Archiv


Bildungswege in China

Mittelschicht und Oberschicht in China sind vor allem in den Städten zu Hause. Auf dem Land hingegen haben schon Kinder mit schlechten Bildungschancen zu kämpfen. Wer kann, zieht in die Stadt und versucht mit viel Fleiß, auf der sozialen Leiter hochzuklettern.

Von Markus Rimmele |
    Schülerleben
    17 Uhr , Schulschluss an der Pei-Ying-Grundschule. Pei Ying bedeutet "Heranziehen der Tüchtigen". Die Schule liegt in einem Mittlelschicht-Viertel der südchinesischen Metropole Guangzhou, im Westen bekannt als Kanton. Am Schultor stehen Eltern, auch Großeltern. Sie warten auf die Kinder, werden Augenzeugen eines Rituals, das jeden Tag den Unterricht beendet:
    Zusammen mit ihrem Lehrer kommen die Kinder aus dem Gebäude, stellen sich auf und rufen Klasse für Klasse: "Danke, Lehrer. Lehrer, auf Wiedersehen!" Alle tragen grün-weiße Uniformen. Große Lust auf den Abschiedsruf scheinen die Kinder nicht zu haben, denn gleich danach stürmen sie nach draußen.

    Vor allem die Kleinen rennen, sofern sie das können. Manche ziehen ihren Schulranzen auf Rollen hinter sich her wie einen Trolly am Flughafen. Die Bücher sind zu schwer für den Rücken. Liao Qida dagegen kommt langsam heraus. Er gehört schon zu den Ältesten: 13 Jahre, sechste Klasse.

    "Jetzt kann ich endlich gleich nach Hause gehen. Ich war wieder von sieben Uhr heute Morgen bis jetzt um fünf Uhr in der Schule. Meistens gehe ich dann gleich in die Wohnung, manchmal erst zu meiner Mutter ins Restaurant."

    Zehn Stunden Schule täglich, das ist normal. Samstags sind es nur neun. Und samstags bekommt er auch keine Hausaufgaben, sagt Qida. Was nicht heißt, dass er dann Ruhe hätte. Am Sonntag muss er lernen und wiederholen. Qida ist an einem Punkt seiner Schullaufbahn angekommen, der für sein weiteres Leben von großer Bedeutung ist. Im Juni wird der 13-Jährige an einer wichtigen Prüfung teilnehmen, mit der sich entscheidet, ob er auf eine sogenannte Schlüssel-Oberschule gehen kann. Diese Schulen waren früher einmal im ganzen Land als Eliteschmieden eingerichtet worden. Das Schlüsselschulsystem ist zwar heute offiziell passé. Aber privilegiert lernen kann man hier noch immer. Die Schulen sind sehr gut ausgestattet und bereiten bestens auf die abschließende, große nationale Aufnahmeprüfung für die Universitäten vor. Das erklärt auch, warum sie sich ihre Schüler aussuchen können. Sehr gute Leistungen muss man vorweisen oder aus wohlhabendem Hause sein. Qidas Familie ist nicht besonders vermögend. Sollte er die Prüfung im Juni nicht bestehen, müsste er auf eine weniger renommierte Schule gehen, und das hätte Auswirkungen auf seine gesamte Zukunft. Auf dem 13-Jährigen lastet ein großer Druck.

    17:30 Uhr. Qida kommt nach Hause, geht direkt auf sein Zimmer.

    Lieber sofort die Hausaufgaben hinter sich bringen, sagt er. Außerdem kommt die Mutter nachher zum Kontrollieren.

    "Englisch, nur Englisch ist das Problem. In drei Hauptfächern brauche ich mindestens 90 Punkte, damit ich auf die gute Oberschule gehen kann. Es geht halt um meine Zukunft. Ich will die Erwartungen von meinen Eltern erfüllen und hart arbeiten."

    China hat eine neunjährige Schulpflicht. Die Grundschule dauert sechs Jahre, die weiterführende Schule weitere drei. Wer anschließend noch in die Oberstufe will, muss - so wie Qida - zuvor eine Prüfung bestehen. Am Ende der Oberstufe wiederum steht dann die landesweite zentrale Aufnahmeprüfung für den Universitätszugang. Das ganze System basiert also auf einem harten Wettbewerb. Schüler haben fast keine Freizeit, die Hausaufgabenlast ist groß. Besonders ehrgeizige Eltern schicken ihre Kinder zusätzlich abends und in den Ferien in Nachhilfeschulen. Es hängt viel davon ab, in den entscheidenden großen Prüfungen gut abzuschneiden - für den Nachwuchs und auch für die ganze Familie. Diese Fixierung auf Prüfungen ist in China eine uralte Tradition, erklärt Cheng Kai-ming, Professor für Erziehungswissenschaften und China-Experte an der Universität Hongkong :

    "Das stammt aus dem kaiserlichen Prüfungswesen für die Beamtenschaft. Dieses wurde im Jahre 603 eingeführt. Seither ist Prüfung gleich bedeutend mit Bildung. Und Bildung bedeutet Prüfungen und sonst nichts. Doch bei dem ganzen System geht es nicht ums Lernen. Es geht hier um soziale Mobilität. Erfolg in den Prüfungen war der einzige Weg, Beamter zu werden. Das galt auch für Bauern. Durch Prüfungen wurde die Staatsspitze rekrutiert. Und dieses System hat das neue China vom alten geerbt: sozialer Aufstieg durch Wettbewerb in den Prüfungen, Auswahl von oben. Das Ganze versteckt hinter der Fassade des Lernens. Vielleicht klingt es jetzt etwas extrem. Aber darum geht es beim Thema Bildung in China. Und da ist nichts anderes."

    Qida holt seine Bücher und Hefte aus der Schultasche. Ihm stehen jetzt drei Stunden Hausaufgaben bevor. Zwischendurch wird er schnell zur Mutter ins Restaurant hinübergehen und zu Abend essen. Alles in allem hat der 13-Jährige eine 75-Stunden-Woche. In den höheren Klassen wird es noch mehr werden. Manchmal, erzählt er, geht er abends noch zu einem Freund in der Nachbarschaft zum Computerspielen. In der Regel aber reicht die Zeit nicht. Um halb zehn geht er ins Bett. Er hasst die Tage, an denen er nachsitzen muss. Das kommt vor, wenn er die Hausaufgaben mal nicht gemacht hat. Schulschluss ist dann erst um sechs, das macht den abendlichen Zeitplan noch enger. Qida ist unentschieden. Einerseits sagt er:

    "Ich will es in eine gute Schule schaffen. Der Wettbewerb spornt mich an und hilft mir dabei."

    Andererseits wünscht er sich weniger Hausaufgaben, vermisst schon Freiheit und Freizeit, sagt er. Was er einmal werden will, wofür er sich gerade so plagt, weiß Qida noch nicht so genau. Am liebsten aber Fernsehstar. Archäologe oder Naturwissenschaftler wären auch gut. Den Wunsch seiner Eltern, später möglichst viel Geld zu verdienen, teilt der Junge nicht.

    Auch Qidas Eltern wissen, was Wettbewerb und hartes Arbeiten bedeuten. Im Restaurant der Mutter ist jeder Tisch besetzt. Sie nimmt sich nur kurz Zeit. Ihr Mann, Qidas Vater, ist nicht hier. Er hat ein Geschäft für Autozubehör. Beide sind vom Dorf in die Stadt gekommen. An eine gute Schulbildung oder gar ein Studium war für sie nicht zu denken. Aus diesem Grund wünschen sie sich das nun für ihren Sohn und sind deshalb auch bereit, 600 bis 800 Euro im Jahr für die weiterführende Schule zu bezahlen. Das ist ein Familien-Monatseinkommen, sagt die Mutter Guo Zhidan.

    "Das ist eine strategische Investition. Der Junge soll eine gute Bildung bekommen und was lernen. So überlebt er besser in der Gesellschaft, nicht wahr?! In einer guten Schule sind die Lehrmethoden und die Materialen auch gut. Wenn er in eine mittelmäßige Schule geht, dann wird auch sein Wissen mittelmäßig bleiben. Deshalb wollen wir ihn in eine gute Schule schicken."

    Den Druck, der auf den Schultern ihres Sohnes lastet, nimmt sie in Kauf.

    "Alle Schulen geben so viele Hausaufgaben. Manchmal tut mir Qida Leid. Aber ich kann es doch nicht ändern. Wenn ich ihn da mit seinem Berg Hausaufgaben sitzen sehe, möchte ich ihm am liebsten helfen. Aber das geht ja nicht. Er braucht die Hausaufgaben ja auch, um zu lernen. Wenn er so unter Druck steckt, geht es auch mir schlecht. Ohne den Druck wäre er sicher glücklicher. Aber durch den Wettbewerb wird er andererseits auch besser."

    Der Wettbewerb bringt Leistung hervor, aber nicht alle halten ihm stand. 6,5 Prozent der chinesischen Oberschüler, so eine Studie der Peking-Universität, hatten schon einmal ernsthafte Suizidpläne in ihrem Leben. 20 Prozent spielten zumindest mit dem Gedanken, sich umzubringen. Der Druck lastet schwer auf den Kindern: Druck durch den Wettbewerb, finanzieller Druck, Druck durch die Eltern, die oft auch an ihre eigene Altersversorgung denken. Wird aus dem Kind etwas, werden auch sie später besser leben. Die Lage verschärft sich noch durch die Einzelkind-Kultur in China.

    Qidas Vater möchte den Jungen eines Tages mal zum Studium ins Ausland schicken. Das koste zwar viel Geld, wäre aber eine gute Investition, Qidas Zukunft ist noch offen, und die Chancen stehen nicht schlecht. Damit geht es ihm besser als vielen anderen Kindern im heutigen China. Die Situation auf dem Land etwa erlaubt es vielen gar nicht erst, am Bildungswettbewerb teilzunehmen.


    Die Landschule
    Schlaglöcher. Die Straße ist kaputt, eine Art Schotterpiste, die am Fluss entlang führt. Gleich nebenan entsteht eine neue Straße mit moderner, glatter Fahrbahn. Das wird wohl eine kleine Revolution werden, hier hinten in den Bergen der Provinz Guangdong im Süden Chinas. Doch noch ist es nicht so weit. Noch ist die Gegend schwer erreichbar, ziehen Ochsen die Pflüge auf den Feldern am Wegesrand. Landausflug in die die Kleinstadt Heyun:

    In der Oberschule beginnt der Nachmittagsunterricht. Physikstunde in der achten Klasse.

    56 Jungen und Mädchen sitzen an dicht gestellten alten Zweier-Holzpulten. Sie sprechen die Gleichungen an der Tafel nach. Es ist kühl im Raum, höchstens 15 Grad. An der Decke sind Wasserflecken zu erkennen, an der Wand hängt ein Bild von Karl Marx. Der Lehrer steht etwas erhöht auf einer Plattform vor der Tafel. Tafel und Kreide, das ist alles, was ihm zur Verfügung steht. Keine Geräte für physikalische Versuche, kein Overhead-Projektor, von anderen multimedialen Hilfsmitteln ganz zu schweigen.

    "Die Lage hier ist viel schwieriger als in der Stadt, vor allem wegen der Schülerzahlen. Die sinken hier stark. Wer etwas Geld hat, zieht weg. Die Armen bleiben zurück. Unsere Schule ist klein, und wir kriegen nur wenig Unterstützung von der Regierung. Sie zahlt die Lehrergehälter und 204 Yuan (20 Euro) pro Schüler und Jahr. Wenn wir uns nicht verschulden wollen, können wir keine Renovierungen durchführen. Viele Schulen sind verschuldet."

    Li Yunfei ist der Schulleiter. Ein freundlicher Mann. Seine Arbeit hier, das ist der tägliche Kampf um Qualität, der Versuch, den Kindern trotz der widrigen Umstände einen guten Unterricht zu geben. Seine Schule hatte in ihren besten Zeiten einmal 700 Schüler. Heute sind es wegen der Abwanderung nur noch 450, und es könnte sein, dass die Schule bald ganz geschlossen wird, befürchtet er. Deshalb wolle die Regierung hier wohl nicht mehr investieren. Doch die Schule ist auch Internat und hat deshalb eine große soziale Bedeutung für den Ort.

    "Die meisten Leute hier sind Bauern. Viele arbeiten in den Städten. Dann sind es oft nur die Großeltern, die sich um die Kinder kümmern. Die Hälfte der Schüler wohnt hier in der Schule, oft auch solche, die noch einen Elternteil in der Stadt haben. Das ist sinnvoll, weil wir uns besser darum kümmern, dass die Kinder auch lernen."
    27.000 Menschen sind in Heyun amtlich gemeldet. Tatsächlich wohnhaft sind allerdings nur 12.000, weniger als die Hälfte. Viele Eltern verlassen nämlich die Stadt und auch ihre Kinder, um anderswo arbeiten zu gehen.

    Oft sehen sie Tochter oder Sohn nur einmal im Jahr. Herzlos, könnte man meinen. Dem entgegen steht folgende Rechnung. Ein Bauer bringt es auf maximal 70 Euro im Monat, ein Wanderarbeiterpaar, wenn es gut läuft, auf 200 bis 300 Euro. Die Eltern ziehen in die Städte, um ihren Kindern eine gute Bildung zu bezahlen, denn Bildung ist in China der Schlüssel zum sozialen Aufstieg, und zwar für die gesamte Familie. Dieser Zusammenhang ist allen bewusst und zieht sich durch alle Schichten. Chinas Alphabetisierungsrate liegt bei über 90 Prozent, damit weit vor der in Indien beispielsweise.

    Doch die ländlichen Gebiete sind arm. Und die Armut hat Folgen für die Finanzierung der Schulen. Zwar fördert die Regierung mittlerweile die ländliche Entwicklung. Doch 1994 wurde das Steuersystem dezentralisiert und die Schulen werden seither vor allem von den Kommunen finanziert. Davon gibt es reiche und arme. Die großen Städte geben im Durchschnitt 80 Prozent mehr Geld für ihre Grundschulen aus als die ländlichen Gemeinden. Und damit nicht genug. Cheng Kai-ming von der Universität Hongkong:

    "Viele zusätzliche Lehrer, zum Beispiel, werden heute aus den lokalen Gewerbesteuern bezahlt. Und Schulgebäude werden oft durch Spenden errichtet. Die Regierung zahlt dann, zum Beispiel, pro zehn gespendeten Yuan einen Yuan dazu oder zwei pro fünf Yuan. Für die laufenden Kosten, etwa Kreide oder Instandhaltung muss die Schule selber aufkommen. Manche Schulen betreiben daher zum Geldverdienen ganze Fabriken oder bewirtschaften Wälder. Das heißt aber: Je ärmer eine Region ist, desto weniger solche Möglichkeiten hat eine Schule. Wenn alle arm sind, spendet niemand. Wenn keine Industrie da ist, kommt keine Gewerbesteuer ein, mit der man mehr Lehrer bezahlen könnte. Wer arm ist, ist arm. Das erklärt vieles. Das ist fast über Nacht so gekommen mit der Dezentralisierung."

    Während der ersten neun Jahre müssen Eltern in China keine Schulgebühren bezahlen. Trotzdem kostet Schule natürlich: Bücher, Schreibwaren, Verpflegung und gegebenenfalls Übernachtung im Internat. In der Schule in Heyun zum Beispiel fallen für die tägliche Verpflegung ohne Übernachtung etwa 23 Euro im Monat an. Für viele Familien ist das ein enormer Kraftakt.

    Li Yufei, der Schullleiter, zeigt die Schlafräume. Der Eindruck ist ziemlich schockierend: zusammengezimmerte Etagenbetten aus Holz, fleckiger brüchiger Putz, ein kleines vergittertes Fenster. Das Ganze erinnert eher an einen Viehstall. Sein größter Wunsch ist, sagt Li Yunfei, alles zu renovieren. Die Schüler tun ihm Leid. Doch er hat kein Geld.

    "Wir wohnen gar nicht gut - wir sind 30 Mädchen in einem Raum. Die Luft ist immer sehr schlecht da."

    Eine der Schülerinnen in Heyun ist Li Xiaoling. Die 15-Jährige träumt von einem Computer. Auch sie möchte den Sprung in die Oberstufe gern schaffen. Dafür will sie hart lernen, sagt sie, vor allem, um ein Stipendium zu bekommen. Denn die Oberstufe kostet Schulgeld und anders als Qida können sich die Eltern von Li Xialoling das kaum leisten.

    "Ich möchte mal Englisch-Übersetzerin werden. Ich würde gern etwas Nützliches machen. Das ist mir wichtig. Wenn ich mich sehr anstrenge, klappt das. Bildung kann das ganze Leben verändern."

    Xiaoling möchte weg vom Land, will in einer großen Stadt leben. Doch wie realistisch sind diese Wünsche? Nur etwa jeder zehnte Schüler der Oberschule im ländlichen Heyun wird es einmal auf eine Universität schaffen, sagt einer der Lehrer hinter vorgehaltener Hand. Das liegt weit unter dem Landesdurchschnitt. Stadtkinder sind klar im Vorteil, haben die bessere Schulbildung und in der Regel finanziell besser gestellte Eltern.

    Der Mathematiklehrer Cheng Zifeng stammt selber aus Heyun. Er wollte nach dem Studium hierher zurück - aus Idealismus. Das Größte für ihn ist, wenn es seine Schüler in die Oberstufe schaffen. Dafür kämpft er gegen viele Widerstände. Manche Eltern nämlich brauchen ihre Kinder als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder haben kein Geld für einen teuren Schulbesuch.

    "Wir müssen mit den Leuten reden und sie überzeugen, dass sie ihre Kinder in die Oberstufe schicken. Wirtschaftliche Schwierigkeiten sind sicher ein drückendes Problem für den Moment. Für eine gute Arbeit in der Zukunft müssen die Kinder aber jetzt hart lernen. Es gibt ja auch die Möglichkeit, dass der Schulleiter ein Stipendium besorgt, damit die Kinder ihre Bildungslaufbahn beenden können."

    Auch Lehrer Cheng hat Sorge, dass die Schule in Heyun geschlossen werden könnte. Dann müssten die Kinder immer in die nächstgrößere Stadt fahren, was die Kosten zusätzlich erhöhen würde. Und noch mehr Menschen würden aus Heyun wegziehen: In die großen Städte, so wie das Kindermädchen Yu Wei es einst tat.


    Kindermädchen
    Die kleine Yunna ist begabt. Die Anderthalbjährige kann noch kaum sprechen, dafür aber schon ordentlich singen. Bald soll sie darin unterrichtet werden, denn Talent muss man frühzeitig fördern, sagt die Mutter. Auch das englische Alphabet ist kein Problem für die Kleine mit dem Pilzkopf.

    Hoch oben in einem neuen Pekinger Wohnturm. Die Familie besteht aus vier Personen. Die Mutter ist Lehrerin. Der Vater arbeitet in der Immobilienbranche. Die Familie gehört zur oberen Mittelschicht. Neue Eigentumswohnung, Flachbildfernseher, ein Foto vom gerade erworbenen Mittelklassewagen als Bildschirm-Hintergrund auf dem Laptop. Das vierte Familienmitglied ist Yu Wei, das Kindermädchen. Sie wohnt mit der Kleinen im Kinderzimmer. Kindermädchen sind etwas ganz Normales im heutigen China. Meist sind es Frauen vom Land, die in die großen Städte der Küste gezogen sind, sogenannte Wanderarbeiterinnen. Yu Wei stammt aus der armen Provinz Guangxi im Südwesten. Von einer Frühförderung, so wie es ihr kleiner Schützling gerade erfährt, kann die 24-Jährige nur träumen:

    Beim Spaziergang erzählt sie.

    "Ich komme aus einem armen Ort. Trotzdem mag ich ihn, er ist ja mein Zuhause. In die Stadt bin ich nur gezogen, weil ich dazu gezwungen war. Ich habe die Schule abgebrochen, da war ich 15. Einer musste ja Geld für die Familie verdienen, weil meine Mutter sehr krank wurde. Sie muss behandelt werden, und die Lebensumstände sind nicht gut dort."

    Umgerechnet 100 Euro im Monat verdient Yu Wei als Kindermädchen plus Nebenjobs. Das Geld schickt sie fast komplett ins Dorf zur Familie. Der Vater ist tot, die Mutter schwer herzkrank. Und dann sind da noch die beiden jüngeren Brüder. Der eine besucht die Oberschule, der andere studiert an der Universität. Das allein kostet 1200 Euro im Jahr. Yu Wei finanziert die Ausbildung ihrer Brüder mit, indem sie selbst darauf verzichtet. Doch sie klagt nicht, im Gegenteil. Ihre Chefin, betont sie, komme aus dem selben Dorf wie sie und behandele sie wie ein Mitglied der Familie. Anderen Kindermädchen ginge es viel schlechter, zum Beispiel einer Freundin.

    "Sie darf nicht mit der Familie zusammen essen. Sie muss in der Küche essen. Sie darf ihre Wäsche nicht auf dem Balkon trocknen, sondern nur in ihrem Zimmer. Aber das Zimmer ist sehr dunkel, ohne Fenster. Ich bin froh, dass ich bei einer guten Familie arbeite. Zuhause haben wir einen Computer, den ich benutzen darf. Es ist sehr schwer, so gute Arbeitgeber zu finden. Ich darf zum Beispiel abends auch noch Nebenjobs haben. Andere dürfen das nicht. Und ich darf nebenher lernen, was ich mag, weil ich doch nur so kurz die Schule besucht habe."

    Yu Wei ist eine von 200 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern in China. Dieses unvorstellbar große Heer, das zahlenmäßig so groß ist wie die Bevölkerungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens zusammengenommen, ist eine der großen Herausforderungen für das Bildungssystem des Landes. Und das liegt vor allem an den Kindern der Wanderarbeiter. Sie machen ein Fünftel aller chinesischen Grundschüler aus. Der eine Teil von ihnen lebt getrennt von den Eltern in deren Heimatgemeinde. Wenn sie Glück haben, kümmern sich Verwandte um sie . Wenn nicht, wachsen sie ohne Familie in Internaten wie in Heyun auf.

    Der andere Teil der Kinder lebt mit den Eltern in der Stadt. Doch Schulbildung ist auch hier oft nicht gewährleistet, was daran liegt, dass Wanderarbeiterkinder lange kein Recht darauf hatten, die öffentlichen Schulen einer fremden Stadt zu besuchen. In Eigeninitiative gründeten die Eltern Privatschulen, die oft aber sehr schlecht sind. Allein in Shanghai sollen es über 500 sein. Viele Kinder bleiben jedoch ganz ohne Unterricht. Mittlerweile hat sich die Gesetzeslage zwar geändert, sagt Cheng Kai-ming von der Universität Hongkong, aber von Chancengleichheit könne noch keine Rede sein:

    "Rechtlich betrachtet ist das Problem gelöst. Die Regierung hat festgelegt, dass die örtlichen Verwaltungen die Wanderarbeiterkinder gleich behandeln müssen. Aber in der Praxis sieht es anders aus. Es gibt da so ein Viertel in Peking, Mittelschicht. Da sind 50 Prozent der Schüler Wanderarbeiterkinder. Deren Schulbildung kostet die Kommune viel Geld, was Widerstand hervorruft. Außerdem rümpfen viele die Nase über diese Landkinder, die angeblich die Kultur der Schule verdürben. Die Regierung versucht wirklich viel. Sie könnte diesen Schulen einfach mehr Geld geben. Doch dann würde man wiederum Ressourcen in reiche Gegenden lenken, die eigentlich für die armen Provinzen gedacht waren. Es ist ja das Ziel, den armen Gegenden zu helfen."

    Dies auch schon deshalb, damit weniger Menschen - so wie das Kindermädchen Yu Wei - in die berstenden Großstädte ziehen. Durch den ständigen Weggang junger Leute wird das Stadt-Land-Gefälle zementiert. Die Unterschiede sind frappierend. Auch Yu Wei erinnert sich noch gut daran, wie es war, als sie zum ersten Mal aus ihrem Heimatdorf in die Hauptstadt Peking kam.

    "Ich bin zum ersten Mal Taxi gefahren. Zum ersten Mal habe ich Hochstraßen gesehen, habe Sachen gegessen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich konnte kaum glauben, wie viele Menschen hier nachts unterwegs sind. Und dass die Leute sich hier beim Friseur die Haare schneiden lassen. Bei uns im Dorf machen wir das immer selbst. Das Leben hier ist wunderbar."

    Sie will nicht mehr weggehen aus der Stadt. Ihr Traum ist es, hier einen Beruf zu erlernen, eine Ausbildung zu machen. Sekretärin, das wäre was, sagt sie. Doch dafür bräuchte sie mehr Geld, müsste noch mehr Nebenjobs annehmen. Es bleibt schwierig für Yu Wei.


    Wissenschaft und Studium
    Rundgang durch die Molekularpathologie im Südkrankenhaus in Guangzhou, der Millionenmetropole am Perlfluss im Süden des Landes Geräte, Maschinen, Labore. Es herrscht viel Betrieb auf den Fluren. In einem Raum sitzen eng beieinander acht Studenten in weißen Kitteln um einen Tisch. Jeder guckt in ein Mikroskop. Alltag in einem Universitätsklinikum, das die Größe eines ganzen Dorfes hat. Ding Yanqing ist hier Professor. Derzeit arbeitet er vor allem im Bereich Onkologie, betreibt Metastasenforschung. Sein Mitarbeiterstab umfasst 105 Personen: Studierende, Doktoranden und Jungwissenschaftler. Ding ist sehr stolz auf seine Abteilung und das hört man ihm auch an:

    "Unsere Forschungsgruppe ist führend in der Pathologie in China. Seit 2002 haben wir jährlich drei bis fünf nationale Drittmittelzuweisungen bekommen, 23 insgesamt. Das hat keiner unserer Wettbewerber geschafft. Da stehen wir an der Spitze. In diesem Jahr haben wir uns für elf beworben, davon fünf bekommen. Das ist eine Erfolgsquote von 46 Prozent. Ich glaube, diese Zahlen stehen für sich."

    Ding Yanqing ist ganz offensichtlich ein renommierter Wissenschaftler in China. Er hatte Glück, war zur rechten Zeit jung. Mit dem Medizinstudium begann er im Jahr 1970, als die schlimmsten Jahre der Kulturrevolution gerade vorbei waren. Langsam normalisierte sich damals auch das akademische Leben wieder, das für einige Jahre quasi komplett zum Erliegen gekommen war. Ding gehörte zu den ersten, die nach diesem, dem großen Einschnitt, überhaupt wieder an eine wissenschaftliche Karriere denken konnten. Es war ein Neuanfang. Stück für Stück arbeitete er sich hoch bis zur Professur. Den bisherigen Gipfel seines Erfolgs verdankt er im Grunde einer medizinischen Katastrophe. Im Frühjahr 2003 brach in der Provinz Guangdong, deren Hauptstadt Guangzhou ist, die Infektionskrankheit SARS aus und verbreitete sich von hier epidemieartig nach Hongkong, aber auch nach Übersee aus. Ding war direkt am Ort des Geschehens und machte sich an die Arbeit. Seine SARS-Studien schafften es in die besten Medizin-Fachzeitschriften der Welt. Chinesische Wissenschaft auf der internationalen Bühne:

    "In den vergangenen 20 Jahren, mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas, hat die chinesische Wissenschaft große Fortschritte gemacht. Es kommen viele ausländische Geschäftsleute und Unternehmen ins Land, von denen wir viel lernen können. Anfangs war die Entwicklung in der chinesischen Wissenschaft langsam. Doch mittlerweile ist China auf manchen Gebieten führend, zum Beispiel in der Raumfahrt, beim Militär oder in den Lebenswissenschaften."

    Chinas Entwicklung im akademischen und wissenschaftlichen Bereich ist tatsächlich rasant. Die Regierung setzt auch hier auf Wettbewerb. Die besten bekommen das meiste staatliche Geld. Auch China hat eine Exzellenzinitiative zur Etablierung von Elitehochschulen, zwei sogar. Hier heißen sie "211" und "985". Die 211-Initiative soll zunächst einmal gut 100 Universitäten miteinander vernetzen und auf internationales Niveau bringen. Aus dieser Gruppe werden dann mit gezielter Förderung durch das 985-Programm bis 2020 etwa ein Dutzend Top-Unis hervorgehen. Diese sollen dann zu den Besten der Welt gehören, so lautet das Ziel. Noch ist man aber nicht so weit. Noch sind es nur einzelne Bereiche, in denen Exzellenz zu finden ist, sagt Armin Krawisch, Direktor des Chinesisch-Deutschen Zentrums für Wissenschaftsförderung in Peking. Seine Einrichtung wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Hälfte getragen und unterstützte damals auch Professor Dings SARS-Projekt mit gut 40.000 Euro.

    "In allen Ländern, die sich sehr stark entwickeln, wie das jetzt der Fall ist in China, besteht natürlich ein sehr großes Interesse daran, erst mal sozusagen die vorhandenen Probleme im Land zu lösen. Und das bedeutet, dass die anwendungsnahe Forschung eher prioritär gesehen wird. Es geht natürlich darum, dass man dann schauen kann im Bereich der Landwirtschaft: Wie lassen sich Qualitäten verbessern, wie lassen sich Erträge steigern? Im Bereich der Technologie auch. Im Bereich der Medizin ebenfalls. Es heißt nicht, dass hier keine Grundlagenforschung betrieben wird. Aber dennoch ist es oft so, dass es hier eine Kombination gibt aus grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung und dass dieser Bereich etwas stärker hier ins Zentrum rückt."

    Die chinesischen Naturwissenschaften seien stark. Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie. Aber auch Stadtentwicklung und Wasserwirtschaft. In verschiedenen Bereichen hat China bereits jetzt international Anschluss. Großes Vorbild sind die USA. Bis 2020 will China zu den großen Wissenschaftsmächten gehören. Dafür lernt es vom Ausland, öffnet es sich Kooperationen mit Universitäten und Forschungseinrichtungen in vielen Ländern. Was dort nicht selten mit Argwohn beobachtet wird. Auch die Humboldt-Universität in Berlin kooperiert mit ihrer Partnerhochschule in Peking. HU-Präsident Christoph Markschies:

    "In gewissem Sinne stabilisiert alle Kooperation auch ein Stück weit die Konkurrenz. Das muss man, glaube ich, sehr nüchtern sehen. Aber zu der Globalisierung gehört, dass Partner erwachsen, die gleichzeitig auch Konkurrenten sind. Das ist, glaube ich, etwas, woran sich alle Universitäten gewöhnen müssen, diesen schwierigen Mittelweg zwischen Kooperation und Konkurrenz zu gehen. Aber wir wissen zum Teil so wenig von den chinesischen Universitäten, dass wir lange vor der Gestaltung dieses Mittelwegs stehen."

    In nie gekannter Zahl studieren Chinesen derzeit außerhalb ihrer Landesgrenzen. Die Regierung fördert diese Mobilität und vergibt pro Jahr 5.000 Auslandsstipendien für Studierende und Jungwissenschaftler. Auch von Ding Yanqings Studierenden sind gerade fünf im Ausland, in den USA und in Australien. Zwei weitere werden bald folgen. Wenn sie zurückkommen, stehen ihnen durch ihre internationale Erfahrung viele Tore offen, gute Arbeitsbedingungen und viel Unterstützung erwarten sie, denn sie zählen zur wissenschaftlichen Elite, die China nach vorn bringen soll.

    Ein Problem auf dem Weg zur wissenschaftlichen Spitzennation allerdings stellt noch die chinesische Art zu lehren und zu lernen dar. In allen Bildungsbereichen dominiert nach wie vor Frontalunterricht mit einem Lehrer, der traditionell eine starke Respektsperson ist. Der Schüler lernt und wiederholt, was der Lehrer sagt. Er stellt es aber nicht in Frage.

    Doch auch diese starren Lernmethoden brechen langsam auf im modernen China. In Ding Yanqings Büro geht es zu wie im Taubenschlag. Mitarbeiter und Studenten schauen herein, wollen etwas besprechen. Ding wirkt kollegial, unautoritär. Seiner Meinung nach hat sich mittlerweile das Lehrer-Studierenden-Verhältnis gewandelt.

    "Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zu früher. Da mussten die Studenten alles nachsprechen. Das ist heute anders. Wir versuchen, sie dazu zu bringen, dass sie aus eigenem Antrieb lernen, dass sie ihre Intelligenz entwickeln und ihren Horizont erforschen. Es geht darum, ihre Wissensbasis zu festigen und sie zum aktiven Lernen zu bringen. Da hat sich über die Jahre schon viel getan."

    Mit jedem jungen Forscher, der aus dem Ausland zurückkehrt, kommen auch neue Ideen und Umgangsformen in die chinesische Wissenschaft. Ding Yanqing findet das gut. Er hat Chinas Prozess der Öffnung in jedem Schritt miterlebt. Die Zeit davor wirkt im Rückblick umso düsterer. Eine ganze Bildungsgeneration blieb damals, während der Kulturrrevolution, auf der Strecke. Diese Generation lebt noch im heutigen China und lebt mit diesem Defizit. Von einem Beispiel in Hongkong wird hier gleich die Rede sein.


    Generation
    Tanz beim Afternoon Tea im prächtigen Foyer. Das Salonorchester auf einem kleinen Podest, elegante Damen und Herren paarweise davor. "The Peninsula" in Hongkong, das ist eine Hotellegende, das erste Haus am Platz. Erbaut wurde es als Grand Hotel in den Zwanzigerjahren, war bald eine der feinen Adressen im britischen Empire. Eine Nacht im Peninsula oder "The Pen", wie es seine Stammgäste liebevoll nennen, kostet mindestens 350 Euro. Die Suite mit Hafenblick sogar 700 Euro. Bauern von Heyun arbeiten dafür ein ganzes Jahr.

    Das Hotel hat Profitänzer engagiert. Sie sollen das Niveau heben und gut aussehen. Einer von ihnen ist Sunny Tsoi. Leichtfüßig führt er seine Partnerin um die großen Säulen herum. Sunny Tsoi tanzt heute für die Reichen und gehört selbst ein bisschen zu ihnen. Mit seiner großen Tanzschule ist er ein Teil der guten Hongkonger Gesellschaft. Was kaum jemand weiß: Sunny Tsoi hatte ein Leben vor diesem. Er ist ein Kind der Kulturrevolution.

    "Ich habe wegen der Kulturrevolution keine gute Bildung bekommen und konnte nur kurz zur Schule gehen. Ich habe gern gelernt, aber das war kaum möglich. Selbst wenn wir zur Schule gingen, haben wir da nur den halben Tag verbracht. Nachmittags waren wir auf dem Feld oder in der Fabrik beim Arbeiten. Das ist sehr traurig. Ich durfte nicht lernen, als ich jung war. Aber in gewisser Weise war die Kulturrevolution auch gut für mich. Sie hat mich abgehärtet. Ich kann mich leichter auf schwierige Situationen einstellen."

    Sunny Tsoi wurde 1958 geboren. Sein Vater, ein Ingenieur, und seine Mutter, eine Hausfrau, lebten damals noch in Indonesien als Teil der chinesischen Minderheit. 1960 folgten sie begeistert Mao Zedongs Ruf ins chinesische Mutterland zu kommen und zogen nach Yunnan in den Südwesten. Als die Kulturrevolution losbrach, 1966, war Sunny noch ein Kind. Die Schulen wurden geschlossen. Und als sie wieder öffneten, war nichts mehr wie vorher. Es fehlten Lehrer. Viele waren angegriffen und verjagt worden. Der Lehrplan war umgekrempelt und mehr auf revolutionäre Erziehung denn auf Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten ausgerichtet. Das Bildungswesen sollte den Unterricht ab sofort mit produktiver Arbeit verbinden.

    "Die Lehrer immerhin waren sehr engagiert. Die waren großartig, die wollten lehren. Aber wegen der Umstände konnten sie das kaum tun. Vor allem als ich nach Hongkong kam, merkte ich, dass meine Bildung mangelhaft war. Als ich dann hier war, nutzte ich jede Gelegenheit zu lernen, die sich bot."

    Sunny Tsoi träumte schon als Jugendlicher davon zu tanzen. Ein weiterer Traum war, Unternehmer zu werden. Von diesen geheimen Wünschen erzählte er natürlich niemandem, das wäre gefährlich gewesen. Nach der Schule zwischen 1976 und 1979 musste Sunny Tsoi zur obligatorischen Umerziehung aufs Land, so wie fast alle städtischen Jugendlichen. Er wollte eigentlich lieber studieren, doch dafür war der Landaufenthalt Voraussetzung. Für viele junge Chinesen waren das harte Jahre. Sunny Tsoi konnte sie auch genießen.

    "Bei der Abreise gab es ein Fest. In dem Dorf, in das wir fuhren, hatten die lokalen Behörden extra ein Gebäude für uns Stadtjugendliche gebaut. Das war sehr schön. Wir lebten da wie eine große Familie. Wir kochten da, haben Wasser gepumpt und Gemüse angebaut. Das war eine glückliche Zeit."

    Für China und sein Erziehungssystem war die Kulturrevolution allerdings eine Katastrophe. Die Bildungseinrichtungen wurden 1966 geschlossen. Die meisten Universitäten öffneten vier Jahre später wieder ihre Tore. Die alte intellektuelle Schicht, Trägerin der Kultur- und Bildungstraditionen, war ihrer Positionen enthoben, verängstigt oder gar liquidiert. Eine ganze Generation wurde richtiggehend ihrer Bildungschancen beraubt. Erst Ende der 70er Jahre wurden die letzten maoistischen Erziehungsmethoden, wie etwa die Umerziehung auf dem Land, wieder abgeschafft. Heute spricht man in China deshalb auch von der "verlorenen Generation". Denn das neue boomende China, das mit Deng Xiaoping in den 80er Jahren entstand, wusste mit diesen schlecht oder gar nicht ausgebildeten Menschen wenig anzufangen. Viele leiden heute noch unter ihrem Bildungsdefizit, schlagen sich durchs Leben. Doch wahrgenommen werden sie kaum noch von der Gesellschaft, schildert Cheng Kai-ming, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hongkong:

    "Ich würde sagen, mit dem Lauf der Geschichte wird diese Generation vergessen. Und zwar sehr bald. Das Fehlen dieser Generation, das spürte man in den Achtzigerjahren, als es plötzlich keine Wissenschaftler gab, keine Ingenieure und sehr wenige Intellektuelle. Aber das ist fast schon vergessen. Das ist vielleicht auch schade. An die Kulturrevolution sollte man erinnern. Es war ein riesiges Menschenexperiment, das keiner wiederholen möchte. Aber es gibt immer noch keine systematische und intellektuelle Analyse der Kulturrevolution. Was verständlich ist. Für alle, die sich erinnern können, ist das ein sehr emotionales Thema."

    Als Sunny Tsoi 1979 vom Landeinsatz zurückkam, durfte er zwar studieren, jedoch nicht frei ein Fach auswählen. Zugedacht wurde ihm politische Wissenschaft. Da ging es vor allem um Mao und seine Worte. Das gefiel Sunny Tsoi nicht, er brach das Studium ab. Über gute Kontakte bekam er einen Job als Arbeiter in einer Fabrik. In dieser Zeit fielen ihm Fotos von Hongkong in die Hände. Ab dem Moment wusste er, dass er die Volksrepublik verlassen wollte. Sein Vater stellte einen Ausreiseantrag für den Sohn, der sieben Jahre lang geprüft und schließlich bewilligt wurde. 1989, im Alter von 31 Jahren, kam Sunny Tsoi ins damals noch unter britischer Hoheit stehende Hongkong.

    "Das war großartig. Das Leben hier war so gut. Die Leute trugen schöne Kleider, hatten gutes Essen. Über all die hohen Gebäude und Verkehrsampeln. Gleich mein erster Eindruck war fantastisch. Die Leute aßen immer Fleisch. In China wurden Lebensmittel damals noch zugeteilt. Wir hatten nur 600 Gramm Fleisch im Monat. In Hongkong konnte ich Fleisch essen, wann immer ich wollte. Das war wunderbar."

    Sunny Tsoi musste ganz von vorn anfangen. Das war der Moment, als er merkte, wie unzureichend seine Schulbildung gewesen war. Er fing an, das verpasste Wissen aufzuholen, zu lernen, erfüllte sich den Wunsch zu tanzen, baute schließlich seine eigene Tanzschule auf. Er wurde also gleichzeitig Unternehmer und Tänzer und erfüllte sich damit seinen Jugendtraum.

    Wenn er über die Zeiten von damals spricht, tut Sunny Tsoi das ohne Bitterkeit. Viele Leute seiner Generation berichten nicht gern über diese Erlebnisse. Tsoi tut es auch nicht oft. Und wenn er wieder über die Tanzfläche im Penisula schwebt, will man ihm die Geschichte kaum glauben.


    Der Karrierestudent
    Ganz unten in der Swire Hall ist die Cafeteria, wo sich alle treffen. Die Swire Hall ist ein Studentenwohnheim an der Universität Hongkong, hoch oben am Hang gelegen mit schönen Ausblicken auf den Victoria Harbour. Im Wohnheim leben vor allem ausländische Studenten, auch viele Festlandchinesen. Die gelten in Hongkong nämlich ebenso als Ausländer. Dai Ming ist einer von ihnen. Der 21-Jährige ist hoch gewachsen, trägt Sportkleidung und Rucksack.

    "Ich komme aus der Stadt Yangzhou in der Provinz Jiangsu. Die liegt bei Shanghai. Ich bin seit 2006 in Hongkong, seit anderthalb Jahren."

    Seit anderthalb Jahren, das stimmt nicht ganz. Zwischenzeitlich war Dai Ming noch ein halbes Jahr in Canberra, Australien. Er hat an einem Austauschprogramm seiner Hongkonger Uni teilgenommen. Dai Ming studiert Wirtschaft und Finanzwesen. Nächstes Jahr macht er seinen Bachelor-Abschluss. Daran anschließen möchte er einen Master, wenn möglich in den USA, vielleicht auch noch eine Promotion. Investmentbanker, das ist sein Traumberuf. In der Finanzdrehscheibe Hongkong ist er damit schon mal richtig. Schließlich trifft man hier Investmentbanker abends zu Hauf in den teuren Clubs. Sie gelten als die reiche Elite unter den Bankern. Vielleicht kommt er eines Tages zum Arbeiten zurück, erzählt Dai Ming. Unwahrscheinlich wäre es nicht, denn der junge Chinese ist zielstrebig

    "Zunächst mal war ich nichts Besonderes. Ein ganz normaler festlandchinesischer Oberstufenschüler. Ich habe dann auch an der zentralen Universitätsaufnahmeprüfung teilgenommen. Was ich aber außerdem noch tat, war, dass ich mich an der Universität Hongkong beworben habe. Mit denen hatte ich dann ein Vorstellungsgespräch. Die fahren dafür durch 18 oder 20 Provinzen, vor allem durch die reicheren in China."

    Die Universität Hongkong, die HKU, sucht sich ihre Festlandstudenten ganz genau und mit hohem Aufwand aus. Im vergangenen Jahr bewarben sich auf die 250 Studienplätze für Chinesen nicht weniger als 12.000 Interessenten. Die Hochschule genießt einen sehr guten Ruf. Im Ranking der Times beispielsweise belegte sie im Jahr 2007 Platz 18 unter allen Hochschulen der Welt. Zudem liegt sie am geografischen Rande Chinas, bietet westliche Studienatmosphäre und -methodik. Unterrichtssprache ist Englisch, chinesischer Frontalunterricht unüblich. Durch zahlreiche Kooperationen mit Hochschulen in aller Welt bekommen die angehenden Akademiker zudem die Chance, internationale Studienluft zu schnuppern. Cheng Kai-ming, selbst Professor an der HKU, glaubt, dass die Festlandabsolventen der Uni Hongkong denn zu einer Art internationalen Elite für China werden könnten.

    "Der typische Karrierepfad geht so: Sie werden nach dem Studium von einem multinationalen Unternehmen rekrutiert. Sie arbeiten eine Weile in Hongkong, werden dann aber versetzt in die Zentrale nach New York oder London und so weiter. Und dann schickt man sie zurück zum Einsatz in Shanghai oder Peking. Die Arbeitgeber mögen diese Studenten sehr gern."

    "Eines Tages werde ich wahrscheinlich nach China zurückkehren. Aber ich habe noch nicht entschieden, ob das dann Festland-China oder Hongkong sein wird. Das hängt davon ab, welche Position ich bekommen kann und auch davon, wie sich die Lage in China entwickelt. Die Zukunft des chinesischen Finanzwesens sieht gerade gut aus. Wahrscheinlich gehe ich zurück. Das ist mir einfach am vertrautesten."

    Dai Mings Bindung an China ist stark. Er möchte deshalb auch eines Tages zurückgehen in seine heimatliche Provinz. Als jemand, der es zu etwas gebracht hat, argumentiert er, genieße er dort mehr Ansehen als im Ausland. Für China sind solche hochqualifizierten Rückkehrer Glücksfälle. Sie sind mit internationalen Standards und Gepflogenheiten vertraut, sind die treibenden Kräfte der Modernisierung - auf längere Sicht wohl auch in der Politik.

    Karrieren, wie die des Wirtschaftsstudenten Dai Ming, kostet - gemessen an chinesischen Verhältnissen - jedoch viel Geld. Knapp 7.000 Euro müssen seine Eltern für Studiengebühren und Unterkunft im Jahr bezahlen. Sie können sich das leisten. Beide sind Ärzte, gehören zur Mittelschicht. Und Dai Ming ist, wie üblich, das einzige Kind.

    Was ihn zu seiner internationalen Finanzkarriere antreibt? Dai Ming muss nachdenken. Geld, sozialer Status, das alles spielt wohl eine Rolle. Doch dann nennt er noch ein sehr chinesisches Motiv:

    "Ich bin wohl auch von meinen Eltern beeinflusst, auch von meinem Großvater. Mein Großvater kam vom Land und zog in die Stadt. Und er hat mir immer gesagt: Vom Land in die Stadt zu ziehen, ist ein Fortschritt. Von einer kleinen Stadt in eine große zu ziehen, ist ein weiterer Fortschritt. Und von dort in eine internationale Stadt oder ins Ausland zu ziehen noch einer. Der Fortschritt der Familie bedarf der Anstrengung mehrerer Generationen. Und deshalb, glaube ich, muss auch ich etwas für die Familie tun und ihr Vorankommen."

    620.000 Schulen und Universitäten, 25 Millionen Studierende, 180 Millionen Grundschüler, 200 Millionen Wanderarbeiter, 740 Millionen Landbewohner. Das ist das Umfeld, in dem Chinas Bildungspolitiker agieren. Die Herausforderungen sind immens und nicht ohne Risiko - warnt der Hongkonger Erziehungswissenschaftler Professor Cheng Kai-ming abschließend:

    "Die größte Herausforderung für das Bildungssystem in China: Für mich ist das der zu starke Pragmatismus. Das System schafft keine ganzen Menschen. Das Prüfungswesen besteht fort und wird sogar noch ausgeweitet. Das ist sehr schädlich. Und wegen dieses Pragmatismus gedeihen etwa die Sozialwissenschaften kaum. Die Geisteswissenschaften liegen geradezu am Boden. Die werden nicht unterdrückt. Sie wachsen einfach nicht, weil ihnen keiner Beachtung schenkt."