liberalen mit Studentenführer Rudi Dutschke. Das Bild der beiden macht Geschichte und ziert auch das Cover des Buches.
"Rudi Dutschke, den ich sehr geschätzt habe, hat an den parlamentarischen Möglichkeiten gezweifelt. Er glaubte, dass man nur außerparlamentarisch Dinge bewegen kann. Ich war überzeugt davon, dass das parlamentarisch gehen muss und wollte jedenfalls dafür kämpfen".
Franziska Meifort schildert, wie der programmatische Seiteneinsteiger durchaus Wirkung erzielt:
"Durch Dahrendorfs Einfluss wurden die Partizipation des Bürgers an der Politik, die Transparenz von Herrschaft und Elemente direkter Demokratie zu entscheidenden Zielen des FDP-Programms".
Doch der politische Aufstieg währt nicht lange. Zwar zieht er 1969 als intellektuelles Zugpferd seiner Partei in den Bundestag ein, wird jedoch von FDP-Chef Scheel auf dem Posten des parlamentarischen Staatssekretärs im Außenministerium mehr domestiziert als gefördert.
Als Lord Dahrendorf im britischen Oberhaus
Schon 1970 verschwindet er von der Bonner Bühne. Denn er hatte falsche Erwartungen und war mit Alleingängen angeeckt:
"Dahrendorf blieb ein Einzelkämpfer, der sich keinen Rückhalt in der Partei aufbauen konnte. Schließlich fiel es ihm schwer, sich in seiner Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär dem Außenminister Walter Scheel unterzuordnen".
Er wird als EG-Kommissar nach Brüssel abgeschoben, wo es ihn auch nicht lange halten sollte. Franziska Meifort:
"Dahrendorfs ganze Frustration brach sich Bahn, wenn er etwa von der 'charakteristischen Kleinkariertheit' der EWG und der 'wachsenden Ineffizienz' des Ministerrates sprach."
So kehrt der "Tausendsassa zwischen den Stühlen" 1974 ins akademische Leben zurück, als Direktor der London School of Economics. Später zum Lord geadelt, sitzt er ab 1993 im britischen Oberhaus.
Dennoch beliefert er die deutsche Szene weiterhin mit brillanten Essays von draußen.
"Ich selber betrachte mich eigentlich vor allem als Grenzgänger, als einer, der seinen eigenen Weg geht zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Politik und auch zwischen den Organisationen und Institutionen."
Franziska Meifort präsentiert dem Leser eine dichte Arbeit, die sich auf bislang unerschlossene private Quellen stützt und wohltuend unakademisch geschrieben ist. Ihr Ansatz gelingt vortrefflich, Dahrendorfs Leben und Wirken als Rollenspiel zwischen den Sphären zu zentrieren.
Franziska Meifort: "Ralf Dahrendorf. Eine Biographie"
C.H.Beck Verlag, 477 Seiten, 38 Euro.
C.H.Beck Verlag, 477 Seiten, 38 Euro.