Es ist weit nach Mitternacht. Doch die Nähmaschinen in der Lifeng-Textilfabrik im südchinesischen Shaxi rattern immer noch. "Heute Extra-Schicht" hieß es am Morgen, und so sitzt die 17-jährige Yasmin seit 17 Stunden mit krummem Rücken auf einer Holzbank, eine Schere in der Hand. Vor ihr auf dem großen Tisch stapeln sich Jeanshosen. Yasmin nimmt sich eine nach der anderen vor und schneidet überflüssige Fäden ab. Ihrer Kollegin gegenüber fallen fast die Augen zu.
"Heute müssen wir die Nacht durcharbeiten."
"Ich weiß, es steht auf der Tafel am Eingang."
"Wir dürfen erst schlafen, wenn wir fertig sind."
"Die Schnallen schaffen wir aber heute Nacht nicht."
"Ich habe gehört, dass morgen noch mal rund 3000 Stück kommen. Dann kriegen wir wieder keinen Schlaf."
Um die übermüdeten Arbeiterinnen wach zu halten, verteilen die Aufseher Wäscheklammern. Damit sollen sich die Mädchen die Augenlider an den Brauen "hochstecken", um nicht einzuschlafen. 17-Stunden-Schichten sind die Regel, für umgerechnet acht Cent die Stunde - auch in China ein Hungerlohn. Wenn ein eiliger Auftrag aus Europa ansteht, wird durchgearbeitet, bis die bestellten Jeans fertig sind. So schildert der Regisseur Micha Peled in seinem Dokumentarfilm "China Blue" den Alltag in der chinesischen Textilfabrik Lifeng. Dort wird Kleidung zu Spottpreisen für große Markenfirmen in den USA und in Europa produziert. Die Konkurrenz ist hart: Shaxi hat sich zur Hochburg der Textilindustrie entwickelt, die Abnehmer haben die freie Wahl unter Hunderten von Zulieferern. Und die kämpfen um ihren Marktanteil und unterbieten einander bei den Arbeitskosten. An Arbeitern mangelt es nicht: Rund 200 Millionen Wanderarbeiter sind über fast jeden Job in den größeren Städten froh und akzeptieren für ein paar Yuan notgedrungen alles. So berichtet die Näherin Yasmin, dass sie teilweise monatelang kein Geld bekomme:
"Wir sollten unseren Lohn längst haben. Doch die Aufseher wissen nichts davon. Sie reden nur von dem dringenden Auftrag, der gekommen ist."
Die Näherinnen teilen sich zu zwölft einen Schlafsaal. Der erste Lohn wird einbehalten, als Kaution, damit die Frauen nicht gleich wieder kündigen. Wer nach zehn Uhr abends draußen erwischt wird, muss zwei Tageslöhne Strafe zahlen. Der Chef der Firma weist im Gespräch mit dem Filmemacher alle Kritik von sich und sagt, seine Arbeiter sollten dankbar sein, bei ihm und nicht bei der Konkurrenz nebenan zu arbeiten:
"Wenn sie Überstunden machen, bekommen sie gratis eine Mahlzeit, aber sie fälschen ihre Produktionszahlen. Ich habe zu den Arbeitern gesagt: Wenn ihr die Fabrik leiten würdet, würdet ihr die Dinge anders sehen."
Lifeng ist bei weitem kein Einzelfall, wie die Studien des Südwind-Instituts in Siegburg belegen. Das der evangelischen Kirche nahe stehende Forschungsinstitut hat in den vergangenen Jahren immer wieder die Arbeitsbedingungen in der chinesischen Textilindustrie untersucht und auf eklatante Missstände hingewiesen. Ingeborg Wick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Südwind-Institut. Sie sieht eine der Ursachen im immer härteren Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Seit dem Wegfall von Handelsschranken und Importquoten habe sich die Konkurrenz unter den Herstellern in Entwicklungs- und Schwellenländern enorm verschärft:
"Heute ist es so, dass auf dem Weltmarkt enorm niedrige Preise Usus sind, und die Preise immer stärker gedrückt werden im Wettbewerb. Irgendjemand bietet dann immer noch etwas billiger an. Und das baden die Beschäftigten aus."
Kaum ein europäisches Unternehmen produziert heute noch Textilien im eigenen Land. Ein Stundenlohn von umgerechnet acht Cent macht die Transportkosten allemal wett. Und so hat sich China in den vergangenen Jahren zum weltweit größten Exportland für Bekleidung entwickelt. Ein Viertel der gesamten Produktion kommt von dort. Auch in deutschen Kaufhäusern ist auf zahlreichen Etiketten "Made in China" zu lesen. Unter welchen Bedingungen sie hergestellt wurden, erfahren die Kunden nicht. Das System funktioniert über Zwischenhändler. Die deutschen Firmen haben mit den Herstellern keinen Kontakt. Ein Missstand, den Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen wie die Kampagne für Saubere Kleidung in den vergangenen Jahren immer wieder angeprangert haben. Besonders in die Kritik geraten ist vor kurzem der Aldi-Konzern, der fast jede Woche Jeans oder Pullover für 9,99 Euro im Angebot hat und der zu den größten Textil-Einzelhändlern Deutschlands gehört. Anlass ist eine Studie des Südwind-Instituts. Darin werden die Arbeitsbedingungen in fünf chinesischen Textilbetrieben, die Waren für Aldi herstellen, untersucht. Ingeborg Wick ist eine der Autorinnen:
"Wir haben Hinweise bekommen, dass diese Fabriken Aldi beliefern. Daraufhin haben wir unsere Partnerorganisationen gefragt, ob sie dort undercover Befragungen durchführen können. Und das ist dann so geschehen im letzten Frühjahr. Aus diesen Sicherheitsbedenken heraus und weil die Beschäftigten sonst zu keiner Aussage bereit gewesen wären, haben wir alles in diesem Bericht anonymisiert: die Namen der Beschäftigten, die Namen der Fabriken und die Namen der Verfasser des Berichts."
Das Ergebnis: In allen fünf Betrieben klagten die Angestellten über überlange Arbeitszeiten, einbehaltene Löhne und Kautionsforderungen. Und das sei noch längst nicht alles, sagt Ingeborg Wick:
"Kinder wurden vermittelt aus Schulen in die Fabriken. Ihnen wurde später von ihrem Lohn eine Vermittlungsgebühr abgezogen, die die Schulen erhalten haben. Beschäftigte haben sich nachts aus den fabrikeigenen Schlafsälen heraus geschlichen und sind dann, vorbei am Sicherheitspersonal, aus der Fabrik gegangen, weil sie befürchtet haben, eine offizielle Erlaubnis zum Kündigen nicht zu bekommen."
Das Südwind-Institut schickte Aldi ein Exemplar der Studie mit der Bitte um eine Stellungnahme. Der sonst so öffentlichkeitsscheue Konzern antwortete prompt:
"Wir sind uns als Unternehmen, das über seine Geschäftstätigkeit mit der ganzen Welt in Verbindung steht, sehr bewusst über die Verantwortung, die uns aus dieser Stellung erwächst. Dabei ist es uns selbstverständlich ein wichtiges Anliegen, dass die Produktion von Waren unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen erfolgt. (...) Ein direkter Kontakt zu Produzenten besteht nicht. Wir arbeiten hier im Vertrauen auf die Geschäftspraktiken unserer Partner. Dennoch empfinden wir angesichts der schwierigen Bedingungen in den Produktionsländern die Notwendigkeit, neben das Vertrauen in unsere deutschen Partner nun auch Formen der Kontrolle treten zu lassen. Wir würden uns freuen, Sie zu einem weiteren Dialog einladen zu dürfen."
Das Schreiben stammt von Ende März. Seither hat sich Aldi nicht wieder beim Südwind-Institut gemeldet. Und auch zu einem Interview mit dem Deutschlandfunk war das Unternehmen nicht bereit. Dennoch wertet Ingeborg Wick die Tatsache, dass Aldi überhaupt auf die Vorwürfe reagiert, als ersten Schritt in die richtige Richtung:
"Südwind und die Kampagne für Saubere Kleidung hofft, dass wir mit Aldi so weit kommen, dass tatsächlich ein effektives Engagement für die Verbesserung der Situation von Beschäftigten in Zuliefererländern erreicht wird, damit die Sozialstandards auch eingehalten werden."
Steter Tropfen höhlt den Stein - das ist die Strategie des Südwind-Instituts und der Kampagne für Saubere Kleidung. Das Aktionsbündnis besteht aus vorwiegend ehrenamtlichen Mitarbeitern, getragen von verschiedenen kirchlichen Organisationen und Gewerkschaften. Im europäischen Ausland, in den USA und in Australien gibt es ähnliche Netzwerke. Sie haben es sich zum Ziel gemacht, die Öffentlichkeit auf die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken der Billiglohnländer aufmerksam zu machen. Sie rufen im Internet und an Informationsständen dazu auf, Protest-E-Mails oder Postkarten an Unternehmen zu verschicken, die Textilarbeiter ausbeuten. Sie zielen mit einigem Erfolg auf das Image der Konzerne. Der Sportartikelhersteller PUMA etwa hat sich vor zwei Jahren darauf eingelassen, in Zusammenarbeit mit der Kampagne für Saubere Kleidung zwei seiner Zuliefererbetriebe in El Salvador überprüfen zu lassen. Der Tchibo-Konzern hat sich eine eigene Abteilung zugelegt, die sich um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kümmern soll. Der Discounter Lidl hat einen Verhaltenskodex entwickelt, der sich an den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen orientiert. Nur einige Beispiele, die belegen, dass die Unternehmen auf den Druck reagierten, sagt Christiane Schnura von der Kampagne für Saubere Kleidung:
"Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass sich die Textilindustrie dem Thema öffnet, das merkt man daran, dass die meisten Unternehmen auch versuchen, sich kontrollieren zu lassen, wobei es da viele Schwachpunkte gibt. Das Problem ist: Papier ist geduldig, wird dieser Kodex letztendlich auch umgesetzt? Und da haben wir das Problem, dass insbesondere bei diesen Sublieferanten die Kontrolle doch sehr mangelhaft ist."
Daher mag die Kampagne für Saubere Kleidung derzeit keinem deutschen Unternehmen eine Empfehlung aussprechen. Ihr Fazit: Kommt es zu Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den unabhängigen Kontrolleuren, stellen selbst verantwortungsbewusste Firmen die Projekte wieder ein. So habe auch Puma die Zusammenarbeit mit der Kampagne vorzeitig beendet, beklagt Christiane Schnura. Und die zuständige Managerin von Tchibo rühmt zwar in einer E-Mail an den Deutschlandfunk den Verhaltenskodex ihres Unternehmens. Sie ist nach mehrwöchigen Verhandlungen dann aber doch nicht für ein Interview zu haben - aus Termingründen. Ingeborg Wick vom Südwind-Institut hat eine andere Erklärung für das zögerliche Verhalten:
"Tchibo hat sich in Einzelfällen für Verbesserungen der Situation der Beschäftigten in Fabriken in Bangladesch eingesetzt, aber was die systematische Behandlung dieser Frage anbelangt, da ist also keineswegs nachgewiesen, was unabhängige Kontrollverfahren angeht und eine generelle Verbesserung der Situation der Beschäftigten, dass das schon eingetreten ist."
Immerhin haben fast alle großen westlichen Firmen mittlerweile interne Verhaltensregeln, so genannte "Codes of Conduct", aufgestellt. Maren Böhm ist Leiterin der Abteilung Gesellschaftspolitik bei Karstadt Quelle. Von ihrem Büro in Shanghai aus ist sie zuständig für die Zusammenarbeit mit über 20 Fabriken in Shanghai und Südchina.
"Dieser Code of Conduct legt bestimmte Bedingungen fest, die durch den Lieferanten eingehalten werden müssen. Dieser Code of Conduct ist Teil der Einkaufsbedingungen, das steht also in jedem Auftrag mit drin, dass der Lieferant sich verpflichten muss, diesen Code of Conduct einzuhalten. Und der Lieferant gibt uns auch das Recht, diesen Code of Conduct beziehungsweise dessen Einhaltung zu überprüfen."
Geprüft werden unter anderem Arbeitszeiten, Löhne, Hygiene und Sicherheit. Hält sich das Unternehmen an die auf dem Papier eigentlich vergleichsweise strengen chinesischen Arbeitsgesetze? Sind die Notausgänge frei zugänglich und Feuerlöscher vorhanden? Wer gegen die Regeln verstößt, dem droht der Verlust lukrativer Aufträge - was bei Karstadt Quelle in der Praxis allerdings noch nie der Fall war. Etwa alle zwei bis drei Jahre steht eine Prüfung an, sagt Maren Böhm. Unangemeldet kommen die Inspektoren allerdings nicht.
"Ein Audit dauert etwa ein bis zwei Tage. Sie müssen auf jeden Fall den Manager, also das Topmanagement, dabeihaben, und das muss auch seitens der Fabrik vorbereitet werden, die ganzen Dokumentationen, und deshalb werden das keine unangemeldeten Audits."
Ähnlich argumentiert auch die Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels, AVE. Deren Mitglieder haben sich mittlerweile alle einen Verhaltenskodex zur Sozialverantwortung zugelegt, der sich an den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation orientiert. Unangekündigte Audits seien jedoch nicht praktikabel, sagt AVE-Geschäftsführer Stefan Wengler. Außerdem ist er davon überzeugt, dass die Kontrolle der Sozialstandards auch so gut funktioniert:
"Zum Beispiel wenn Sie Kinderarbeit haben, und am Tag des Audits bleiben die Kinder zu Hause, sehen sie trotzdem, ob in dem Betrieb Kinder beschäftigt sind oder nicht, sei es an Näher-Arbeitsplätzen, an kinder-spezifischen Arbeitsplätzen. Das lässt sich nicht so leicht verbergen."
Im Film "China Blue" von Micha X. Peled bekommen die Zuschauer einen anderen Eindruck. Darin kommt eine ehemalige Aufseherin zu Wort, die von den Audits in der Lifeng-Textilfabrik in Shaxi berichtet:
"Der Chef gab uns einen Zettel, auf dem stand, was wir den Arbeitern sagen sollten. Die Inspektoren fragten uns, ob wir Pause machen durften, und wir mussten ja sagen, aber wir durften nicht mal auf die Toilette gehen. Ich verdiente 300 Yuan, aber ich musste sagen, dass ich 800 verdiene. Das war Betrug."
Und die Lifeng-Textilfabrik ist keine Ausnahme, betont Jörg Wuttke von der Handelskammer der Europäischen Union in China:
"Das Problem ist natürlich, dass die Angestellten von den Besitzern dieser Firmen aufgefordert werden, schlichtweg zu sagen, sie würden von acht bis sechs arbeiten und danach nicht mehr. Was in den meisten Fällen nicht stimmt, weil Überzeiten da sind. Also die Problematik ist wirklich: kommt man hinter diese Schicht von Lügen, die von den Fabrikbesitzern aufgebaut werden."
Ingeborg Wick vom Südwind-Institut geht davon aus, dass sich eine ganze Reihe von Audit-Instituten darauf spezialisiert hat, das soziale Gewissen westlicher Firmen mit Hilfe gefälschter Aussagen zu beruhigen. Es sind auch nicht immer nur die Unternehmen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Manchmal sind auch die Arbeiter bereit, Risiken einzugehen, um einen der begehrten Jobs zu ergattern. Geschummelt wird etwa bei den Altersangaben, so dass auch immer wieder Jugendliche in den Fabriken ausgemacht werden, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Aber Maren Böhm von Karstadt Quelle ist überzeugt: Die Auditoren, die für ihr Unternehmen tätig sind, kennen die gängigen Tricks der Zulieferer.
"Das ist ein Katz- und Maus-Spiel zwischen den Auditoren und den Fabriken. Man kann aufgrund vieler Sachen Missverhältnisse oder Diskrepanzen aufdecken. Beispielsweise wenn in den gefälschten Büchern dann steht, 300 Arbeiter haben um 9.04 Uhr eingecheckt, oder die Stempelkarten geben das her, dann wissen Sie genau, die Leute geben die Karten vorne beim Pförtner ab, der stempelt das für die und kein Mensch weiß, wann die tatsächlich rein gekommen oder raus gegangen sind."
Dass Inspektionen immer nur eine Momentaufnahme liefern können, das weiß auch Maren Böhm. Sie sieht jedoch vor allem die chinesischen Unternehmer in der Pflicht.
"Die Lieferanten müssen verstehen, dass das nicht eine lästige Pflicht ist die Gesetze einzuhalten, sondern sie müssen die Überzeugung entwickeln, dass es gut für das Unternehmen ist und dass sie sich und ihren Arbeitern wirklich langfristig was Gutes tun damit. Wenn jemand am Band sitzt, und der sitzt da 14 bis 16 Stunden, der kann sich einfach nicht mehr konzentrieren, am Ende des Tages kommt dabei schlechte Qualität raus."
Hinzu kommt nach Einschätzung der Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels ein weiteres Problem: Es gibt viel zu wenige Firmen in China, die in der Lage sind, Audits durchzuführen. Somit kann die AVE auch nicht garantieren, dass in allen Zuliefererfirmen die Sozialstandards eingehalten werden, sagt Stefan Wengler:
"Das wäre anmaßend. Wenn Sie überlegen, dass unsere Mitgliedsfirmen insgesamt 6.000 bis 7.000 Lieferanten haben, die ja noch gar nicht überprüft sind, sondern wir haben erst etwa 1.300 Zulieferbetriebe auditieren lassen. Und dass bei den verbleibenden 4.000 oder 5.000, oder wie viele es auch immer sein mögen, noch schwarze Schafe drunter sind, kann man nie ausschließen."
Das Südwind-Institut und die Kampagne für Saubere Kleidung geben sich mit der Erklärung nicht zufrieden. Aus ihrer Sicht hätten die Unternehmen durchaus die Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen in den Zuliefererbetrieben wirksam zu kontrollieren. Ingeborg Wick nennt die Sportartikel-Hersteller Adidas und Puma als Beispiel. Sie sind Mitglied in einer amerikanischen Initiative, die unangekündigte Audits durchführt. Diese stellt auch sicher, dass unabhängige Gewerkschafter bei den Kontrollen dabei sind. Gleiches gilt für den exklusiven Kleidungshersteller Hess Natur, der einer niederländischen Organisation mit ähnlichen Grundsätzen angehört. Auch das Argument, die Mehrkosten für angemessene Löhne und menschenwürdige Unterbringung verteuerten merklich den Kaufpreis, lässt Ingeborg Wick nicht gelten:
"In einem Bekleidungsstück ist der Lohnanteil einer Beschäftigten nicht höher als 0,4 bis 0,6 Prozent, manchmal ein Prozent. Daran wird klar, dass eine Verdopplung des Lohns kaum ins Gewicht fällt."
Keine Firma, die in Deutschland produziert, kann es sich erlauben, gegen das Arbeitsrecht zu verstoßen. Lässt sie ihre Waren dagegen im Ausland fertigen, ist das dem deutschen Gesetzgeber egal. Zwar hat die Bundesregierung sämtliche Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterzeichnet, für deren Umsetzung fühlt sie sich jedoch nur im eigenen Land zuständig. Auch gibt es für Textilien noch immer kein Siegel, das, wie beispielsweise bei Lebensmitteln, die Einhaltung von Sozialstandards garantiert. Verantwortungsbewussten Verbrauchern bleibt deswegen vorerst nur, etwa an die Firmen zu appellieren, nicht mehr 15 Prozent ihres Umsatzes in die Werbung zu stecken, sondern nur noch 14. Und stattdessen zu garantieren, dass die Arbeiterin, die die Jeans oder den Pullover genäht hat, dafür keine unbezahlte Nachtschicht einlegen musste.
"Heute müssen wir die Nacht durcharbeiten."
"Ich weiß, es steht auf der Tafel am Eingang."
"Wir dürfen erst schlafen, wenn wir fertig sind."
"Die Schnallen schaffen wir aber heute Nacht nicht."
"Ich habe gehört, dass morgen noch mal rund 3000 Stück kommen. Dann kriegen wir wieder keinen Schlaf."
Um die übermüdeten Arbeiterinnen wach zu halten, verteilen die Aufseher Wäscheklammern. Damit sollen sich die Mädchen die Augenlider an den Brauen "hochstecken", um nicht einzuschlafen. 17-Stunden-Schichten sind die Regel, für umgerechnet acht Cent die Stunde - auch in China ein Hungerlohn. Wenn ein eiliger Auftrag aus Europa ansteht, wird durchgearbeitet, bis die bestellten Jeans fertig sind. So schildert der Regisseur Micha Peled in seinem Dokumentarfilm "China Blue" den Alltag in der chinesischen Textilfabrik Lifeng. Dort wird Kleidung zu Spottpreisen für große Markenfirmen in den USA und in Europa produziert. Die Konkurrenz ist hart: Shaxi hat sich zur Hochburg der Textilindustrie entwickelt, die Abnehmer haben die freie Wahl unter Hunderten von Zulieferern. Und die kämpfen um ihren Marktanteil und unterbieten einander bei den Arbeitskosten. An Arbeitern mangelt es nicht: Rund 200 Millionen Wanderarbeiter sind über fast jeden Job in den größeren Städten froh und akzeptieren für ein paar Yuan notgedrungen alles. So berichtet die Näherin Yasmin, dass sie teilweise monatelang kein Geld bekomme:
"Wir sollten unseren Lohn längst haben. Doch die Aufseher wissen nichts davon. Sie reden nur von dem dringenden Auftrag, der gekommen ist."
Die Näherinnen teilen sich zu zwölft einen Schlafsaal. Der erste Lohn wird einbehalten, als Kaution, damit die Frauen nicht gleich wieder kündigen. Wer nach zehn Uhr abends draußen erwischt wird, muss zwei Tageslöhne Strafe zahlen. Der Chef der Firma weist im Gespräch mit dem Filmemacher alle Kritik von sich und sagt, seine Arbeiter sollten dankbar sein, bei ihm und nicht bei der Konkurrenz nebenan zu arbeiten:
"Wenn sie Überstunden machen, bekommen sie gratis eine Mahlzeit, aber sie fälschen ihre Produktionszahlen. Ich habe zu den Arbeitern gesagt: Wenn ihr die Fabrik leiten würdet, würdet ihr die Dinge anders sehen."
Lifeng ist bei weitem kein Einzelfall, wie die Studien des Südwind-Instituts in Siegburg belegen. Das der evangelischen Kirche nahe stehende Forschungsinstitut hat in den vergangenen Jahren immer wieder die Arbeitsbedingungen in der chinesischen Textilindustrie untersucht und auf eklatante Missstände hingewiesen. Ingeborg Wick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Südwind-Institut. Sie sieht eine der Ursachen im immer härteren Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Seit dem Wegfall von Handelsschranken und Importquoten habe sich die Konkurrenz unter den Herstellern in Entwicklungs- und Schwellenländern enorm verschärft:
"Heute ist es so, dass auf dem Weltmarkt enorm niedrige Preise Usus sind, und die Preise immer stärker gedrückt werden im Wettbewerb. Irgendjemand bietet dann immer noch etwas billiger an. Und das baden die Beschäftigten aus."
Kaum ein europäisches Unternehmen produziert heute noch Textilien im eigenen Land. Ein Stundenlohn von umgerechnet acht Cent macht die Transportkosten allemal wett. Und so hat sich China in den vergangenen Jahren zum weltweit größten Exportland für Bekleidung entwickelt. Ein Viertel der gesamten Produktion kommt von dort. Auch in deutschen Kaufhäusern ist auf zahlreichen Etiketten "Made in China" zu lesen. Unter welchen Bedingungen sie hergestellt wurden, erfahren die Kunden nicht. Das System funktioniert über Zwischenhändler. Die deutschen Firmen haben mit den Herstellern keinen Kontakt. Ein Missstand, den Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen wie die Kampagne für Saubere Kleidung in den vergangenen Jahren immer wieder angeprangert haben. Besonders in die Kritik geraten ist vor kurzem der Aldi-Konzern, der fast jede Woche Jeans oder Pullover für 9,99 Euro im Angebot hat und der zu den größten Textil-Einzelhändlern Deutschlands gehört. Anlass ist eine Studie des Südwind-Instituts. Darin werden die Arbeitsbedingungen in fünf chinesischen Textilbetrieben, die Waren für Aldi herstellen, untersucht. Ingeborg Wick ist eine der Autorinnen:
"Wir haben Hinweise bekommen, dass diese Fabriken Aldi beliefern. Daraufhin haben wir unsere Partnerorganisationen gefragt, ob sie dort undercover Befragungen durchführen können. Und das ist dann so geschehen im letzten Frühjahr. Aus diesen Sicherheitsbedenken heraus und weil die Beschäftigten sonst zu keiner Aussage bereit gewesen wären, haben wir alles in diesem Bericht anonymisiert: die Namen der Beschäftigten, die Namen der Fabriken und die Namen der Verfasser des Berichts."
Das Ergebnis: In allen fünf Betrieben klagten die Angestellten über überlange Arbeitszeiten, einbehaltene Löhne und Kautionsforderungen. Und das sei noch längst nicht alles, sagt Ingeborg Wick:
"Kinder wurden vermittelt aus Schulen in die Fabriken. Ihnen wurde später von ihrem Lohn eine Vermittlungsgebühr abgezogen, die die Schulen erhalten haben. Beschäftigte haben sich nachts aus den fabrikeigenen Schlafsälen heraus geschlichen und sind dann, vorbei am Sicherheitspersonal, aus der Fabrik gegangen, weil sie befürchtet haben, eine offizielle Erlaubnis zum Kündigen nicht zu bekommen."
Das Südwind-Institut schickte Aldi ein Exemplar der Studie mit der Bitte um eine Stellungnahme. Der sonst so öffentlichkeitsscheue Konzern antwortete prompt:
"Wir sind uns als Unternehmen, das über seine Geschäftstätigkeit mit der ganzen Welt in Verbindung steht, sehr bewusst über die Verantwortung, die uns aus dieser Stellung erwächst. Dabei ist es uns selbstverständlich ein wichtiges Anliegen, dass die Produktion von Waren unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen erfolgt. (...) Ein direkter Kontakt zu Produzenten besteht nicht. Wir arbeiten hier im Vertrauen auf die Geschäftspraktiken unserer Partner. Dennoch empfinden wir angesichts der schwierigen Bedingungen in den Produktionsländern die Notwendigkeit, neben das Vertrauen in unsere deutschen Partner nun auch Formen der Kontrolle treten zu lassen. Wir würden uns freuen, Sie zu einem weiteren Dialog einladen zu dürfen."
Das Schreiben stammt von Ende März. Seither hat sich Aldi nicht wieder beim Südwind-Institut gemeldet. Und auch zu einem Interview mit dem Deutschlandfunk war das Unternehmen nicht bereit. Dennoch wertet Ingeborg Wick die Tatsache, dass Aldi überhaupt auf die Vorwürfe reagiert, als ersten Schritt in die richtige Richtung:
"Südwind und die Kampagne für Saubere Kleidung hofft, dass wir mit Aldi so weit kommen, dass tatsächlich ein effektives Engagement für die Verbesserung der Situation von Beschäftigten in Zuliefererländern erreicht wird, damit die Sozialstandards auch eingehalten werden."
Steter Tropfen höhlt den Stein - das ist die Strategie des Südwind-Instituts und der Kampagne für Saubere Kleidung. Das Aktionsbündnis besteht aus vorwiegend ehrenamtlichen Mitarbeitern, getragen von verschiedenen kirchlichen Organisationen und Gewerkschaften. Im europäischen Ausland, in den USA und in Australien gibt es ähnliche Netzwerke. Sie haben es sich zum Ziel gemacht, die Öffentlichkeit auf die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken der Billiglohnländer aufmerksam zu machen. Sie rufen im Internet und an Informationsständen dazu auf, Protest-E-Mails oder Postkarten an Unternehmen zu verschicken, die Textilarbeiter ausbeuten. Sie zielen mit einigem Erfolg auf das Image der Konzerne. Der Sportartikelhersteller PUMA etwa hat sich vor zwei Jahren darauf eingelassen, in Zusammenarbeit mit der Kampagne für Saubere Kleidung zwei seiner Zuliefererbetriebe in El Salvador überprüfen zu lassen. Der Tchibo-Konzern hat sich eine eigene Abteilung zugelegt, die sich um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kümmern soll. Der Discounter Lidl hat einen Verhaltenskodex entwickelt, der sich an den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen orientiert. Nur einige Beispiele, die belegen, dass die Unternehmen auf den Druck reagierten, sagt Christiane Schnura von der Kampagne für Saubere Kleidung:
"Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass sich die Textilindustrie dem Thema öffnet, das merkt man daran, dass die meisten Unternehmen auch versuchen, sich kontrollieren zu lassen, wobei es da viele Schwachpunkte gibt. Das Problem ist: Papier ist geduldig, wird dieser Kodex letztendlich auch umgesetzt? Und da haben wir das Problem, dass insbesondere bei diesen Sublieferanten die Kontrolle doch sehr mangelhaft ist."
Daher mag die Kampagne für Saubere Kleidung derzeit keinem deutschen Unternehmen eine Empfehlung aussprechen. Ihr Fazit: Kommt es zu Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den unabhängigen Kontrolleuren, stellen selbst verantwortungsbewusste Firmen die Projekte wieder ein. So habe auch Puma die Zusammenarbeit mit der Kampagne vorzeitig beendet, beklagt Christiane Schnura. Und die zuständige Managerin von Tchibo rühmt zwar in einer E-Mail an den Deutschlandfunk den Verhaltenskodex ihres Unternehmens. Sie ist nach mehrwöchigen Verhandlungen dann aber doch nicht für ein Interview zu haben - aus Termingründen. Ingeborg Wick vom Südwind-Institut hat eine andere Erklärung für das zögerliche Verhalten:
"Tchibo hat sich in Einzelfällen für Verbesserungen der Situation der Beschäftigten in Fabriken in Bangladesch eingesetzt, aber was die systematische Behandlung dieser Frage anbelangt, da ist also keineswegs nachgewiesen, was unabhängige Kontrollverfahren angeht und eine generelle Verbesserung der Situation der Beschäftigten, dass das schon eingetreten ist."
Immerhin haben fast alle großen westlichen Firmen mittlerweile interne Verhaltensregeln, so genannte "Codes of Conduct", aufgestellt. Maren Böhm ist Leiterin der Abteilung Gesellschaftspolitik bei Karstadt Quelle. Von ihrem Büro in Shanghai aus ist sie zuständig für die Zusammenarbeit mit über 20 Fabriken in Shanghai und Südchina.
"Dieser Code of Conduct legt bestimmte Bedingungen fest, die durch den Lieferanten eingehalten werden müssen. Dieser Code of Conduct ist Teil der Einkaufsbedingungen, das steht also in jedem Auftrag mit drin, dass der Lieferant sich verpflichten muss, diesen Code of Conduct einzuhalten. Und der Lieferant gibt uns auch das Recht, diesen Code of Conduct beziehungsweise dessen Einhaltung zu überprüfen."
Geprüft werden unter anderem Arbeitszeiten, Löhne, Hygiene und Sicherheit. Hält sich das Unternehmen an die auf dem Papier eigentlich vergleichsweise strengen chinesischen Arbeitsgesetze? Sind die Notausgänge frei zugänglich und Feuerlöscher vorhanden? Wer gegen die Regeln verstößt, dem droht der Verlust lukrativer Aufträge - was bei Karstadt Quelle in der Praxis allerdings noch nie der Fall war. Etwa alle zwei bis drei Jahre steht eine Prüfung an, sagt Maren Böhm. Unangemeldet kommen die Inspektoren allerdings nicht.
"Ein Audit dauert etwa ein bis zwei Tage. Sie müssen auf jeden Fall den Manager, also das Topmanagement, dabeihaben, und das muss auch seitens der Fabrik vorbereitet werden, die ganzen Dokumentationen, und deshalb werden das keine unangemeldeten Audits."
Ähnlich argumentiert auch die Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels, AVE. Deren Mitglieder haben sich mittlerweile alle einen Verhaltenskodex zur Sozialverantwortung zugelegt, der sich an den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation orientiert. Unangekündigte Audits seien jedoch nicht praktikabel, sagt AVE-Geschäftsführer Stefan Wengler. Außerdem ist er davon überzeugt, dass die Kontrolle der Sozialstandards auch so gut funktioniert:
"Zum Beispiel wenn Sie Kinderarbeit haben, und am Tag des Audits bleiben die Kinder zu Hause, sehen sie trotzdem, ob in dem Betrieb Kinder beschäftigt sind oder nicht, sei es an Näher-Arbeitsplätzen, an kinder-spezifischen Arbeitsplätzen. Das lässt sich nicht so leicht verbergen."
Im Film "China Blue" von Micha X. Peled bekommen die Zuschauer einen anderen Eindruck. Darin kommt eine ehemalige Aufseherin zu Wort, die von den Audits in der Lifeng-Textilfabrik in Shaxi berichtet:
"Der Chef gab uns einen Zettel, auf dem stand, was wir den Arbeitern sagen sollten. Die Inspektoren fragten uns, ob wir Pause machen durften, und wir mussten ja sagen, aber wir durften nicht mal auf die Toilette gehen. Ich verdiente 300 Yuan, aber ich musste sagen, dass ich 800 verdiene. Das war Betrug."
Und die Lifeng-Textilfabrik ist keine Ausnahme, betont Jörg Wuttke von der Handelskammer der Europäischen Union in China:
"Das Problem ist natürlich, dass die Angestellten von den Besitzern dieser Firmen aufgefordert werden, schlichtweg zu sagen, sie würden von acht bis sechs arbeiten und danach nicht mehr. Was in den meisten Fällen nicht stimmt, weil Überzeiten da sind. Also die Problematik ist wirklich: kommt man hinter diese Schicht von Lügen, die von den Fabrikbesitzern aufgebaut werden."
Ingeborg Wick vom Südwind-Institut geht davon aus, dass sich eine ganze Reihe von Audit-Instituten darauf spezialisiert hat, das soziale Gewissen westlicher Firmen mit Hilfe gefälschter Aussagen zu beruhigen. Es sind auch nicht immer nur die Unternehmen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Manchmal sind auch die Arbeiter bereit, Risiken einzugehen, um einen der begehrten Jobs zu ergattern. Geschummelt wird etwa bei den Altersangaben, so dass auch immer wieder Jugendliche in den Fabriken ausgemacht werden, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Aber Maren Böhm von Karstadt Quelle ist überzeugt: Die Auditoren, die für ihr Unternehmen tätig sind, kennen die gängigen Tricks der Zulieferer.
"Das ist ein Katz- und Maus-Spiel zwischen den Auditoren und den Fabriken. Man kann aufgrund vieler Sachen Missverhältnisse oder Diskrepanzen aufdecken. Beispielsweise wenn in den gefälschten Büchern dann steht, 300 Arbeiter haben um 9.04 Uhr eingecheckt, oder die Stempelkarten geben das her, dann wissen Sie genau, die Leute geben die Karten vorne beim Pförtner ab, der stempelt das für die und kein Mensch weiß, wann die tatsächlich rein gekommen oder raus gegangen sind."
Dass Inspektionen immer nur eine Momentaufnahme liefern können, das weiß auch Maren Böhm. Sie sieht jedoch vor allem die chinesischen Unternehmer in der Pflicht.
"Die Lieferanten müssen verstehen, dass das nicht eine lästige Pflicht ist die Gesetze einzuhalten, sondern sie müssen die Überzeugung entwickeln, dass es gut für das Unternehmen ist und dass sie sich und ihren Arbeitern wirklich langfristig was Gutes tun damit. Wenn jemand am Band sitzt, und der sitzt da 14 bis 16 Stunden, der kann sich einfach nicht mehr konzentrieren, am Ende des Tages kommt dabei schlechte Qualität raus."
Hinzu kommt nach Einschätzung der Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels ein weiteres Problem: Es gibt viel zu wenige Firmen in China, die in der Lage sind, Audits durchzuführen. Somit kann die AVE auch nicht garantieren, dass in allen Zuliefererfirmen die Sozialstandards eingehalten werden, sagt Stefan Wengler:
"Das wäre anmaßend. Wenn Sie überlegen, dass unsere Mitgliedsfirmen insgesamt 6.000 bis 7.000 Lieferanten haben, die ja noch gar nicht überprüft sind, sondern wir haben erst etwa 1.300 Zulieferbetriebe auditieren lassen. Und dass bei den verbleibenden 4.000 oder 5.000, oder wie viele es auch immer sein mögen, noch schwarze Schafe drunter sind, kann man nie ausschließen."
Das Südwind-Institut und die Kampagne für Saubere Kleidung geben sich mit der Erklärung nicht zufrieden. Aus ihrer Sicht hätten die Unternehmen durchaus die Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen in den Zuliefererbetrieben wirksam zu kontrollieren. Ingeborg Wick nennt die Sportartikel-Hersteller Adidas und Puma als Beispiel. Sie sind Mitglied in einer amerikanischen Initiative, die unangekündigte Audits durchführt. Diese stellt auch sicher, dass unabhängige Gewerkschafter bei den Kontrollen dabei sind. Gleiches gilt für den exklusiven Kleidungshersteller Hess Natur, der einer niederländischen Organisation mit ähnlichen Grundsätzen angehört. Auch das Argument, die Mehrkosten für angemessene Löhne und menschenwürdige Unterbringung verteuerten merklich den Kaufpreis, lässt Ingeborg Wick nicht gelten:
"In einem Bekleidungsstück ist der Lohnanteil einer Beschäftigten nicht höher als 0,4 bis 0,6 Prozent, manchmal ein Prozent. Daran wird klar, dass eine Verdopplung des Lohns kaum ins Gewicht fällt."
Keine Firma, die in Deutschland produziert, kann es sich erlauben, gegen das Arbeitsrecht zu verstoßen. Lässt sie ihre Waren dagegen im Ausland fertigen, ist das dem deutschen Gesetzgeber egal. Zwar hat die Bundesregierung sämtliche Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterzeichnet, für deren Umsetzung fühlt sie sich jedoch nur im eigenen Land zuständig. Auch gibt es für Textilien noch immer kein Siegel, das, wie beispielsweise bei Lebensmitteln, die Einhaltung von Sozialstandards garantiert. Verantwortungsbewussten Verbrauchern bleibt deswegen vorerst nur, etwa an die Firmen zu appellieren, nicht mehr 15 Prozent ihres Umsatzes in die Werbung zu stecken, sondern nur noch 14. Und stattdessen zu garantieren, dass die Arbeiterin, die die Jeans oder den Pullover genäht hat, dafür keine unbezahlte Nachtschicht einlegen musste.