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Bildungsstudie
Ausbau der Ganztagsschulen verliert an Dynamik

Eltern und Unternehmen wollten zwar mehr Ganztagsschulplätze, deren Ausbau sei in den vergangenen Jahren aber ins Stocken geraten, sagte der Bildungsforscher Klaus Klemm im Deutschlandfunk. Die Steigerungsraten bei neuen Plätzen lägen nur noch bei ein bis zwei Prozent im Jahr.

Klaus Klemm im Gespräch mit Regina Brinkmann | 03.07.2014
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    Plätze an Ganztagsschulen sind zwar gefragt, ihr Ausbau stockt aber seit einiger Zeit. (picture-alliance/ ZB / Waltraud Grubitzsch)
    Regina Brinkmann: Die Zeiten, als Kinder um zwölf Uhr nach der Schule zum Mittagessen nach Hause kamen, sind wohl lange vorbei. Zumindest in einigen Regionen Deutschlands. Zwar geht inzwischen im Bundesdurchschnitt jeder dritte Schüler ganztags zur Schule, doch es wären wohl deutlich mehr, wenn es nach den Eltern ginge. Denn immerhin 70 Prozent wünschen sich einen Ganztagesplatz für ihr Kind. Da klaffen aber Wunsch und Realität weit auseinander. Und so, wie es aussieht, wird sich daran auch erst einmal nur wenig ändern, denn die Tendenz beim Aufbau von Ganztagsschulplätzen ist stockend. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt hat. Ich hab ihn vor dieser Sendung gefragt, in welchem Umfang überhaupt noch neue Plätze an den Schulen angeboten werden.
    Klaus Klemm: Wir hatten in den Jahren von 2002 bis 2009 ein beachtliches Ausbautempo. Das hat sich jetzt verlangsamt, wir kommen jetzt nur noch zu Steigerungsraten, je nach Bundesland, zwischen ein und zwei Prozent. Also mehr als zusätzlich ein bis zwei Prozent pro Jahr kommt nicht hinzu.
    Brinkmann: Und woran liegt das?
    Klemm: Na ja, Ganztagsschulen sind teuer. Wir können dort zwei Kostengruppen unterscheiden. Das eine ist, um Kinder ganztags in der Schule zu haben, braucht man eine Mittagsverpflegung. Die sollen ja dann nicht an die benachbarte Frittenbude gehen oder mit einem Brötchen von zu Hause kommen. Man braucht eine Mittagsverpflegung, und man braucht zusätzliche Flächen, die neben den reinen Unterrichtsräumen, neben den Klassen, auch Freizeitflächen sind, Flächen, in denen die Schülerinnen und Schüler sich ausruhen können, wenn sie eben von morgens acht bis drei, halb vier in der Schule sind.
    Brinkmann: Nun kann man ja nicht sagen, dass in allen Bundesländern das gleichermaßen nicht vorangeht oder es ein zu geringes Angebot gibt. Schauen wir mal nach Bayern oder Baden-Württemberg – die beiden Länder sind Schlusslichter. Bayern beschult gerade 12,4 Prozent als Ganztagsschüler und Baden-Württemberg nur 19 Prozent. Woran liegt das?
    Klemm: Das ist schwer zu erklären. Ich habe eine Hypothese, aber ich bin nicht sicher, ob die wirklich belastbar ist. Wir haben in diesen beiden Ländern, wenn wir so den Startpunkt Anfang des Jahrhunderts, also 2002 nehmen, schon die Situation, dass sie ganz am Ende lagen. Damals gab es in Bayern nur für zwei Prozent der Kinder Ganztagsplätze. Dort gab es sehr starke grundsätzliche Widerstände gegen Ganztagsschulen mit dem Argument, Kinder gehören, zumindest die kleineren Kinder gehören ins Elternhaus, wenn die Schule vorbei ist. Die sollen nicht ihre Freizeit auch noch in der Schule verbringen. Diese Widerstände sind eigentlich erst in den letzten Jahren auch in Bayern völlig zurückgezogen worden, aber eine Erklärung könnte sein, dass in Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg, die von einem sehr niedrigen Niveau kommen, es eben sehr lange gedauert hat, bis man sich im Kopf umgestellt hat auf diese neue Situation, Schule den ganzen Tag anzubieten.
    Brinkmann: Hat man das in Sachsen unter Umständen eher getan, weil da – also Sachsen ist Spitzenreiter mit 80 Prozent?
    Klemm: Wir haben in allen fünf neuen Ländern Werte, die oberhalb des Bundesdurchschnitts liegen. Das hat zwei Ursachen. Zum einen ist es einfach in der DDR-Tradition gängiger gewesen, dass Kinder außerhalb der reinen Unterrichtszeit in Horten oder sonst wie öffentlich betreut wurden. Da ist also eine ältere Tradition in dieser Situation. Das Zweite ist, wir haben in den neuen Ländern, das ist ja oft genug thematisiert worden, einen riesigen Rückgang der Geburtenzahlen in den 90er-Jahren gehabt, sodass man wegen der sinkenden Zahlen die Ganztagsplätze erhalten musste, um dann, schon allein auf diesem Wege, ohne zusätzliche Baumaßnahmen und ohne zusätzliche Personaleinstellungen einen höheren Prozentanteil unterbringen konnte. Wir hatten mal in der DDR 200.000 Geburten, Ende der 80er-Jahre. Wir hatten dann, in den 90er-Jahren nur noch 70.000 bis 80.000 Geburten. Also diese starke Reduzierung der Schülerzahlen hat natürlich gleichsam den Nebeneffekt gehabt, dass man in den vorhandenen Ganztagsplätzen höhere Prozentanteile unterbringen konnte.
    Brinkmann: Heißt denn Masse an Betreuungsplätzen in der Schule auch gleich Klasse?
    Klemm: Na, das ist der zentrale Punkt, der hinter diesen Daten eben immer noch steckt und den die Daten, diese statistischen Informationen, nicht bieten. Wir wissen über die breiten Veröffentlichungen überhaupt nichts über die Qualität dessen, was in den Ganztagsschulen passiert. Sind das nur Schulen, wo die Kinder mittags irgendwo ein Essen kriegen und ansonsten Unterricht haben oder auf dem Pausenhof rumstehen, unbeschäftigt sind, unbetreut sind, wo keine Förderung passiert, oder sind es Schulen, wo eine anständige Mittagsverpflegung ist, wo Freizeitflächen sind, wo Bibliotheken verfügbar sind, wo auch pädagogisches Personal nachmittags fördern kann. Und da haben wir ein ganzes Spektrum. Wobei ich nie weiß, ob das von Land zu Land unterschiedlich ist oder ob das nicht – ich vermute das – vielfach auch von Schule zu Schule unterschiedlich ist.
    Brinkmann: Ein neues Ganztagsschulprogramm, so wie es ja 2003 bis 2009 stattgefunden hat, und in dieser Zeit gab es ja auch den großen Aufbruch, und da fallen jetzt die Zahlen, die Sie vorgelegt haben, deutlich hinter zurück, ist ja nicht in Sicht, ein solches Programm. Braucht es eigentlich immer die Hilfe oder den Impuls aus Berlin, damit sich in den Ländern da etwas bewegt?
    Klemm: Ob es immer den Impuls braucht, weiß ich nicht. Inzwischen ist eigentlich in jedem der Bundesländer ein starker Druck auch für mehr Ganztagsplätze. Die Eltern wollen das, die Unternehmen wollen das, damit die qualifizierten Frauen auch erwerbstätig sein können. Das ist ein ganz unpädagogisches, aber starkes Argument in der Durchsetzung, nur es kostet eben sehr viel Geld. Es kostet Lehrerstellen, es kostet Bauinvestitionen, und wir haben nun mal in allen Bundesländern den Zwang, bis 2020 die Verschuldung der öffentlichen Haushalte auf Null zu bringen. In dieser Situation ohne ein neues, ein großes Programm, wo Bund und Länder gemeinsam finanzieren, ohne ein solches Programm werden wir nicht weiterkommen.
    Brinkmann: Sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm, der in seiner aktuellen Studie zu dem Ergebnis kommt, dass der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland deutlich an Dynamik verloren hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.