Axel Plünnecke: Bildung ist der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe, Bildungsarmut geht oft mit Einkommensarmut einher. Rund 7,5 Millionen Erwachsene gelten als funktionale Analphabeten, können also einzelne Wörter, aber nicht längere Texte lesen und verstehen. Auch Untersuchungen wie PISA und andere Schulstudien zeigen, dass die Bildungsarmut unter den Schülern hoch ist und in den letzten Jahren gestiegen. Zur Einordnung des Themas begrüße ich am Telefon Herrn Professor Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin. Herr Hurrelmann ist Soziologe und Pädagoge, er ist Professor für Bildungs- und Gesundheitswissenschaften und forscht seit über 40 Jahren zu den Themen Bildung und Sozialisation. Guten Tag, Herr Hurrelmann!
Klaus Hurrelmann: Schönen guten Tag!
Plünnecke: Wie kommt es aus Ihrer Sicht zu Bildungsarmut? Was ist deren Konsequenz?
Hurrelmann: Sie haben das eben schon angedeutet. Wir leben in einer Gesellschaft, da brauche ich ein Mindestmaß von Bildung. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten so langsam aufgebaut. Und wenn ich das nicht habe, dann bin ich ziemlich ausgeschlossen. Dieses Stichwort der "Teilhabe" haben Sie gerade schon genannt. Also dann kann ich nicht teilnehmen an dem, was heute im Beruf gefordert wird, aber auch nicht teilnehmen an dem, was in der Gesellschaft gefordert wird. Und wenn wir da mal schauen, da haben wir dann doch, sagen wir mal vier, fünf Prozent junger Menschen eines jeden Jahrgangs, die eine angeborene Benachteiligung oder Behinderung haben. Dann haben wir weitere vielleicht sieben Prozent, die schaffen den Basisschulabschluss nicht, und dann noch einmal, je nach Rechnung, sieben, acht Prozent, die schaffen auch keinen Ausbildungsabschluss, und so kommen wir dann auf diese etwas erschreckenden Zahlen von 15, 16, 17 Prozent, bei denen man sagen muss, da fehlt es an der Basisausstattung von Bildung, um an den wichtigen Dingen des Lebens und des Berufs teilnehmen zu können, und das kann man Bildungsarmut nennen.
"Leistungen der Kinder hängen stark von ihren Elternhäusern ab"
Plünnecke: Ja, Sie sagen es, rund 20 Prozent. Auch die PISA-Studien zeigen uns, dass 20 Prozent der 15-jährigen Schüler zur Risikogruppe etwa gehören. Kann man also aus Ihrer Sicht von einem Schul- oder Systemversagen sprechen?
Hurrelmann: Ja, das kann man in diesem Fall. Wir wissen, woran es im Wesentlichen liegt. Es liegt daran, dass die Kinder schon im frühen Alter sehr stark von ihren Eltern vorbereitet werden auf die Schule. Und da sind die Elternhäuser nun unterschiedlich gut aufgestellt. Wenn die Eltern selbst gut gebildet sind und weiterführende Schulen mit Erfolg besucht haben, dann können sie ihr Kind natürlich ganz anders einstellen. Das können aber so ungefähr die 20 Prozent, kann man fast sagen, der Elternschaft nicht, bei denen es dann später auch zu Problemen kommt.
Und wenn nun das Schulsystem nicht in der Lage ist, die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die Kinder zum Beispiel in die Grundschule dann als Erstes pflichtgemäß eintreten, diese unterschiedlichen Voraussetzungen auszugleichen, dann wird es schwieriger. Dann schleppt sich das fort. Und das hat die erste PISA-Studie ja sehr deutlich gezeigt, dass hier in Deutschland die Leistungen der Kinder, also in diesem Fall der 15-jährigen Kinder, dass die unheimlich stark von ihren jeweiligen Elternhäusern, von ihrer sozialen Herkunft abhängen, sehr viel stärker als in den allermeisten Ländern um uns herum. Das hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert, wir arbeiten dran, aber da sitzt irgendetwas im System. Ja, ich denke, das kann man sagen, da machen wir irgendetwas strukturell falsch, weil wir ja insgesamt nicht etwa im Vergleich zu den anderen Ländern ein höheres Maß schon von Hause aus benachteiligten Schülerinnen und Schülern haben. Das kann man ausschließen.
Und wenn nun das Schulsystem nicht in der Lage ist, die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die Kinder zum Beispiel in die Grundschule dann als Erstes pflichtgemäß eintreten, diese unterschiedlichen Voraussetzungen auszugleichen, dann wird es schwieriger. Dann schleppt sich das fort. Und das hat die erste PISA-Studie ja sehr deutlich gezeigt, dass hier in Deutschland die Leistungen der Kinder, also in diesem Fall der 15-jährigen Kinder, dass die unheimlich stark von ihren jeweiligen Elternhäusern, von ihrer sozialen Herkunft abhängen, sehr viel stärker als in den allermeisten Ländern um uns herum. Das hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert, wir arbeiten dran, aber da sitzt irgendetwas im System. Ja, ich denke, das kann man sagen, da machen wir irgendetwas strukturell falsch, weil wir ja insgesamt nicht etwa im Vergleich zu den anderen Ländern ein höheres Maß schon von Hause aus benachteiligten Schülerinnen und Schülern haben. Das kann man ausschließen.
"Frühkindliche Bildung stärken"
Plünnecke: Wo kann man da gezielt ansetzen? Geht es darum, die Lehrer anders auszubilden, müsste man die Schülergruppen anders zusammensetzen, die frühkindliche Bildung stärken?
Hurrelmann: Frühkindliche Bildung stärken, das haben wir sehr spät erkannt in Deutschland, da sind die Weichen immerhin inzwischen gestellt. Es ist inzwischen für die allermeisten Kinder Standard und deren Eltern dann auch, in eine Vorschuleinrichtung, eine Kita zu gehen. Auch die Krippen gewinnen an Boden. Das ist also schon mal sehr wichtig. Vor allem natürlich wiederum für die Kinder, wo die Elternhäuser nicht so gut aufgestellt sind. Aber wir stoßen ganz schnell an ein Grundprinzip der pädagogischen Arbeit der Schulen in Deutschland. Das ist das Prinzip der sogenannten Homogenität. Das heißt also, es wird versucht, die Schülerinnen und Schüler nicht individuell anzusprechen, sondern als Gruppe, als Kollektiv. Und damit das gut funktioniert, versuchen wir, die Kinder nach bestimmten Kriterien gleichartig in einer Gruppe zusammenzufassen, also nach Alter, da kommen sie in einen Jahrgang, nach Schulklassen, die das ausdrücken. Wenn sie da das Pensum nicht schaffen, bleiben sie sitzen und wiederholen den ganzen Jahrgang. Später Aufteilung nach Schulformen. Das sind alles solche Versuche, den Unterrichtsprozess, die Lernimpulse nicht an einen individuellen Schüler oder an eine individuelle Schülerin richten zu müssen, sondern an die ganze Gruppe. Das klingt auf den ersten Blick richtig gut, aber das hat es in sich. Das führt dazu, dass man die etwas Schlechteren und die etwas Besseren nicht richtig erreicht, und bei den Schlechteren wird das problematisch, die rutschen weg und werden von dieser Form der gruppenartigen Arbeit mit dem Ziel, homogene Gruppen zu bilden, werden sie nicht richtig erreicht. Und deswegen müssen wir hier an dieser zentralen pädagogischen Stellschraube drehen.
"Nicht der große Klassenverband"
Plünnecke: Also wäre es aus Ihrer Sicht auch sinnvoll, in kleineren Gruppen individueller auf die Schüler einzugehen. Könnte man dabei auch von der Erwachsenenbildung lernen?
Hurrelmann: Ja, das kann man. In der Erwachsenenbildung käme keiner auf die Idee, Erwachsene nach Alter in einer Weiterbildungsgruppe einzuordnen oder nach irgendeinem anderen Kriterium, sondern da schaut man sehr genau hin, was kann der Einzelne, was kann die Einzelne, was kann sie nicht. Und genau das brauchen wir für die Schulen. Auch hier muss ich ausdrücklich sagen, all diese Weichen sind gestellt, die Lehrerinnen und Lehrer haben das Problem erkannt. Wir haben eine ganze lange Liste von Fortbildungen und Anregungen.
Das Ziel ist also, möglichst jeden einzelnen Schüler anzusprechen. Die Form dafür ist eben nicht der große Klassenverband, in dem scheinbar alle gleich sind, sondern es ist viel besser, das in einer kleineren Gruppe von fünf, sechs, sieben Schülerinnen und Schülern zu machen, die unterschiedlich sind, wo die Lehrkraft dann Impulse gibt und die Schülerinnen und Schüler können auch untereinander sich gegenseitig helfen. Da experimentieren wir gerade. Das ist ein langer Weg, weil es eben nicht die Tradition der deutschen pädagogischen Arbeit in den Schulen darstellt. Und da muss man sagen, da haben die Lehrerinnen und Lehrer in den letzten Jahren sehr, sehr viele Schritte gemacht. Sie haben ihr ganzes Programm umgestellt, das kann man in den Grundschulen heute schon sehen. Wenn wir das durchhalten, werden wir sicherlich auf längere Sicht auch Erfolge haben.
Das Ziel ist also, möglichst jeden einzelnen Schüler anzusprechen. Die Form dafür ist eben nicht der große Klassenverband, in dem scheinbar alle gleich sind, sondern es ist viel besser, das in einer kleineren Gruppe von fünf, sechs, sieben Schülerinnen und Schülern zu machen, die unterschiedlich sind, wo die Lehrkraft dann Impulse gibt und die Schülerinnen und Schüler können auch untereinander sich gegenseitig helfen. Da experimentieren wir gerade. Das ist ein langer Weg, weil es eben nicht die Tradition der deutschen pädagogischen Arbeit in den Schulen darstellt. Und da muss man sagen, da haben die Lehrerinnen und Lehrer in den letzten Jahren sehr, sehr viele Schritte gemacht. Sie haben ihr ganzes Programm umgestellt, das kann man in den Grundschulen heute schon sehen. Wenn wir das durchhalten, werden wir sicherlich auf längere Sicht auch Erfolge haben.
"Wir benötigen viel mehr Personal"
Plünnecke: Die Erkenntnis, kleine Klassen zur individuellen Förderung einzusetzen, ist gut und wichtig. Wie würden Sie das denn einschätzen – ist das in der Praxis realisierbar? Stichwort Lehrerengpass.
Hurrelmann: Das ist sehr schwer. Wir haben in der Tat Personalmangel in den Schulen. Wir haben die Anforderung, viele Kinder mit einem Migrationshintergrund aufzunehmen. Die brauchen nun eine ganz spezifische Förderung. Dann kommt noch die Anforderung an die Lehrkräfte dazu, Schüler mit Behinderungen aufzunehmen, Stichwort Inklusion. Das überlagert zurzeit alles. Das sind alles Schritte in die Richtung, die Gruppen nicht mehr homogen zusammenzusetzen, sondern gemischt nach Leistung und Voraussetzungen, aber das verlangt eine ungeheuer intensive pädagogische Arbeit. Und da müssen wir realistisch sehen, dass wir viel mehr Personal benötigen, viel mehr Fortbildung benötigen, auch viel mehr Lernhilfen benötigen, wenn wir aus diesem schwierigen Winkel herauskommen wollen. Da sehe ich noch gewaltige Hürden.
Plünnecke: Der Zugang zu Bildung entscheidet über Teilhabe und Chancen. Es liegt ein Systemversagen vor, die individuelle Förderung muss stärker in den Fokus des Bildungssystems rücken. Herr Hurrelmann, herzlichen Dank für das Gespräch!
Hurrelmann: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.