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Bildungspolitik
"Die Zukunft muss inklusiv sein"

Inklusion sei nicht ausschließlich ein schulisches oder bildungspolitisches Thema, sondern ein gesellschaftliches, sagte Klaus Wenzel, der Präsident des Bayrischen Lehrerverbandes, im DLF. Zum Anschieben des inklusiven Systems brauche es Geld und da müsse die Politik bereit sein, zu investieren.

Klaus Wenzel im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Ein Schulkind steht vor einer Tafel, auf der das Wort "Inklusion" geschrieben steht.
    Vor fünf Jahren wurde in Deutschland die UNO-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. (picture alliance / dpa)
    Tobias Armbrüster: Inklusion an deutschen Schulen, das ist in vielen Lehrerzimmern seit Monaten ein Top-Gesprächsthema. Das Prinzip der Inklusion im Bildungsbereich besagt ganz einfach ausgedrückt, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam in einem Klassenzimmer unterrichtet werden. Deutschland hat eine entsprechende UN-Konvention schon vor fünf Jahren unterzeichnet. Seitdem fragen sich viele Pädagogen aber in Deutschland, wie ein solches Projekt eigentlich umgesetzt werden soll, und vor allem, woher die zusätzlichen Lehrer kommen sollen, die dafür benötigt werden. Das ganze ist heute auch ein Thema beim Treffen der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn.
    Wir wollen natürlich auch einen Lehrer hören und hören, was er dazu sagt. Am Telefon ist Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes. Schönen guten Tag, Herr Wenzel.
    Klaus Wenzel: Einen schönen guten Tag.
    Armbrüster: Herr Wenzel, was sind Ihre Erfahrungen mit der Inklusion in deutschen Klassenzimmern?
    Wenzel: Ich habe in dem Einspieler jetzt die Frau Erdsiek-Rave gehört, und die könnte eigentlich Mitglied des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes sein, denn sie hat die kritischen Punkte genannt. Ich will aber noch eins vorausschicken. Ein Programmsatz im BLLV heißt, Inklusion beginnt im Kopf der Menschen und endet in einer veränderten Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass es im Kopf vieler Menschen noch nicht Klick gemacht hat, dass viele noch exklusiv denken und sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen wollen, dass tatsächlich alle behinderten Kinder und Jugendlichen mit allen nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen zusammen lernen und leben dürfen. Deswegen ist jetzt zu beklagen nach fünf Jahren, dass diese fünf Jahre zu wenig genutzt wurden, um zu kommunizieren, um zu informieren, um deutlich zu machen, worin auch die großen Chancen der Inklusion bestehen.
    Wenzel: Inklusion ist ein gesellschaftliches Thema
    Armbrüster: Heißt denn das, dass auch viele Lehrer das noch nicht ganz verstanden haben?
    Wenzel: Bei den Lehrerinnen und Lehrern ist es in den letzten fünf Jahren sehr viel besser geworden, weil die sich naturgemäß mit dem Thema beschäftigen müssen. Aber Inklusion ist ja nicht ausschließlich ein schulisches oder bildungspolitisches Thema, sondern ist ja ein gesellschaftliches Thema, und da habe ich den Eindruck, dass es zwar auch etwas vorangegangen ist in den letzten fünf Jahren. Viele können jetzt wenigstens mit dem Begriff Inklusion was anfangen. Aber ich erfahre viel zu selten, dass Bürgerinnen und Bürger fest davon überzeugt sind, dass dies das Konzept der Zukunft ist. Wir vom BLLV, vom Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband, sind der festen Überzeugung, die Zukunft muss inklusiv sein, die Zukunft der Gesellschaft muss inklusiv sein, und deswegen muss natürlich auch die Zukunft unseres Schul- und Bildungswesens inklusiv sein.
    Armbrüster: Herr Wenzel, nun sprechen wir mit Ihnen mit einem Lehrer. Deshalb wollen wir natürlich auch vor allen Dingen über den Schulbereich bei der Inklusion sprechen. Was sind denn Ihrer Erfahrung nach die praktischen Stellen, wo es Probleme gibt, wenn Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam an einer Schule in einem Klassenzimmer unterrichtet werden?
    Wenzel: Erstens ist das Angebot noch viel zu gering. Wir haben in Bayern im Moment etwa 300, 350 Schulen, die das Prädikat Inklusionsschule tragen, wenngleich dies im Grunde ja auch schon wieder ein Widerspruch ist in sich. Ich kann nicht innerhalb eines Schulsystems einige Schulen zu Inklusionsschulen machen und die übrigen bleiben normale Regelschulen. Aber wenn ich das dann schon tue - und das könnte ja auch ein Schritt in die richtige Richtung sein -, dann muss ich diese Inklusionsschulen optimal ausstatten. Das heißt, ich brauche drei Dinge, erstens Lehrer, zweitens Lehrer und drittens Lehrer, und zwar nicht nur die üblichen Grundschullehrer, Hauptschullehrer, Gymnasiallehrer, Realschullehrer, sondern ich brauche auch Fachpersonal. Ich brauche Sonderpädagogen, ich brauche Sozialpädagogen, ich brauche Schulpsychologen, ich brauche Mediziner, und da wird in allen Ländern kräftig gespart. Ich habe den Verdacht, dass manche Finanzminister die Inklusionskonzepte auch als Einsparkonzepte sehen, und das ist verheerend, denn für Inklusion brauchen wir - Klaus Klemm ist zitiert worden - zunächst mal in der Anschubfinanzierung deutlich mehr Geld. Ich glaube, wenn dann mal das inklusive System konsequent eingeführt worden ist, dass sich das dann etwa die Waage hält. Aber zum Anschieben brauchen wir viel, viel Geld, weil wir viel, viel Personal brauchen.
    "Inklusion ist der richtige Weg"
    Armbrüster: Und wenn wir dieses inklusive System mal zu Ende denken, dann heißt das ja eigentlich, dass es in einigen Jahren in Deutschland keine Förderschulen – früher hießen die mal Sonderschulen – mehr geben wird.
    Wenzel: Das heißt, dass es sehr, sehr viel weniger Förderschulen geben wird. Ich glaube nicht, dass man völlig auf sonderpädagogische Einrichtungen wird verzichten können. Ich habe mich in Finnland gut umgeschaut, das ist ja der Inbegriff des inklusiven Schulsystems, und selbst Finnland hat noch sonderpädagogische Einrichtungen, weil es bestimmte Sonderformen gibt, bei denen es wichtig ist, dass ich auch mit Spezialisten und mit Spezialgeräten agieren kann. Aber das ist eine so kleine Minderheit, dass man nicht dies immer vorschieben sollte und sagen, es geht eben nicht überall. Auch das ist im Bericht gesagt worden. Der große Teil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf hat Lernprobleme und es hat mir als einen, der selber 34 Jahre im Schuldienst tätig war, nie eingeleuchtet, dass man die Schwierigen unter sich lässt. Die haben ja dann kein Modell, kein Vorbild, an dem sie sich orientieren können. Insofern ist Inklusion der richtige Weg. Aber die Politik muss dann auch bereit sein, zu investieren.
    "Unser Regelschulsystem noch nicht gut vorbereitet auf Inklusionsprozesse"
    Armbrüster: Herr Wenzel, was sagen Sie denn zu Eltern, die jetzt möglicherweise bei uns zuhören und sagen, wir haben ein behindertes Kind, aber das soll besser an einer Förderschule unterrichtet werden, das wollen wir nicht auf eine Regelschule schicken?
    Wenzel: Da habe ich zunächst ganz viel Verständnis für diese Eltern, weil die sagen, solange es nicht geklärt ist, dass unser Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Regelschule mindestens so gut gefördert wird wie bisher, dann gehen wir das Risiko nicht ein. Wir haben das ja auch in der Praxis, erleben das nahezu wöchentlich, dass wir bei Veranstaltungen dann auch Meldungen bekommen von Eltern, die sagen, unser behindertes Kind ist im Moment gut aufgehoben und wir wollen das auch im Moment da belassen. Da habe ich ganz großes Verständnis für. Diese Reaktion ist letztlich ja auch eine Antwort darauf, dass unser Regelschulsystem noch nicht gut vorbereitet ist auf Inklusionsprozesse.
    Armbrüster: Das heißt, wenn wir das ganz kurz zusammenfassen würden: Die Umsetzung der Inklusion ist nicht so sehr ein Problem in den Köpfen der Menschen, sondern vor allem ein Geldproblem, ein Problem der Politik?
    Wenzel: Meine Erfahrung ist, wenn im Kopf was passiert ist, ist man auch bereit zu finanzieren. Einen Punkt möchte ich noch kurz ansprechen, der noch gar nicht in Rede stand. Das ist die Lehrerbildung. Das heißt, wir müssen auch Kolleginnen und Kollegen, die bisher in Regelschulen gearbeitet haben, fit machen, denn viele haben Angst davor - und da habe ich auch Verständnis dafür -, jetzt plötzlich mit Schülerinnen und Schülern umzugehen, mit denen sie bisher keinen Kontakt und keine Erfahrungen hatten. Also bitte in alle drei Phasen der Lehrerbildung das Thema Inklusion aufnehmen.
    Armbrüster: Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes, war das live hier bei uns in den "Informationen am Mittag" um 12:45 Uhr. Vielen Dank, Herr Wenzel.
    Wenzel: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.