Stephanie Gebert: Sind die Schulabgänger heute sensibler oder empfindlicher als früher oder verlangen die Hochschulen heute mehr von den Studierenden?
François Deuber: Wahrscheinlich beides und noch viel mehr. Ich glaube, dass sich einfach viel ändert. Wenn wir zurückschauen, vor 20 Jahren, vor 30 Jahren wurden die Schüler und Schülerinnen damals explizit auf ein Studium vorbereitet – zumindest die, die studiert haben. Sie waren auf einem Gymnasium, die hatten zu Hause hundert Bücher im Bücherregal, die Eltern konnten ihnen erzählen, was das ist. Bei uns an der Hochschule sehen wir, dass das bei vielen Studierenden nicht mehr der Fall ist. Wir haben einen großen Anteil an Erstakademikern, wo die Eltern keinen Hintergrund hatten, viele waren nicht auf einem Gymnasium, sondern auf einem Berufskolleg, wo sicherlich der Abschluss gleich ist von der Wertigkeit, aber die Aufgabe eines Berufskollegs ist nicht unbedingt, direkt auf ein Studium vorzubereiten. Also die Schüler sind anders, ist sicherlich richtig. Erwarten wir mehr oder anderes, ich glaube nicht.
Gebert: Sie haben gerade gesagt, die kommen von dem Berufskolleg, viele der Studienanfänger. Diese Durchlässigkeit des Systems war aber doch auch politisch unbedingt gewollt, wir wollten Leute, die bisher kein Studium gemacht haben, unbedingt an die Hochschulen bringen, das heißt, die Hochschulen haben sich darauf bislang nicht eingestellt.
Deuber: Doch, wir haben uns schon drauf eingestellt. Und jetzt seien wir mal ehrlich: Die Zahl der Studienabbrecher ist leicht gestiegen. Ich glaube, dass wir Universitäten und Hochschulen uns da schon sehr gut drauf eingestellt haben, das wäre sonst noch viel mehr durch die Decke gegangen. Und ich glaube, wir sollten auch noch mal kurz einen Schritt zurückgehen und uns fragen, ist Studienabbruch wirklich was Schlimmes. Wenn wir Studienabbruch nicht Studienabbruch nennen, sondern Neuorientierung, hat das plötzlich einen anderen Klang. Und ich glaube, was nicht schön wäre, wäre, wenn es einen unkontrollierten Studienabbruch gibt. Aber ich meine, die Wahl eines Studiums, die Wahl einer Berufsausbildung ist solch eine signifikante Entscheidung im Leben, da kann es auch zu Fehlentscheidungen kommen, die revidiert werden müssen, oder man lernt dazu und merkt, hei, es ist doch nicht das. Ich würde einen Studienabbruch für sich betrachtet gar nicht so verteufeln.
"Viele wissen nicht, was jetzt passiert"
Gebert: Okay, Sie sagen also, das ist nicht schlimm, trotzdem beschäftigen Sie sich ja jetzt auf der Konferenz mit dem Thema, und interessanterweise auch mit Teilnehmern aus aller Welt, obwohl ja die Bildungssysteme in, sagen wir, Großbritannien oder in Spanien meinetwegen andere sind und auch das Geld, das zum Beispiel in Hochschulen gesteckt wird. Wo können Sie denn trotzdem Parallelen sehen?
Deuber: Von den Zahlen her ähneln uns bei den Abbruchquoten, wenn man mal Großbritannien ausklammert. Andere Länder, egal ob das in der EU ist oder der USA, haben auch etwa Abbruchquoten zwischen 30 und 40 Prozent, also das ist nichts Außergewöhnliches. Die grundsätzliche Herausforderung, dass der Schritt von der Schule, von einer regulären Schulbildung hin zur Hochschule, zu einer akademischen Bildung ein großer ist, das ist überall auf der Welt so. Die Situation ist vergleichbar.
Gebert: Besonders wichtig zu zeigen dieser Untersuchung ist die Studieneingangsphase, mit der Sie sich sicherlich auch beschäftigen, und ich hab gelesen, dass Sie von einer zuwendenden Betreuung reden, die da notwendig ist. Was heißt das ganz konkret?
Deuber: Für viele ist das ein Erfolg, dass sie zu uns kommen. Sie haben etwas erreicht, sie haben die Schule absolviert und kommen zu uns und wissen erst mal nicht, was jetzt passiert. Jetzt kommt die nächste Anforderung, und viele Studierende sind dafür noch nicht bereit, und mit zuwendender Betreuung meinen wir, dass wir ihnen die Werkzeuge geben wollen, um mit dieser neuen Situation klarzukommen. Die Werkzeuge nachher benutzen und mit der Situation klarkommen, müssen sie selber, aber wir wollen ihnen offen entgegentreten und, ich sag mal, eine Partnerschaft in der Ausbildung eingehen, die mit einem Geben und einem Nehmen von beiden Seiten in beide Richtungen verbunden ist.
Gebert: Ist das Lehrpersonal da in Deutschland ausreichend für geschult?
Deuber: Jein, noch nicht in dem Maße, wie es sein könnte und sein müsste, und es geht auch nicht nur um Schulungen, es geht auch um Einstellungen. Ich glaube, wir sind gut aufgestellt, und das Thema, insbesondere durch die Aktivitäten, die die Bundesregierung auch in den letzten Jahren durch den Qualitätspakt Lehre gemacht hat, sind wir auf dem richtigen Weg.
"Lehre steht heute besser da"
Gebert: Jetzt haben wir aber gerade mit der Exzellenzinitiative wieder erlebt, dass Hochschulen in Deutschland Geld bekommen, die sich im Bereich der Forschung gut aufstellen, die Lehre hat da eine untergeordnete Rolle gespielt. Werden da verkehrte Anreize oder falsche Prioritäten gesetzt?
Deuber: Ich glaube, das sind zwei Geschichten, die zum großen Teil unabhängig voneinander sind. Ja, es gibt die Exzellenzinitiative, und dort geht es sehr stark um die Forschungsförderung, und da steht natürlich dann auch die Forschung im Mittelpunkt. Aber mit dem Hochschulpakt und Diskussionen in die Richtung geht es auch klar um eine Stärkung der Lehre. Das sind zwei unterschiedliche Blöcke eines Gesamtkonzeptes der Bundesregierung, und ich glaube, dass die Lehre mittlerweile deutlich besser dasteht, als das vor 10, 15 Jahren war, und es ist auch nicht absehbar, dass das weniger wird.
Gebert: Jetzt wollen Sie sich sicherlich auf so einer internationalen Konferenz auch Anregungen holen, Ideen abholen, was man dennoch verbessern könnte zum Thema Studienabbruch. Was können Sie sich abschauen?
Deuber: Wir können zum Beispiel nach Westen schauen, nach Holland, in die Niederlande, wo gerade im Anfangsbereich des Studiums zahlreiche Aktivitäten gemacht werden, die nicht nur das Fachliche in den Mittelpunkt setzen, sondern auch das Formen einer akademischen Gesellschaft, wo der Studierende an der Universität ankommt und Teil einer – vielleicht ist Familie das falsche Wort –, aber Teil einer Partnerschaft, einer Gruppe, einer Gesellschaft wird. Und ich glaube, da können wir noch einiges lernen, dass wir in der Studieneingangsphase nicht nur, ich sag mal, funktionale Maßnahmen machen, sondern auch Emotion, Motivation und Kommunikation mit in den Vordergrund stellen.
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