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Bildungsforscher
"Soziale Selektion auch in der Nachhilfe"

Der Nachhilfe-Markt boomt. Treibende Kraft seien die Eltern, die höhere Abschlüsse für ihre Kinder wünschten, sagte der Bildungsforscher Rolf Dobischat von der Uni Duisberg-Essen im DLF. Es gehe nicht mehr nur um Kompensation schlechter Leistungen - Nachhilfe habe mittlerweile eine begleitende Funktion, um Bildungskarrieren aufzubauen.

Rolf Dobischat im Gespräch mit Kate Maleike |
    Ein Mann gibt einem Jungen Nachhilfe.
    Die Kooperation zwischen Schule und Nachhilfeinstitution sei nur sehr lose. Darum forderte der Bildungsforscher Rolf Dobischaft im DLF, kommerzielle Nachhilfe zu kontrollieren und ein Stück an die Schulen zurückzuholen. (dpa / pa / Christians)
    Kate Maleike: Dass der Nachhilfemarkt in Deutschland seit einigen Jahren ein echter Markt ist, das ist keine Neuigkeit. Eltern geben jährlich rund 900 Millionen Euro dafür aus, hatte eine Analyse der Bertelsmann Stiftung erst im letzten Jahr ergeben. Einen neuen Überblick zur Nachhilfesituation liefert jetzt eine Studie, die der Bildungsforscher Professor Rolf Dobischat von der Uni Duisberg-Essen im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt hat. 400 Nachhilfeinstitute wurden dazu befragt. Guten Tag, Herr Dobischat!
    "Ein Markt, der nach wie vor boomt"
    Rolf Dobischat: Schönen guten Tag, Frau Maleike!
    Maleike: Was zeigen denn Ihre aktuellen Zahlen? Ist Nachhilfe in Deutschland immer noch im Trend?
    Dobischat: Nachhilfe ist im Trend. Also wenn man sich die Entwicklung anschaut, dann ist es ein Markt, der nach wie vor boomt, und warum er boomt, da gibt es natürlich Gründe für. Das hängt damit zusammen, dass einerseits die Bildungsaspiration vieler Eltern gestiegen ist, also der Wunsch für die Kinder, höhere Abschlüsse zu erreichen; das hängt aber auch mit der Situation zusammen, dass viele Eltern unzufrieden sind mit den Leistungen der Schule; dann kommt der Schulstress, der Leistungsstress durch natürlich auch G8 mit ein Stück bedingt. Was wir so eigentlich festgestellt haben an unseren Auswertungen von den vorliegenden Untersuchungen beziehungsweise mit unseren eigenen Befragungen, ist eigentlich, dass Nachhilfe mittlerweile eine flankierende Funktion hat von jungen Biografien. Das heißt, der Nachhilfemarkt ist nicht nur noch allein mit der Funktion ausgestattet, Kompensation bei schlechten Leistungen oder so was zu leisten, das macht er auch, aber er hat eine begleitende Funktion, um Bildungskarrieren letztendlich zu konstituieren.
    Maleike: Das heißt aber, dass die Jugendlichen, die aus den wohlhabenden Familien, in die Nachhilfe gehen, dass deshalb manchmal die Eltern das wollen, oder machen sie es, weil sie selber ihre Noten aufbessern wollen?
    Dobischat: Also die Daten sagen eindeutig, dass die Eltern die treibenden Kräfte sind, um ihren Kindern natürlich bessere Möglichkeiten zu eröffnen.
    Nachhilfe-Hochzeiten bei den Übergängen im Bildungssystem
    Maleike: Wer nutzt denn genau die Nachhilfe, und an welchem Punkt ist das? Wann sind die Hochzeiten sozusagen?
    Dobischat: Ja, die Hochzeiten sind immer sozusagen an den Übergängen in unserem Bildungssystem. Das heißt bei den Übergängen der weiterführenden Schulen schon nach der vierten Klasse, aber insbesondere dann auch im Hinblick auf die Frage Abitur und Note und die Frage, mit welchem Notenschnitt man welche Studienfächer erreichen kann. Also da sehen wir deutliche Höhepunkte. Also beim frühzeitigen Übergang weiterführende Schule und in der Oberstufe. Also der größte Anteil, der höchste Anteil mit über 30 Prozent liegt im Bereich der 9- bis 15-Jährigen.
    "Soziale Selektion auch in der Nachhilfe"
    Maleike: Kann man denn sagen, dass bei Ihren Analysen sich auch wieder zeigt, dass die Schere da sehr weit auseinandergeht? Sie haben ja die wohlhabenden Eltern stark betont. Wie sieht es denn aus mit den Kindern, die eben keine wohlhabenden Eltern haben, aber eben Nachhilfe brauchen würden?
    Dobischat: Da zeigt sich eigentlich das, was wir aus vielen Bildungsuntersuchungen ja kennen. Da geht die Schere wirklich auseinander. Diejenigen, die also sozusagen mit wenig finanziellen Ressourcen haushaltsmäßig ausgestattet sind, sind auch diejenigen, die am wenigsten an Nachhilfe teilnehmen, bei bezahlter Nachhilfe. Das sind nur 13 Prozent, während, je höher das Einkommen, desto höher auch die Beteiligung der Kinder an bezahlter Nachhilfe. Das ist ein eindeutiger Trend und der belegt eigentlich eben die soziale Selektion auch in der Nachhilfe.
    "Nachhilfe ist dem Wirtschaftsrecht zugeordnet, nicht dem Bildungsrecht"
    Maleike: Ein Betrieb dagegen könnte ja die Ganztagsschule im Grunde sein, in der man ja immer auch die Förderung Schwächerer mit einbetten wollte. Heißt das eigentlich, dass die Schulpolitik jetzt dringend darauf auch reagieren muss oder würden Sie sagen, das wird einfach so stillschweigend akzeptiert, dass sich der Nachhilfemarkt quasi parallel mitentwickelt?
    Dobischat: Also ich vermute, dass sozusagen die Politik sich um dieses Feld ganz wenig kümmert, weil ja auch von der rechtlichen Situation die Nachhilfe dem Wirtschaftsrecht zugeordnet ist und nicht dem Bildungsrecht. Das ist ein ganz anderer Rechtskreis, und die Frage, inwieweit man sozusagen die Nachhilfe, die expandierende Nachhilfe ein Stück zurück in die Schule holen kann, denn die Schulen sind ja letztendlich auch Mitverursacher, warum es Nachhilfe gibt, könnte die Ganztagsschule ein Ansatz sein, aber wenn man mal guckt, wie die Versorgung mit Ganztagsschulen in der Bundesrepublik ist, da gibt es ja auch große Lücken zwischen den einzelnen Bundesländern. Das heißt, die Ganztagsschule kann nur in ganz geringem Maße kompensieren, und dann hängt es natürlich auch immer davon ab, wie die Ganztagsschule organisiert ist, ob wirklich nur Hausaufgabenbetreuung angeboten wird oder explizit Nachhilfe.
    "Ein Stück der Nachhilfe in die Schulen zurückzuholen"
    Maleike: Was fordern Sie denn jetzt als Bildungsforscher als Konsequenz?
    Dobischat: Ja, also die erste Forderung liegt klar auf der Hand: weiterer Ausbau der Ganztagsschulen, Verbesserung des Förderunterrichts in den Ganztagsschulen, um ein Stück der Nachhilfe, der kommerziellen Nachhilfe, in die Schulen zurückzuholen, letztendlich dann aber auch Kontrolle der Nachhilfeeinrichtungen durch schulische Instanzen oder durch öffentliche Instanzen im Hinblick auf Qualität, im Hinblick auf Ausstattung, im Hinblick auf Kompetenz der Lehrer, der Nachhilfelehrer. Das sind so die Forderungen, die im Grunde genommen sehr augenscheinlich sind aus den Daten, die wir da aus den Untersuchungen rausgeholt haben.
    Maleike: Da muss ich aber noch mal kurz nachfragen: Warum wollen Sie den Nachhilfemarkt sozusagen kontrolliert haben?
    Dobischat: Wir haben zum Beispiel in unserer Untersuchung gefunden, dass zum Beispiel die Scientology-Kirche Nachhilfeinstitutionen betreibt. Es gibt ältere Erkenntnisse, dass zum Beispiel die NPD in den neuen Bundesländern organisierte Nachhilfe gibt, um so einen Rekrutierungskanal zu öffnen, die auch nicht offen sind – für Forschung schon mal gar nicht.
    Mehr Kontrolle kommerzieller Nachhilfe
    Maleike: Also da wollen Sie so eine Art Nachhilfe-TÜV?
    Dobischat: Ja, so ungefähr, ja. Ich meine, es geht um sozusagen auch dieses System, was unser Bildungssystem flankiert, und sozusagen der unmittelbare Bezug ist der Nachhilfe, der kommerziellen, zum Schulsystem, und da die Kooperation zwischen Schule und Nachhilfeinstitution nur sehr lose ist. Das haben wir auch festgestellt. Bin ich schon der Meinung, wenn man im Grunde genommen wirklich Förderpolitik betreiben will, insbesondere unter dem Aspekt Abbau sozialer Ungleichheit, dann gehört die kommerzielle Nachhilfe, sagen wir mal, nicht vom Markt weggenommen oder so was, aber sie gehört kontrolliert und ein Stück sicherlich auch wieder in die öffentliche Verantwortung der Schulen.
    Maleike: Vielen Dank! Professor Rolf Dobischat war das von der Universität Duisburg-Essen, und wir haben über seine neue Studie zum Nachhilfemarkt in Deutschland gesprochen, und die zeigt, dass unter anderem der Ehrgeiz wohlhabender Eltern die Kinder zur Nachhilfe treibt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.