"Das Leben findet einen Weg!" - dieser epische Satz jenes Chaostheoretikers in "Jurassic Park" bedeutet: Auf einen Schmetterlingsflügelschlag hier, könnte andernorts eine Naturkatastrophe folgen. Die Welt ist ein Kausalgefüge, indem auf ein "A" eigentlich immer ein "B" folgt. Da überrascht es doch, dass Philosoph und Hochschullehrer Friedrich von Borries im Rahmen eines Großprojekts eine Zusammenarbeit der Hochschule für Bildende Künste Hamburg mit dem Museum für Kunst und Gewerbe und der Bundeszentrale für Politische Bildung einen Begriff in den Raum stellt: die Folgenlosigkeit. Wäre ein Leben, das möglichst folgenlos bleibt, zu bevorzugen? Und: Kann es ein folgenloses Leben überhaupt geben? Philosophische Fragen stellt die Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das muss vorerst noch geschlossen bleiben. Aber die App "Schule der Folgenlosigkeit" kann man schon anspielen.
Folgenlosigkeit - Ein Selbstversuch
Die eine Hand kocht Kaffee, die andere hält das Smartphone. Die "Schule der Folgenlosigkeit" ist zunächst mal eine App, ein Philosophiekurs, und auch ein Game, das ich überall hin mitnehmen kann.
Friedrich von Borries: "Ich nehme Sie mal mit in mein Arbeitszimmer und Sie pegeln das aus."
Dem Initiator dieser Schule, Professor Doktor Friedrich von Borries, begegne ich auf zwei Ebenen: Nämlich einmal in der App - als Lehrer, Tutor, Philosophie-Coach. Und dann auch am Telefon, um nochmal darüber zu reden.
App: "Herzlich willkommen in der Schule der Folgenlosigkeit. Hier finden Sie: Kleine Spiele, Aufgaben und Interviews mit Expert*innen."
Allerdings musste ich mir für die App das iPhone eines Freundes ausleihen. Die App ist sehr groß, erfordert Gesichtserkennung und diverse Augmented Reality-Programmierungen. So soll ich, mit dem Phone in der Hand, in einer Aufgabe, die Wirklichkeit vor mir ausbalancieren. Zu viel verlangt, vom meinem Allerwelts-Android-Handy.
Von Borries: "Wie soll man sagen? Es ist ja nicht das Navigationssystem von VW, das bei allen in der Breite funktionieren soll, sondern ein künstlerisch-wissenschaftliches Experiment. Dann haben wir gesagt: Wir reizen mal aus, was die Technik heute kann, mit dem Preis, dass das dann vielleicht nicht alle Geräte können."
Das Dilemma der Gegenwart
Sollte man wissen! Dabei: Die App ist ein Augenschmaus. Wunderschön gemacht: Videosequenzen, die mich in Multiple Choice Test-Menüs führen. Vom Video-Wald hinein in den Datenwald in meinem eigenen Kopf: Ist mir eigentlich bewusst, wie viele Spuren ich hinterlasse, sobald ich online gehe? Darum geht es in Themenkomplex 7 von 12. Die Fragenkataloge sind ganz schön neugierig: Ob und wie ich meine Mails verschlüssele, will die App wissen. Und ob ich mir über meinen eigenen ökologischen Fußabdruck wirklich so bewusst bin? - und auch bereit wäre, mein Verhalten zu ändern?
App: "Worum es geht? Um nichts weniger als um ein neues Ideal: die Folgenlosigkeit. Der Begriff Folgenlosigkeit beschreibt sehr gut das Dilemma der Gegenwart. Die Klimakatastrophe zeigt uns, dass unser Verhalten gravierende Folgen hat. Gleichzeitig scheint es, als ob viele Bemühungen, dagegen etwas zu tun, folgenlos blieben."
Nachdenken ist gut, ins Handeln Kommen ist besser, sagt die App mit jeder Aufgabe. Zum Beispiel soll ich versuchen, draußen in meiner Einkaufsstraße eine Warteschlange zu initiieren. Hier könnte es ja etwas geben: das neue iPhone, eine Wohnung, einen Corona-Test, oder etwas umsonst! Ich versuche das, merke aber schnell: meine Versuche bleiben folgenlos. Niemand interessiert sich für meine Ein-Personen-Warteschlange. Die App indes bindet mich gefühlsmäßig: Für manche Aufgaben erhalte ich "Scorer-Punkte", zum Beispiel dafür, ein Selfie von mir zu übermitteln; echte Überwindung. Ich hasse Selfies! Meine Daten und Bilder gehören mir!
Von Borries: (lacht) "Das Belohnungssystem ist ganz gemein. Sie verlieren auch wieder Punkte."
Komm ins Handeln!
Ich gebe es zu: Philosophie-App, da hatte ich vorab an Übungen in Gelassenheit gedacht oder irgendetwas aus der Achtsamkeits-Industrie. Aber genau das ist die "Schule der Folgenlosigkeit" ja nicht. Hier ruft alles: Komm ins Handeln! Taugt das auch als "Kritik der praktischen Vernunft"? Als Anwendung für den Alltag? Nochmal Beispiel Warteschlange, Supermarktkasse. Hier stehe ich, warte, so anonym wie alle anderen auch, bis dann von hinten wieder einer ruft: "Können Sie vielleicht mal eine zweite Kasse aufmachen?" - Was tun? Ignorieren, damit es folgenlos bleibt?
Von Borries: "Die App würde Ihnen da gar nichts raten, sondern die App versucht ja, Situationen herzustellen, in denen Sie sich entdecken, erproben, befragen. Wenn wir jetzt bei dem Bild bleiben, an der Kasse. Da wäre der Wunsch, dass Sie sich umdrehen, irgendetwas Nettes zu dieser Person sagen. Dass es doch jetzt nicht so schlimm ist, zu warten."
Könne man auch alleine darauf kommen, als vernunftbegabter Menschen. App und kommende Hamburger Ausstellung, die ebenfalls ein interaktives Handlungsfeld für Besucher*innen aufmachen wird, wollen auf etwas Grundsätzlicheres hinaus.
Porsche zertrümmern - herrlich!
App: "Ich will mich weder dem Wunschdenken noch der Verzweiflung ergeben und erhebe deshalb Folgenlosigkeit zum neuen Ideal. Wie sähe ein Leben aus, das keine Folgen hat, oder - um genauer zu sein - das keine negativen Folgen hat?"
Die Welt müsste anders sein! - aber zu wenig bewegt sich! Bei dieser Erkenntnis lande ich schließlich. Dabei kann Tätigwerden auch richtig Spaß machen: In einer Aufgabe soll ich, beziehungsweise darf ich, mit einem Vorschlaghammer einen Porsche zerdeppern. Herrlich! Und macht ja nichts, ist virtuell. Bleibt folgenlos!?