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Bildungsforschung
Nachholbedarf bei individueller Förderung

Lehrer sollten Schüler individuell fordern. Damit sind sie jedoch oft selbst überfordert. Deshalb müsse man auch in zusätzliche Ressourcen investieren, etwa in eine partielle Doppelbesetzung der Lehrer, fordert der Schulforscher Christian Fischer im Deutschlandfunk.

Christian Fischer, Professor an der Universität Münster, im Gespräch mit Sandra Pfister |
    Ein Schüler einer dritten Klasse der Evangelischen Grundschule in Frankfurt (Oder) meldet sich beim Deutschunterricht, aufgenommen am 14.01.2009.
    Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, die auch ermöglichen, stärker auf die besonderen speziellen Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler einzugehen. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul)
    Sandra Pfister: Der Lehrer macht ein Angebot, präsentiert den gleichen Lernstoff für alle, wer nicht mitkommt, hat Pech gehabt. Und wer sich langweilt, weil ihm das zu einfach ist, der auch. Das ist die deutsche Lehrtradition, in der Praxis wurde sie natürlich immer schon von vielen engagierten Lehrern durchbrochen. Aber jetzt, seit ein paar Jahren, ist die sogenannte individuelle Förderung das, was wirklich zählt. Also: Jeden Schüler auf seinem Leistungsniveau abholen! Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich das nun nicht mehr ganz so neue Mantra der Bildungsforschung mal genauer angeschaut, weil sie herausfinden wollte: Wie klappt das denn in der Praxis, ist der Anspruch zu halten oder steckt hinter der neuen Fassade doch häufig der alte, etwas aufgehübschte Frontalunterricht? Das fragen wir den Erziehungswissenschaftler Christian Fischer, Professor an der Universität Münster. Guten Tag, Herr Fischer!
    Christian Fischer: Schönen guten Tag!
    Pfister: Herr Fischer, offiziell haben die meisten Bundesländer die individuelle Förderung ja ins Schulgesetz hineingeschrieben. Aber das verpflichtet die Lehrer doch erst mal zu gar nichts. Hat das was gebracht?
    Fischer: Ja, das hat sicherlich schon viel gebracht, das jetzt auch in die Schulgesetze reinzuschreiben, zumal die Sensibilität diesem Thema gegenüber deutlich zugenommen hat. Und man kann natürlich auch, wenn man sich die Resultate der internationalen Vergleichsstudien ansieht, durchaus Fortschritte gerade bezogen auf spezielle Zielgruppen feststellen. Und in den letzten zehn Jahren, gerade für die Gruppe von Kindern aus sozial benachteiligten Lagen oder Zuwanderungsgeschichte, hat das durchaus deutliche Verbesserung auch in den Resultaten in den internationalen Vergleichsstudien gegeben. Gleichwohl reicht das natürlich nicht aus insbesondere für die Gruppe mit hohen Lernpotenzialen und besonderen Leistungsstärken gibt es noch deutlichen Nachholbedarf.
    Pfister: Also, die deutschen Schulen sind besser darin geworden, benachteiligte Schüler zu fördern, aber bei den Begabten hapert es noch. Fehlt da der politische Wille oder können oder wollen die Lehrer das nicht?
    Fischer: Zunächst war es mal so, dass natürlich nach den internationalen Vergleichsstudien eine besondere Fokussierung auf die Kinder mit besonderem Förderbedarf gelegt wurde, da hat es ja auch deutliche Fortschritte gegeben. Was eben wichtig ist, gleichermaßen auch die Kinder mit besonderem Forderbedarf in den Blick zu nehmen, und da ist es natürlich nach wie vor noch so, dass wenige davon ausgehen, dass Kinder, die zum Beispiel über besondere Lernpotenziale verfügen, dass man bei denen sagt, na ja, die sind ja von Natur aus ohnehin bevorzugt, und da noch mal zusätzliche Unterstützung zu realisieren ist nun wirklich nicht erforderlich, das sollte man doch eher den Kindern mit Lernbeeinträchtigung zukommen lassen.
    Pfister: Also, da ist wahrscheinlich schon ein Umdenken bei den Lehrern gefragt. Andererseits, wenn ich mich in die Position eines Lehrers oder einer Lehrerin versetze, wenn ich dann eine Klasse mit 30 Schülern vor mir habe und da soll ich 30 unterschiedliche Begabungen erkennen und allen gerecht werden, selbst wenn man sich da redlich bemüht, ist das nicht bei diesen knappen Ressourcen auch zum Scheitern verurteilt?
    Fischer: Das sind natürlich schwierige Rahmenbedingungen. Gleichwohl gibt es natürlich bestimmte Dinge, die durchaus auch optimierend eingesetzt werden können. Wenn ich beispielsweise sehr viel stärker etwa Formen des selbstregulierten Lernens einsetze, wo ich unterschiedliche Aufgabenformate einsetze, dann sind das schon entsprechende Hilfen. Es ist natürlich klar, dass natürlich als einzelne Kollegin und als einzelner Kollege mit 30 Schülerinnen und Schülern das Arbeiten sehr schwierig ist. Da gibt es zum Teil auch durchaus Modelle, wo man zusätzliche Unterstützungsstrukturen durch eine partielle Doppelbesetzung etwa im Klassenraum realisiert, das kommt dem schon näher.
    Pfister: Aber es hört sich nach dem, was Sie sagen - Doppelbesetzungen wären günstig, mehr Teamarbeit - schon danach an, als hätte individuelle Förderung auch was mit Geld zu tun, mit Ressourcen.
    Fischer: Richtig. Also, Ressourcen sind natürlich wichtig, natürlich zum einen, dass es darum geht, durchaus zum Teil auch in etwas kleineren Klassen mit Doppelbesetzung Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch ermöglichen, stärker auf die besonderen speziellen Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler einzugehen.
    Pfister: Wenn wir voraussetzen, dass viele Lehrer sich redlich bemühen, individuelle Förderung umzusetzen, dann kommen sie aber doch aus einer Generation, die überhaupt kein Rüstzeug dafür in die Hand bekommen hat, wie sie einzeln auf die Kinder eingehen können. Ändert sich das denn jetzt in der Lehrerausbildung?
    Fischer: Das ändert sich zum Teil, also, es ist so, dass die Lehrerausbildungsgesetze sehr viel stärker jetzt auch den Bereich der individuellen Förderung, Umgang mit Vielfalt einbeziehen, und insofern auch sehr viel stärker die Aspekte Diagnose und Förderung mit einbeziehen. Es ist insofern schon wichtig, dass hier grundsätzliche Änderungen erfolgen. Wo die deutsche Lehrerausbildung immer schon gut war, war im Hinblick auf die Vermittlung von Fachkompetenzen; wo wir noch sehr viel besser werden müssen, ist im Hinblick auf die Schwerpunkte der didaktischen Kompetenzen, also erweiterte Unterrichtsformen wie das selbstgesteuerte, das kooperative Lernen, im Bereich der diagnostischen Kompetenzen also auch erweiterte Verfahren, Diagnoseverfahren miteinbeziehen, von gezielter Beobachtung hin zu systematischer Befragung oder gar Testung, bis hin auch zu einer Erweiterung der Lehrerinnen- und Lehrerrolle im Rahmen der kommunikativen Kompetenzen, dass Lehrkräfte geschult werden im Hinblick Beratungskontexte einerseits, aber durchaus auch das kooperative Arbeiten zwischen den Lehrerinnen und Lehrern sehr viel stärker in den Blick nehmen. Das ist sicherlich ein Aspekt, wo bislang noch viel zu viele Ressourcen einfließen insofern, dass nach wie vor immer noch ein ausgeprägtes Einzelkämpfertum an den Schulen zu beobachten ist, wo jede Lehrperson quasi ihren eigenen Unterricht für sich vorbereitet und da zum Beispiel kooperative Strukturen von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung noch viel zu wenig nutzen.
    Pfister: Das ist ein Appell dafür, ein bisschen mehr dafür zu tun, dass die Lehrer auch kooperieren und sich nicht mehr als Einzelkämpfer sehen, weil sonst individuelle Förderung für sie auch eine Überforderung wäre. Wenn man vom einzelnen Lehrer wegkommt und noch mal auf die Länder schaut: Wo sollen die, die Bundesländer, wo sollen die aus Ihrer Sicht nachlegen, damit diese individuelle Förderung nicht nur eine hohle Phrase bleibt?
    Fischer: Das eine ist natürlich schon, den Bereich der Lehrerausbildung stärker zu fokussieren, also, was Lehrkräfte brauchen. Wir sind eben auch erprobt, diagnostische, didaktische Materialien und Instrumente, die sie einsetzen können, um dann auch eine individuelle Förderung erfolgreich realisieren zu können. Das ist sicherlich ein gewichtiger Punkt. Und man müsste sicherlich auch zusätzliche Ressourcen investieren etwa in eine partielle Doppelbesetzung, was ja im Kontext der Diskussion um inklusive Bildung ohnehin stärker erforderlich wird, um dann noch mal stärker auf besondere Forder- und Förderbedarfe einzelner Schülerinnen und Schüler eingehen zu können.
    Pfister: Also, Lehrer sollen Schüler individuell fordern, so steht es in fast allen Schulgesetzen. Aber damit sind sie natürlich partiell auch selbst überfordert. Der Schulforscher Christian Fischer von der Uni Münster hat heute eine Studie zur individuellen Förderung an deutschen Schulen vorgestellt, danke Ihnen, Herr Fischer!
    Fischer: Ja, danke Ihnen auch ganz herzlich!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.