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Bildungsprojekt in Kosovo
"Diese Kinder Roma zu nennen, das wäre verletzend"

In dem Projekt "Loyola Tranzit" treffen zwei Welten aufeinander: Gymnasiasten und Straßenkinder aus dem Kosovo, Angehörige einer diskriminierten Minderheit. Unterwegs mit dem Jesuiten Moritz Kuhlmann, dem Leiter des Projektes, der erklärt, warum er lieber von "Zigeunern" als von Roma spricht.

Von Matthias Alexander Schmidt |
    Die Hand des Jesuiten Moritz Kuhlmann hält die Hand eines Kindes
    Der Jesuit Moritz Kuhlmann arbeitet seit Jahren mit Ashkali-Kindern in Kosovo (Deutschlandradio / Matthias Alexander Schmidt)
    Das Schiffshorn dröhnt laut und tief durch die Altstadt von Prizren. Eigentlich ist es das tiefe B meines Alt-Saxophons. Ich stehe am Heck eines Schiffs. An einem Samstagabend im Hochsommer fährt es vorbei an Cevapcici-Buden und an der Sinan-Pascha-Moschee, deren Fassade im Licht der Abendsonne glänzt. Das Schiff fährt nicht auf dem Fluss, sondern durch die Fußgängerzone. Besatzung und Passagiere bewegen sich zu Fuß. Denn es ist die mobile Bühne eines Theaterstücks.
    Die Schauspieler: Kinder und Jugendliche, die zur ethnischen Minderheit der Ashkali gehören, einer Gruppe der Roma im Kosovo. Neben ihnen gehen jugendliche Kosovo-Albaner. Gemeinsam tragen sie das Bühnenbild: Bug, Segel und Steuerrad. Mittendrin im Schiff geht mein Freund Moritz Kuhlmann. Er ist 27, Mitglied im Jesuitenorden und lebt seit anderthalb Jahren im Kosovo. Bei den Passanten neben dem Schiff stehen drei kleine Jungs, vielleicht 7 Jahre alt, etwas verwahrlost, mit Trommeln in der Hand. Wie gebannt beobachten sie das Schauspiel. Moritz lächelt.
    "Das Stadtzentrum ist die Bühne der Zigeunerkinder, weil sie hier herumlaufen und betteln mit ihren Trommeln und versuchen, ein bisschen Geld zu machen. Die Kinder, die sich diesen Ort schon längst zu ihrer Bühne gemacht haben, auf die schauen die Menschen ja nur herab, also die, das sind die lästigen Straßenkinder. Das Stadtzentrum ist die geheime Bühne der Zigeunerkinder. Und heute Abend ist es die offizielle Bühne der Zigeunerkinder."
    Zusammenleben auf Augenhöhe
    Ich habe Moritz schon öfter hier besucht, viele seiner Schützlinge kennengelernt. Wie immer spricht er ganz selbstverständlich von "Zigeunern".
    "In Deutschland halten wir Roma für den besten Begriff, 'politically correct', aber die Ashkali wehren sich dagegen, Roma zu heißen - das empfinden sie als Beleidigung. Der Hintergrund ist, dass die Ashkali-Identität sich dadurch gründet, dass sie sich mühsam davon absetzen, Roma zu sein, aus der Angst heraus, die Vorurteile und den Hass, den Albaner gegenüber Roma haben, auf sich nehmen zu müssen. Und das ist bestimmt auch für die Ashkali ein schmerzhafter Prozess, weil sie ein Stück ihrer Identität aufgeben mussten: Sie haben die Roma-Sprache verlernt, die Roma-Kultur abgelehnt, um ganz Albaner sein zu können, wobei die Albaner sie nicht als Albaner akzeptieren, sondern Roma nennen. Und wenn ich jetzt käme und die Ashkali 'Roma' nennen würde ... das ist eine wirkliche Verletzung! Deswegen spreche ich oft von 'Zigeuner', weil ich diesen Begriff als respektvoll empfinde."
    Mit der Theateraufführung im Stadtzentrum feiern Ashkali und Kosovo-Albaner das einjährige Bestehen des Begegnungs- und Bildungsprojekts "Loyola Tranzit". Zwei Welten treffen dabei aufeinander. Die eine: albanisch-stämmige Schüler vom Loyola-Gymnasium, 2005 von einem deutschen Jesuiten gegründet, mit dem Ruf: "Elite-Gymnasium", "beste Schule des Kosovo".
    Die andere Welt, das sind Kinder und Jugendliche, die kaum oder gar nicht zur Schule gehen, Ashkali. Sie leben in einem Viertel namens Tranzit, direkt neben der Autobahn. Kosovo-Albaner und Ashkali haben normalerweise nichts miteinander zu tun. Vor anderthalb Jahren begann Moritz Kuhlmann zusammen mit jugendlichen Loyola-Schülern, Familien in Tranzit zu besuchen - inspiriert von seinem Ordensbruder Georg Sporschill in Rumänien und dessen Roma-Projekt "elijah".
    "Der Kern ist ja, dass wir nicht ein Projekt für Roma machen wollen und nicht den Roma helfen wollen. Darum geht's nicht. Sondern es geht um das gewagte Experiment: Können wir mit ihnen zusammenleben?"
    "Schmetterlinge in Tranzit"
    Das Theaterschiff hält an, unten am Fluss führen 20 Kinder und Jugendliche eine Breakdance-Performance auf. Einer der Tänzer ist der 16-jährige Loyola-Schüler Guri Mazreku. Nach seinem Auftritt erzählt er mir von seinem Einsatz im Viertel Tranzit:
    "Ich bringe den Kindern Schreiben bei, das Alphabet und auch etwas Mathe. Die Kinder freuen sich so, jemanden zu haben, der ihnen neue Dinge beibringt. Und ich lerne dabei, aus meiner gewöhnlichen Rolle als Schüler in die Lehrerrolle zu wechseln und zu schauen, wie kann ich Kindern etwas beibringen."
    Einige ältere Ashkali-Jungs trommeln einen Rhythmus auf Mülltonnen und einer rappt. Sie blockieren die sogenannte KFOR-Brücke. Bis heute sind hier Soldaten postiert. Passanten bleiben stehen, machen Fotos. Moritz sagt:
    "Es hatte was von 'ner politischen Demonstration, hab ich während der Aufführung gedacht und von Sichtbarmachung. Die meisten Zuschauer kennen die Geschichte nicht, haben sie auch nicht verstanden währenddessen, aber sie haben gesehen, was sonst nicht sichtbar ist: Nämlich die Ashkali und ihr Zusammensein und Zusammenleben mit den Nicht-Ashkali."
    Moritz Kuhlmann geht mit Ashkali-Kindern spazieren - an der Hand hält er einen kleinen Jungen
    Moritz Kuhlmann mit Ashkali-Kindern in Prizren (Deutschlandradio / Matthias Alexander Schmidt)
    Loyola-Schüler Guri ergänzt: "Unser Theater-Sommerlager heißt 'Schmetterlinge in Tranzit'. Wir haben von Null angefangen - wie ein Schmetterling im Kokon - und haben ein ganzes Theaterstück selbst geschrieben und einstudiert. Während des letzten Jahres haben wir diese Verwandlung vom Kokon zum Schmetterling auch gesehen, in der Verbindung von einer Welt in eine völlig andere. Dabei verwandeln sich auch die Personen selbst."
    Am Anfang störten die jugendlichen Ashkali-Jungs andauernd den Unterricht der Loyola-Schüler mit den Kleineren. Erst nach und nach begannen sie mitzuhelfen, wurden langsam von störenden Schülern zu Mitarbeitern des Projekts. Doch die Loyola-Schüler konnten diesen Wandel nicht wahrnehmen.
    Moritz sagt: "Und da gab's einen gigantischen Konflikt, es hat richtig gekracht. Sie haben sich angeschrien. Eine Stunde lang Gebrüll. Irgendwie war es dann möglich, langsam zu verstehen, dass das Mitarbeiter sind und nicht Schüler, sondern Kollegen auf Augenhöhe."
    "Das religiöse Leben ist ein blinder Fleck"
    Einer der jugendlichen Ashkali-Jungs ist der 17-jährige Ramadan Mustafa. Am Vorabend des muslimischen Opferfestes sitze ich mit Moritz bei seiner Familie in der Wohnung auf einem großen Ecksofa. Es ist kurz vor Mitternacht. Ramadans Mutter Arijeta stellt jede Menge Süßigkeiten auf den Couchtisch.
    "Per Bayram!"
    Für Bayram, sagt sie, und drückt mir ein Stück Turkish Delight in die Hand.
    Moritz sagt: "Das sollst Du unbedingt probieren, das hat ein richtig gutes Aroma."
    Wenn sie es sich leisten können, schlachten muslimische Familien ein Lamm. Das erinnert an die Geschichte von Ibrahim, der bereit war, seinen Sohn Ismael zu opfern, bis Gott ihm im letzten Moment ein Tier zum Schlachten gab. Die meisten Loyola-Schüler und alle Ashkali sind Muslime. Zugleich ist das Kosovo ein streng säkularer Staat:
    Moritz Kuhlmann sagt: "Die Menschen aus Tranzit trinken Alkohol, gehen freitags nicht unbedingt in die Moschee, aber so die großen Feste werden eingehalten, ja, letztlich so wie die Christen in Westeuropa. Aber das macht es schwerer, religiöse Ausdrucksformen zu finden, weil die Muslime hier mit keinerlei religiösen Ausdrucksformen vertraut sind. Das religiöse Leben ist ein bisschen ein blinder Fleck, weil das für mich so ein zentraler Punkt ist und der Grund ist, warum ich überhaupt in Tranzit bin, aber aus Tranzit weiß es überhaupt niemand, spürt es überhaupt niemand. Und in dieses tiefe religiöse Leben lässt sich auch niemand mit hineinnehmen, zumindest hab ich noch keine Form gefunden, aber vielleicht entsteht das noch."
    "Die Loyola-Schüler respektieren uns"
    Vor dem Opferfest wollte Ramadan unbedingt noch bezahlt werden. Deswegen sind wir hier. Moritz hat ihn und drei andere Jugendliche aus dem Viertel angestellt, 150 Euro bekommt er pro Monat - für kosovarische Verhältnisse kein schlechter Lohn. Ramadan kann einigermaßen lesen und schreiben, ist aber nur drei, vielleicht vier Jahre zur Schule gegangen. Er erzählt mir von seinem Einsatz für das Projekt:
    "In unserem Schulraum hier im Viertel sind meine Aufgaben, auf die Kinder aufzupassen und mich um den Raum zu kümmern. Zum Beispiel im Kindergarten ist meine typische Aufgabe, wenn die Kinder aus dem Raum abhauen, ihnen hinterher zu rennen und sie wieder zurückzuholen."
    Rund 70 Prozent der jungen Menschen im Kosovo sind arbeitslos. Berufsausbildungen gibt es nicht. Für Ashkali ist es noch schwerer, Arbeit zu finden. Ramadans Vater Zabit transportiert und schneidet Holz mit einem kleinen Traktor. Die Wohnung der Familie ist sehr gepflegt; und doch schlafen hier in einem Raum die Eltern, Ramadan und seine fünf Geschwister. Ich frage Ramadan und Zabit nach ihrem bisherigen Verhältnis zu den albanisch-stämmigen Kosovaren.
    Ramadan sagt: "Die meisten haben uns nicht respektiert, sondern eher beleidigt oder uns einfach ignoriert. Die Loyola-Schüler kommen hierher und respektieren uns, die haben für uns als Community Respekt - und das haben sie von uns gelernt."
    Eine Gruppe von musizierenden Ashkali-Kindern in Prizren - links im Bild der sichtlich stolze Ramadan Mustafa mit seiner Gitarre
    Ramadan Mustafa (Links) hat gelernt, Gitarre zu spielen (Deutschlandradio / Matthias Alexander Schmidt)
    Der Vater meint: "Es ist etwas Besonderes, dass die Loyola-Schüler die Kinder umarmen und liebhaben und dass sie so offenherzig sind ihnen gegenüber. Als Ihr das Theaterstück mitten in Prizren aufgeführt habt, da sind die Loyola-Schüler mit meinem Sohn Ramadan durch die Straßen gelaufen wie Freunde."
    Am Nachmittag hat Ramadan zusammen mit anderen Musikschülern bei der Einweihung eines neuen Begegnungsraums im Viertel Gitarre gespielt. Als ich ihn vor ein paar Monaten traf, konnte er noch keinen Akkord greifen.
    "Schau mal, was ich für eine Hornhaut auf den Fingern hab, wie weich die Haut hier ist und wie hart sie an den Fingern geworden ist, wo ich die Saiten drücke. Dieser Wechsel, vom ersten Mal die Gitarre in der Hand haben bis dahin, jetzt auf der Bühne zu stehen und ein Konzert geben, das bedeutet mir wirklich viel."
    Zabit ist stolz auf seinen Sohn.
    "Und er kann auch stolz auf sich sein. Mein Beruf ist eben Holzschneiden und sein Beruf ist Gitarre spielen."
    Hier finden Sie weitere Informationen zur Initiative "Loyola Tranzit"