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Bildungspflicht statt Schulpflicht

In Deutschland herrscht Schulpflicht, in Österreich dagegen Bildungspflicht. Dieser Unterschied in der Gesetzeslage bedeutet, dass Kinder hierzulande nicht zu Hause unterrichtet werden dürfen. Im Nachbarland ist das sogenannte Homeschooling aber erlaubt.

Von Alexander Musik |
    Die Küstners wohnen in einer kleinen Gemeinde im Allgäu. Wo genau, wollen sie nicht sagen. Für den mittleren der drei Söhne, Jördis, elf Jahre alt, war es immer ein Kampf, in die Schule zu gehen. Er kümmere sich zu sehr um seine Mitschüler, zu wenig um sich selbst, sagten die Lehrer. Die Eltern beschlossen, ihn zu Hause zu unterrichten und mieteten dazu eine Wohnung in Tirol an, denn in Österreich ist häuslicher Unterricht nach Anmeldung beim Bezirksschulrat erlaubt.

    Die Schulpflicht ist "total überholt", findet Mutter Jael Küstner, das Aussortieren der Schüler und Vergleichen ihrer Leistungen müsse ein Ende haben. Und auch das Pendeln zwischen Allgäu und Tirol. Die Küstners planen überzusiedeln. Wohin genau, auch das wollen sie nicht sagen. Häuslicher Unterricht ist ein heikles Thema. Viele Eltern wollen darüber nicht sprechen.

    Diese Erfahrung haben auch Sabine Möstl und Sabrina Suchyna gemacht. Die Beiden haben über Homeschooling in Österreich an der Uni Wien ihre Diplomarbeit geschrieben.

    "Es war sehr mühsam, weil die Familien wirklich Angst haben, in die Öffentlichkeit zu treten. Obwohl wir ihnen gesagt haben, es ist anonym, es werden keine Namen genannt, keine Adresse, gar nichts – trotzdem haben sie Angst bekommen!"

    2.226 Kinder werden offiziell in Österreich zu Hause unterrichtet, eine wachsende Minderheit. Weil die Eltern der Meinung sind, das besser als der Staat zu können. Weil die individuelle Betreuung auf der Strecke bleibt oder das Lernniveau verfällt, da in vielen Klassen nur noch eine Minderheit der Schüler Deutsch spricht. Und natürlich, weil manche Kinder Schulangst haben.

    Einmal im Jahr müssen sich Kinder im häuslichen Unterricht in einer staatlichen Schule einer Externisten-Prüfung stellen und bekommen ein Zeugnis. Fällt es positiv aus, dürfen die Eltern ihre Sprösslinge ein weiteres Jahr zu Hause unterrichten, falls nicht, muss das Kind in die Schule. Ein Jahr zu wiederholen ist ausgeschlossen.

    Sandra Peham – die Familie wohnt in einem Dorf in Oberösterreich - hat die Prüfung für ihre drei Buben, die sie zu Hause unterrichtet, im Mai absolviert: Kilian, Lion und Jakob haben bestanden. Die gelernte Kindergartenpädagogin ist hoch zufrieden mit dem freien Lernen, wie sie es nennt.

    "Ich hab in den neun Monaten, wo wir jetzt so leben durften, so viel an Sicherheit gewonnen, so viel an Stärke, an Präsenz. Das war ja quasi ein Experiment, wohin es uns führt. Und ich habe so viel mitbekommen und meine Kinder beobachtet, wie sie sich Dinge beibringen. Natürlich mit unserer Unterstützung als Eltern! Die Eltern sind im häuslichen Unterricht verantwortlich."

    Sandra Peham unterrichtet nicht nach Stundenplan. Gelernt werde dauernd. So wie an diesem Tag im Zoo in der Nachbarstadt Wels. Und an manchen Tagen auch gar nicht. Die Kinder seien jedenfalls den ganzen Tag beschäftigt und sehr viel mit der Mutter zusammen – zu Hause oder auf einem der vielen Ausflüge. Dabei war Sandra erst gar keine Verfechterin der Homeschooling-Bewegung.

    "Die Idee hatte eigentlich mein Mann, der hat von vorneherein gesagt, unsere Kinder werden eh nie in die Schule gehen, und ich hab das eher belächelt, weil ich bin Pädagogin, sehr verschult natürlich, und ich war total überzeugt davon, dass nur Kindergarten und in der Schule die Kinder wirklich alles bekommen, was sie zum Leben brauchen."

    Die Sozialisation ihrer Kinder, das war auch für Sandra Peham das große Thema, wie sie sagt. Wachsen sie zu isoliert heran, haben sie genügend Freunde? Studienautorin Sabine Möstl:
    "Mit Homeschooling verbindet man immer so Außenseiter, Alternative, die das machen. Das Gefühl bekommen sie auch immer von der Umgebung vermittelt, obwohl unsere Familien überhaupt nicht alternative waren oder die nicht in die Gesellschaft sich eingliedern konnten."

    Möstl und Suchyna haben dafür den Eindruck gewonnen, die zu Hause unterrichteten Kinder zeichneten sich durch eine elaboriertere Sprache und breiteres Wissen aus. Kein Wunder, so ihre Schlussfolgerung: Zum einen ist die Betreuung für eines oder drei Kinder eben intensiver und passgenauer als für 25. Außerdem müssten sich die Kinder wegen der Unwägbarkeiten der Externisten-Prüfung auf den gesamten Lehrstoff vorbereiten, nicht nur auf die Schwerpunkte, die der Lehrer gesetzt hat. Ihre Kinder klagen darüber aber nicht, sagt Sandra Peham. Noch nicht.

    "Wenn meine Kinder sagen würden, Du Mama, ich möchte in die Schule, mir gehen andere Kinder ab, oder: Das macht mir so viel Spaß, kann ich das öfter haben, mit Kindern zusammen sein oder in Gruppen zusammen sein? Das ist ja logisch, dass wir uns dann Schulen anschauen gehen und sagen, na dann probierst Du es halt und schaust es dir an."

    Neben ihrem Vollzeit-Job als Haus-Lehrerin engagiert sich Sandra in einem Netzwerk für Freilerner. Ihre Vision: Schulen und Homeschooler sollen Partner werden, die voneinander profitieren! Sie selbst kenne viele fähige Lehrer, die aber im engen Korsett des Schulalltags schnell frustriert würden. Die Homeschooler ihrerseits wollen aus der Außenseiter-Ecke heraus; sie wünschen sich mehr Respekt, wie die Recherchen der Studienautorinnen ergeben haben. Für die Allgäuerin Jael Küstner ist das Ausweichen nach Österreich noch ein "Schlupfloch", wie sie sagt.

    Die Netzwerkerin Sandra Peham hört das nicht so gern:
    "Das ist kein Schlupfloch, das ist einfach eine ganz normale Schulform. Das ist mir total wichtig, weil, dort reißen sich die Menschen im häuslichen Unterricht oft selber hinein, dass sie permanent die Angst haben vor irgendwelchen Behörden. Das ist so fühlbar und da möchten wir raus und sagen: Das sind ganz normale Menschen, die leben so und stellen uns auch der Öffentlichkeit, weil wir nix zu verbergen haben."

    Homeschooling muss man sich natürlich auch leisten können: Ein Elternteil ist dadurch gebunden; für Ausflugskosten und Eintrittsgelder gibt's keinen verbilligten Klassentarif. Alle Befragten waren "finanziell sehr gut gestellt", haben denn auch die Studienautorinnen in ihrer Diplomarbeit, der ersten zu dem Thema in Österreich, festgestellt.