Das Bildungssystem in Deutschland hält nicht, was es verspricht – meint Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani. Es ist ungerecht, es hat in den vergangenen Jahren trotz großer Anstrengungen die Chancen für Kinder und Jugendliche nicht angeglichen. Im Gegenteil. Die Chancenungleichheit sei sogar größer geworden. Ein Bildungsparadox, das der einstige Beauftragte des NRW-Integrationsministeriums und derzeitige Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück nun in einem Buch aufdeckt. "Mythos Bildung, die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft" ist der Titel und darin versucht er neben der Analyse auch eine Vision zu entwerfen.
Thekla Jahn: Ihr Buch, Herr El-Mafaalani startet mit diesem Satz: "Unsere Gesellschaft ist ungerecht, ungerechter als andere." Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen? Schneiden wir so schlecht ab, wenn wir Vergleiche anstellen zu anderen Ländern auf dem Erdball?
Aladin El-Mafaalani: Ich glaube, das kann man schon sagen. Natürlich vergleiche ich Deutschland nicht mit allen Ländern auf der Welt, sondern mit den Staaten, mit denen wir uns üblicherweise auch vergleichen, also andere OECD-Staaten, andere Industrienationen. Dann, glaube ich, kommt man, wenn man sich die Daten anschaut, schon zu dem Ergebnis. Also es ist sehr begründbar.
Höhere Bildungschancen als früher
Jahn: Nicht alles ist schlecht, aber trotz der vielen verschiedenen Reformen und Veränderungen in den vergangenen zehn, 15, 20 Jahren, ja vielleicht sogar viel länger schon, hat sich in Deutschland an einem Faktum kaum etwas geändert, dass soziale Herkunft und Bildungserfolg eng beieinanderliegen. Haben all die vielen Bemühungen der letzten Jahre, Jahrzehnte nichts genützt?
El-Mafaalani: Jetzt kommt es drauf an, was man damit erreichen wollte. Also erreicht haben wir eindeutig, dass das Bildungsniveau in der Gesellschaft insgesamt enorm gestiegen ist und dass die Bildungschance für alle höher liegen als in der Vergangenheit. Nur so kann man erklären, dass wir mittlerweile mehr Kinder auf dem Gymnasium haben und mehr junge Erwachsene an Hochschulen als in allen anderen Bereichen des Bildungssystems und gleichzeitig die Daten zeigen, dass die Ungleichheit immer noch auf sehr hohem Niveau ist.
"Wir machen gar nicht so viel für Benachteiligte"
Jahn: Jetzt gibt es aber, werden viele einwerfen – ich werfe es einfach auch einmal ein –, es gibt viele Förderprogramme für benachteiligte, sozial benachteiligte Kinder, Sprachunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund, Förderprogramme am Nachmittag. War das alles in die falsche Richtung? Es ist doch genau dafür gedacht gewesen, die Ungleichheit auszugleichen.
El-Mafaalani: Also, wir haben Förderprogramme und setzen heute Maßnahmen um, die aber nicht wirklich zielgerichtet sind. Also, wenn Sie sich anschauen, dass wir frühkindliche Bildung ausgeweitet haben, Ganztagsschulen ausgeweitet haben, das sind ja die wesentlichen Maßnahmen, und von denen profitieren ja alle gleichermaßen, was dazu führt, dass alle gleichermaßen in ihrer Entwicklung unterstützt werden, und wenn alle gleichermaßen gefördert werden, gleicht man die ungleichen Startchancen nicht aus. Das ist eigentlich der wesentliche Punkt. Wir machen gar nicht so viele Maßnahmen, die spezifisch für Benachteiligte sind.
"Kindern Zugang zum Repertoire der Gesellschaft ermöglichen"
Jahn: Dazu passt ein weiterer Satz aus Ihrem Buch, der da lautet: "Weil ungleiche Startchancen im Bildungssystem nicht systematisch ausgeglichen werden, müsste Ungleiches gezielt ungleich behandelt werden." Wie darf man denn das verstehen?
El-Mafaalani: Ja, wenn wir alle gleichermaßen behandeln, die gleichen Regeln walten lassen und auch in gleicher Weise unterstützen, dann ist das erst mal eine gute Sache, und das macht das Bildungssystem. In keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft werden Menschen so gleichbehandelt wie dort. Das ist erst mal gut, aber wenn es ungleiche Startchancen gibt und man dann alle gleich behandelt, gleicht man die ungleichen Startchancen nicht aus. Deswegen müsste man Ungleiches ungleich behandeln, um Chancengleichheit zumindest tendenziell herzustellen. Das ist sozusagen der Gedanke, aber grundsätzlich ist es erst mal ein ganz wichtiger Fortschritt, Gleichbehandlung herzustellen. Das ist aber immer nur die erste Stufe. Die nächste Stufe muss sein, Ungleiches ungleich behandeln, um zumindest die Möglichkeit zu bieten, ungleiche Startvoraussetzungen auszugleichen.
Jahn: Wie soll ich mir das vorstellen? Wie wollen Sie Ungleiches ungleich behandeln? Das heißt, die einen Kinder bekommen viel Förderung, die anderen Kinder bekommen dann hinterher keine Förderung mehr? Dann könnte man ja im ersten Moment sagen, dann geht die Förderung benachteiligter Kinder zulasten anderer Kinder, die nicht mehr gefördert werden?
El-Mafaalani: Genau das nicht. Genau das nicht, weil ich weder eine Revolution im Bildungssystem möchte noch Klassenkampf im Klassenzimmer. Vielmehr geht es mir darum – und das beschreibe ich, glaube ich, ziemlich präzise und umfassend –, dass man versteht, was eigentlich die Ungleichheit erzeugt, denn die Schulen erzeugen keine Ungleichheit, sie reproduzieren nur die Ungleichheit, die in unserer Gesellschaft vorliegt.
Wenn wir jetzt also schauen, was macht die ungleichen Startchancen der Kinder aus, sind das erst mal ganz überwiegend Dinge, die mit der Familie zu tun haben, in der ein Kind aufwächst, und dem gesamten sozialen Umfeld. Das kann man dann ausdifferenzieren, dann stellt man fest, das hat auf ganz viele Dinge, die wichtig sind für Bildungsprozesse und Entwicklung, einen starken Einfluss, und das müsste man in der Schule ausgleichen im Hinblick auf eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts. Das schafft man, glaube ich, nur ganz, ganz bedingt in so einem 45-Minuten getakteten Unterricht, in dem die Lehrkräfte das tun, was sie gut können: Unterricht systematisch nach Lehrplan. Aber das, was ich meine, hat mehr mit Dingen zu tun, die von Ernährung, über Gesundheit, über Kunst und Kultur, Musik und vieles mehr begriffen werden kann, nämlich eigentlich den Kindern alles zu ermöglichen, alle Erfahrungen zu ermöglichen, die in unserer Gesellschaft im Repertoire sind.
Erfahrung statt Betreuung und Bewertung
Jahn: Das würde ja heißen, dass immer mehr in den Lehrplan hineinkommt. Es gibt viele Forderungen, vieles wurde ja auch schon umgesetzt. Also Fächer wie Wirtschaft, wie Informatik, wie Musikinstrument spielen, wie Ernährung, wie Glück, wie Gesundheit, all das käme dann noch oben drauf?
El-Mafaalani: Das ist es eben: Alle denken, Schule immer nur über Lehrer und Unterricht, und das ist ein Grundfehler. Ich würde das alles befürworten, über Wirtschaft, über auch juristische Fragen, auch über seelische Hygiene, das muss alles in die Schule, aber nicht in den Unterricht und nicht von Lehrkräften, sondern in ganz anderen Settings. Also wenn Sie sozusagen die Quintessenz mal auf einen Punkt gebracht hören wollen, wie ich meine Grundthese ausrichte, ist es erst mal, sich zu verabschieden davon, dass unsere Schulen ein Ort sind, an dem Lehrer Unterricht machen, sondern das sollte sozusagen die eine Säule sein, und die andere Säule, die muss zu tun haben mit einem multiprofessionellen Team, in dem Dinge ermöglicht werden und nicht dann durch die Ministerien über Lehrpläne in ein verschultes Modell, wo es dann auch um Bewertung, Benotung, Prüfung und so weiter geht. Also die Fächer, die wir haben, sind in Ordnung. Den Lehrplan würde ich sogar eher entrümpeln, als da noch viel Neues reinzupacken, aber in der Schule muss viel mehr stattfinden. Man muss sich nur wirklich davon verabschieden, Schule nur zu begreifen als Ort, an dem Lehrer arbeiten und Kinder belehrt werden, sondern es muss ein Erfahrungsraum werden.
"Schule sollte auf eine ungewisse Zukunft vorbereiten"
Jahn: Herr El-Mafaalani, Sie haben Ihr Buch "Mythos Bildung" genannt. Kommen wir zu der Frage, was ist Bildung für Sie? Derjenige, der Hegel liest, die Rembrandt-Ausstellung besucht oder derjenige, der Handwerksmeister ist, seine Handwerkskunst beherrscht und seinen Betrieb erfolgreich führt?
El-Mafaalani: Genau, zum Beispiel Handwerker. Handwerker, das wird wahrscheinlich ein Berufszweig sein, der als allerletztes irgendwie robotisiert wird. Das ist erst mal ein ganz spannender Hinweis, dass wir Handarbeit und Kopfarbeit, dass diese krasse Trennung, auch, was den Status und die Position in unserer Gesellschaft angeht, noch mal überdenken sollten, aber das, worum es eigentlich gehen sollte, ist, dass die Schule auf eine ungewisse Zukunft vorbereitet. Ungewisse Zukunft bedeutet, dass man alles erfahrbar, erlebbar und erlernbar machen muss, was wichtig ist. Und zwar auf eine Art und Weise, dass es nicht nur im Unterricht gemacht wird und geprüft wird, sondern dass die Menschen wirklich den Kompetenz- und Flexibilitätsanforderungen der Zukunft, von der wir gar nicht wissen – nicht einmal ansatzweise –, wie das dann aussehen wird, dass wir dem gerecht werden, und gleichzeitig die ungleichen Startchancen und die soziale Ungleichheit insgesamt in einer Art und Weise abschwächen, dass auch nicht privilegierte Kinder davon profitieren. Denn das, was wir wissen, ist, dass es anders ist als früher. Früher war Ungleichheit da, aber selbst für die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gab es einen sicheren, respektablen Platz. Die Zeiten sind schon lange vorbei, und es deutet nichts darauf hin, dass das in Zukunft anders sein wird.
Multiprofessionelle Teams an Schulen
Jahn: Wie könnte das gedacht werden? Denn das, was Sie da fordern, ist ja nicht mehr und nicht weniger als ein Umkrempeln unseres Bildungssystems. Wie könnte die Schule zu einem Ort, den Sie sich wünschen, werden, an dem Kinder aus allen Schichten, aus unterschiedlichen Hintergründen, migrantische Kinder, Kinder aus sozial benachteiligten Familien, privilegierte Kinder, so zusammenleben und lernen, dass sie alle hinterher besonders gut vorbereitet sind auf eine ungewisse Zukunft?
El-Mafaalani: Eigentlich müsste man relativ wenig verändern, aber man muss erweitern, und zwar mit einem multiprofessionellen Team, was aus Menschen mit psychologischer Expertise, überhaupt den ganzen Bereich Gesundheit, Kunst und Kultur, Handwerk und vieles mehr einen Riesenraum in der Schule geben, und wir erweitern ja in einem enormen Tempo den Ganztag. Der ist im Augenblick eher so ein Betreuungsraum, und der muss zu einem umfassenden Erfahrungsraum werden, in dem professionell gearbeitet wird, in dem im Übrigen auch systematische Förderung stattfindet, nicht nur Förderung von Defiziten, sondern auch Förderung von Begabung und sogar Förderung von Exzellenz, also von herausragenden Begabungen, und das systematisch. Systematisch mit Blick auf benachteiligte Kinder, Kinder in Armut, denn das, was wir so langsam entwickelt haben, ist so ein defizitärer Blick auf die Gruppe. Das muss man dann auch erweitern. Das heißt, die Schulformen können von mir aus alle so bleiben, wie sie sind, und das, was wir gerade quantitativ ausgebaut haben, den Ganztag, qualitativ vertiefen und verbreitern. Das kostet Geld – das ist mir total klar.
Sukzessive Erhöhung des Budgets
Jahn: Das ist genau die Frage. Was Sie sich da vorstellen, hört sich gut an, multiprofessionelle Teams, zusätzlich zum Schulunterricht eine Nachmittagsbetreuung und Förderung der Schüler und Schülerinnen, aber das kostet natürlich auf der einen Seite wahnsinnig viel Geld, auf der anderen Seite braucht es Personal, und auch daran mangelt es. Wie kann man das lösen?
El-Mafaalani: Ich glaube nicht, dass es an Personal mangeln würde, denn das Schöne an der Bildungsexpansion ist ja, dass wir in den nächsten zehn Jahren zu erwarten haben, dass in etwa die Hälfte der Eingänge in den Arbeitsmarkt von Akademikern stattfinden wird. Indem man multiprofessionelle Teams, dafür Budgets bereithält, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Mangel haben, viel geringer, als wenn wir die Schule nur als Ort für Lehrer begreifen. Dann haben wir Lehrermangel, und es mangelt dann an allen Ecken und Enden – das ist ja unser Hauptproblem gerade – wohingegen bei multiprofessionellen Teams kann es mal an einer Profession mangeln, aber dass es an allen Professionen mangelt, das ist außergewöhnlich unwahrscheinlich. Also wenn es ein Problem gibt, dann ist es eher das Problem, dass wir bereit sein müssen, über einen langen Zeitraum – also ich würde vermuten, dass man einen Plan machen müsste über einen langen Zeitraum – von zehn Jahren, sukzessive, das Budget dafür zu erhöhen, und zwar wesentlich. Also es wird wahrscheinlich nicht bei zehn Prozent Erhöhung bleiben können, sondern wesentlich mehr, und zwar planvoll, langfristiges Geld, was wahrscheinlich am Ende der Bund bereitstellen muss.
Kooperation von Bund und Ländern
Jahn: Ein wichtiger Punkt, der auch eine Umsetzung Ihres Gedankens, Ihrer Ideen zum Bildungssystem so ein bisschen schwierig macht, sind die vielen Akteure, die in unserem Bildungssystem eine Rolle spielen. Da gibt es auf der Mikroebene die Schule selbst, dann die Stadt, das Land, der Bund, die alle beteiligt sind. Wie könnten da die Akteure zusammenarbeiten? Haben Sie da auch eine Idee?
El-Mafaalani: Das ist eine sehr spannende Frage. Also wenn ich wüsste, wie der Kompromiss wäre, wenn wir zum Beispiel sagen würden, wenn Sie fragen würden, soll das Schulsystem vereinheitlicht werden, soll es Bundesangelegenheit werden, wenn ich wüsste, wie der Kompromiss aussehen würde, könnte ich die Frage beantworten. Ich befürchte, der Kompromiss zwischen Bund, Ländern und Kommunen wäre ein so desaströser, dass wir nachher uns alle wünschten, es wäre wieder Ländersache. Deswegen, die Kooperation, die wird mit krassen Verhandlungen zusammenhängen, und das, was am realistischsten ist, ist, das zusätzliche Budget, was benötigt werden würde, um den Ganztag auch wirklich qualitativ wertvoll zu machen, das müsste wahrscheinlich vom Bund kommen, und wie das so ist, Bund und Länder müssten dann in einen Austausch geraten. Das Spannende finde ich die Finanzen, das sollte der Bund machen, und am Ende sollten die professionellen Teams vor Ort auch in Kooperation mit der Kommune das umsetzen, je nachdem wie die Bedürfnisse vor Ort sind, und alles, was mit Lehrplan und Lehrern zu tun hat, kann weiterhin Ländersache sein. Also so wäre eine relativ kluge, strategisch ausgerichtete Form der Kooperation.
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