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Binationale Föderation
Ein alter, neuer Lösungsansatz für den Nahost-Konflikt

Auch wenn Israel darauf verzichtet, Teile des Westjordanlands zu annektieren - neben den stetig wachsenden jüdischen Siedlungen bleibt kaum Platz für einen Palästinenser-Staat. Deshalb diskutieren Wissenschaftler die Wiederbelebung der ursprünglichen zionistischen Idee eines binationalen Staates.

Von Andreas Beckmann |
Blick vom Ölberg auf Jerusalem und den Tempelberg (1947).
Blick vom Ölberg auf Jerusalem und den Tempelberg im Jahr 1947 - ein Jahr später mündete die Unabhängigkeitserklärung Israels direkt in den Palästinakrieg (dpa / picture-alliance / akg /Philippe Joudiou)
Wenn nicht gerade Corona herrscht, wird es jeden Morgen richtig voll am Ölberg über Jerusalem. In allen Sprachen der Welt erzählen Fremdenführer ganzen Busladungen von Touristen die wechselvolle Geschichte der Stadt und des Heiligen Landes. Kanaaniter und Philister kamen hierher, Römer und Kreuzzügler, Osmanen und Briten, um nur die wichtigsten zu nennen. Alle wurden früher oder später von Neuankömmlingen unterworfen oder vertrieben. Niemals kam irgendjemand auf die Idee, dass man sich das Land ja auch teilen könnte. Bis auf die Zionisten, die es derzeit kontrollieren. David Ben-Gurion, der Gründervater Israels, war ursprünglich für einen binationalen Staat. Doch er und seine Mitstreiter verwarfen die Idee wieder. Und sie hatten einen gewichtigen Grund, erzählt der Philosoph Omri Boehm von der New School for Social Research in New York:
"Der Holocaust. Durch ihn haben die Juden verstanden, dass sie für ihr Überleben einen eigenen Staat brauchten. Damals erschien es absolut zwingend, dass wir einen Staat für uns allein brauchten. Aber heute können wir uns fragen, ob das eine gute Entscheidung war. Damals war sie moralisch verständlich. Aber die Frage ist: Was tun wir heute?"
Omri Boehm ist Enkel von Holocaust-Überlebenden und in Galiläa aufgewachsen. Er hat im vergangenen Jahr das Buch "Israel – eine Utopie" veröffentlicht und plädiert darin aus zionistischer Perspektive dafür, die Idee der Ein-Staaten-Lösung wieder aufzugreifen. Aus moralischen Gründen.
"Die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser, das müssen wir klar sagen, war ein kapitales Verbrechen. Es ist mit dem Kernanliegen des Zionismus verbunden, dem jüdischen Staat. Heißt das, wir geben den Zionismus auf? Oder halten wir an ihm als einer großen, wenn auch befleckten Idee fest und transformieren den Zionismus so, dass er für alle, auch für Palästinenser, vereinbar ist mit demokratischen und humanistischen Werten?"
Israelisch-ägyptische Friedensverhandlungen in Camp David: Menachem Begin, Anwar as Sadat und Jimmy Carter
Die Camp-David-Verhandlungen 1978 führten zum Abschluss des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags. (dpa/picture alliance)

Eine alte zionistische Idee

Als Kronzeugen für seine Idee ruft Omri Boehm nicht nur David Ben-Gurion auf, sondern auch Menachem Begin. Der war einst als Mitglied der Terror-Organisation Irgun einer der aggressivsten Vorkämpfer eines jüdischen Staates und wurde später dessen Ministerpräsident. Am 28. Dezember 1977 stellte er vor dem Parlament, der Knesset, klar, dass er niemals auch nur einen Zentimeter Israels oder der besetzten Gebiete abtreten würde:
"Dies ist unser Land, es gehört von Rechts wegen dem jüdischen Volk. Wir wissen, dass es andere Ansprüche auf dieses Gebiet gibt. Um eine Einigung zu ermöglichen und zum Frieden zu kommen, gibt es nur einen Weg: für die palästinensischen Araber Selbstverwaltung – für die Juden echte Sicherheit."
Begin holte sich von den Abgeordneten die Zustimmung für ein Angebot an die Palästinenser, israelische Staatsbürger zu werden: "Wir schlagen völlige Rechtsgleichheit vor, wenn sie sich für eine solche Staatsangehörigkeit entscheiden. Wir zwingen niemandem unsere Staatsangehörigkeit auf."
Da sowohl die israelische wie die palästinensische Öffentlichkeit diesen Vorschlag ignorierten, geriet er schnell in Vergessenheit und blieb es bis heute. Auch bei jenen 20 Prozent der Israelis, die keine Juden sind, sondern arabische Israelis beziehungsweise israelische Palästinenser, wie sich viele von ihnen heute nennen. Ahmad Mansour, arabischer Israeli, sunnitischer Muslim und Psychologe:
"Der Nationalstolz der Palästinenser wird ihnen nicht erlauben, diese Ein-Staaten-Lösung zu bevorzugen. Das ist nicht die Idee, mit der sie zwei Intifadas und viele, viele auch bewaffnete Konflikte mit Israel geführt haben."

Palästinenser im zionistischen Staat

Ahmad Mansour arbeitet heute als professioneller Anti-Rassismus-Trainer in Berlin. Doch wenn es irgend geht, besucht er mehrmals im Jahr seine weitverzweigte Großfamilie, die zum Teil in Israel, zum Teil im Westjordanland lebt. Gerade bei denjenigen, die auf der israelischen Seite der Demarkationslinie wohnen, spürt er seit einigen Jahren einen politischen Wandel.
"Meine Oma entscheidet nicht mehr. Diejenigen, die entscheiden, sind die neue Generation, das sind die jungen Menschen. Und die genießen die Demokratie, sie genießen die Rechtsstaatlichkeit, sie genießen die Möglichkeit, in Israel zu arbeiten. Das will kein vernünftiger Mensch aufgeben, auch wenn er sich nationalistisch und politisch wie palästinensisch fühlt."
An einen eigenen Palästinenser-Staat glaubt in dieser Generation kaum jemand mehr. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich junge Leute für die Ein-Staaten-Lösung begeistern würden. Obwohl die Idee unter palästinensischen Intellektuellen eine lange Tradition hat. Ihr bis heute wichtigster Vertreter, der inzwischen verstorbene Edward Said, schrieb schon vor 20 Jahren im New York Times Magazine:
"Ein echter Friede kann nur mit einem binationalen Israelisch-Palästinensischen Staat kommen. Aber auch dann wollen die Palästinenser um jeden Preis ihre arabische Identität und ihre Zugehörigkeit zur islamischen Welt bewahren."
Gerade dieser Punkt löst unter jüdischen Israelis bis heute massive Ängste aus, betont Ahmad Mansour: "Eine Ein-Staaten-Lösung bedeutet auf lange Sicht, dass die Juden in Israel eine Minderheit werden, und die Juden wollen keine Minderheit sein. Und zwar vor allem nicht im Nahen Osten, wo man ganz genau weiß, wie mit Minderheiten umgegangen wird."
Praktisch überall würden Minderheiten diskriminiert oder gar unterdrückt, das gelte gerade auch für die Palästinenser-Gebiete. Die einst blühende christlich-palästinensische Gemeinde existiert praktisch nicht mehr. Jüdische Israelis, meint Ahmad Mansour, fürchten, dass ihnen bei einer Ein-Staaten-Lösung ähnliches drohen könnte.
"Auf Dauer wird da eine arabische oder eine palästinensische Mehrheit entstehen, oder man gibt den Palästinensern nicht ihre Rechte. Dann hört man natürlich zu Recht den Vorwurf: ein Apartheid-Staat. Beides will ich nicht haben. Als Araber will ich aber, wäre ich in Israel, ein gleichberechtigter Bürger in diesem Land sein und weniger Diskriminierungserfahrungen auf Grund meiner Religion oder meiner Nationalität."
19.7.2018: Abgeordnete der Knesset stimmen über das israelische Nationalstaatsgesetz ab.
Abgeordnete der Knesset stimmen über das israelische Nationalstaatsgesetz ab. (AFP / MARC ISRAEL SELLEM)

Eine neue Generation

Genau das verlangen immer mehr arabische Israelis, die ja das Recht genießen, ihre eigenen Vertreter ins Parlament zu schicken, berichtet Lidia Averbukh. Sie arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und hat gerade ihre Dissertation über Minderheitenrechte in Israel abgeschlossen.
"In der letzten Knesset gab es die sogenannte arabische Liste. Da haben sich alle arabischen Vertreter unter einer Liste vereinigt. Diese Liste hat sehr viele Sitze bekommen hat, weil die arabische Bevölkerung für sie gestimmt hat und mit großen Zahlen wie davor noch nie. Aber die Frage war von Anfang an, wie lange sie es miteinander aushalten, weil da doch sehr kontroverse und konträre ideologische Positionen zusammenkommen."
Im nächsten Wahlkampf, der gerade beginnt, wird es deshalb vermutlich keine Vereinigte Arabische Liste mehr geben. Stattdessen schließen jüdische und palästinensische Politiker miteinander Bündnisse, wo es ideologisch passt. Wobei sie den Nahost-Konflikt ausklammern. Linke und Liberale streiten für die Gleichstellung sexueller Minderheiten. Rechte Palästinenser suchen die Nähe von Premier Netanjahu in der Hoffnung, er könnte Sicherheitskräfte in ihre Dörfer schicken, um die grassierende Clan-Kriminalität zu bekämpfen. Einige jüdische Parteien nehmen sogar arabische Kandidaten auf ihre Listen, um sich deren Wählergruppen zu erschließen. Lidia Averbukh:
"Dann gibt es auch innerhalb der arabischen Bevölkerung Gruppen, die das ablehnen wie zum Beispiel die Ost-Jerusalemer Palästinenser, die durchaus an lokalen Wahlen teilnehmen könnten, diese aber boykottieren. Andere arabische Israelis nehmen aber mit großem Anteil an lokalen Wahlen teil. In Bezug auf nationale Wahlen schaut das wieder anders aus, aber es gibt eine Tendenz hin zu größerer Partizipation."

Palästinensische Stimmen in der Knesset

Auf kommunaler Ebene regieren Juden und Palästinenser vielerorts schon seit Jahren erfolgreich zusammen. Aber kann man sich vorstellen, dass sie daraus die Schlussfolgerung ziehen würden, dass ein gemeinsamer Staat funktionieren könnte? Lidia Averbukh:
"Kann man schon, wenn man davon ausgeht, dass die Zwei-Staaten-Lösung tatsächlich tot ist. Sie ist auch tot für viele Israelis und Palästinenser insbesondere der jüngeren Generation, und die zwei großen Lösungsansätze, um die gerade gestritten wird, das sind beides Ein-Staaten-Lösungen, die bloß jeweils anders aussehen. Eine für alle mit gleichen Rechten oder eben die andere, auf die man sich realpolitisch zubewegt, nämlich eine Besserstellung und Privilegierung der jüdischen Israelis."
Der Widerstand gegen eine solche latent rassistische Politik wird nach den Beobachtungen von Lidia Averbukh aber immer stärker.
"Die israelischen Araber, besonders die jüngeren von heute, sind sehr gut ausgebildet, die sind präsent, die sind sichtbar auch in israelischen Städten. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte erst, und sie haben auch ein anderes politisches Bewusstsein, das sie an den Tag legen. Ich glaube, darin liegt Potenzial im Hinblick auf arabische Repräsentation, lokal wie auch national. Auf Grund dessen ist es plötzlich auch möglich, sich sowohl auf eine palästinensische Identität zu fokussieren, als auch gleichzeitig Israeli mit vollwertigen Rechten sein zu wollen. Das widerspricht sich nicht mehr."
Israelische Kontrollstelle in Hebron im Westjordanland/Palästina: Ein Israelischer Soldat in Uniform steht vor einem Wachhäuschen, das mit einer gemalten israelischen Flagge angestrichen ist.
Israelische Kontrollstelle in Hebron im Westjordanland (imago images / Winfried Rothermel)

Besatzung für immer?

Auf Grund dieser Entwicklung hofft Omri Boehm, dass sich die Palästinenser in Zukunft immer stärker in die Innenpolitik Israels einmischen: "Wir haben viel zu lange die Realität ignoriert und so getan, als könnten wir immer so weitermachen und den Konflikt eindämmen mit ein paar Lippenbekenntnissen zur Zwei-Staaten-Lösung. Währenddessen sind die Rechten längst dabei, die Palästinenser überall noch weiter an den Rand zu drängen. Diese Strategie ist mittlerweile im Zentrum der Politik angekommen."
Nicht zuletzt deshalb, weil sich die traditionellen linken und liberalen Parteien Israels mehr oder weniger in Luft aufgelöst haben. Wer nicht rechts wählen will, findet kaum noch ein Angebot. Omri Boehm: "Mein Vater, der sein Leben lang liberaler Zionist war, der Sohn von Holocaust-Überlebenden, bis heute Reserveoffizier der Armee, stimmt für die Vereinigte Liste. Noch fehlt ein breites Vertrauen für eine gemeinsame, binationale Politik, aber es baut sich auf und wir können es weiter stabilisieren."
Damit im Nahen Osten ein Dialog überhaupt erstmal anfängt, muss oft die Diaspora den Anstoß geben, vor allem die amerikanische. Deshalb ist es bemerkenswert, dass sich der einflussreiche jüdische Politologe Peter Beinart von der City University of New York im Sommer auf der Website "Jewish Currents" von der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung verabschiedete: "Israel ist bereits ein binationaler Staat. Sein Territorium umschließt zwei Völker, Juden und Palästinenser, die zahlenmäßig etwa gleich stark sind."
Ob Israel das Westjordanland demnächst zumindest teilweise annektiert, wie es Benjamin Netanjahu bis vor kurzem plante, spielt für Peter Beinart praktisch keine Rolle mehr. "Die Westbank ist Wohnsitz von zwei der mächtigsten israelischen Politiker, von zwei Richtern des Obersten Gerichts und sie ist Standort der modernsten Medizinischen Hochschule."
Soll heißen: Die Siedlungen wird Israel niemals mehr aufgeben. Die Alternative heißt also: Besatzung für immer oder Gleichberechtigung. Institutionell wäre die jederzeit möglich. Darauf hat Edward Said schon vor über zwanzig Jahren hingewiesen: "Es gibt keine Palästinensische Verfassung, aber Israel hat ja auch noch keine. Wir bräuchten ein gemeinsames Grundgesetz, das beiden Seiten freie Entfaltung garantiert. Keine Seite darf sich von den eigenen religiösen Extremisten in Geiselhaft nehmen lassen."

Gemeinsames Erinnern für eine gemeinsame Zukunft

Zwischen Israelis und Palästinensern gab es auch noch nie feste Grenzen. Die wurden in den vergangenen gut 70 Jahren ständig hin und her geschoben. Da wäre es fast das einfachste, meinte Omri Boehm, wenn beide Seiten sie einvernehmlich aufheben könnten.
"Wenn sie zusammenleben wollen, müssen sie sich der Geschichte der jeweils anderen Seite bewusstwerden, des Holocausts wie der Nakba. Das heißt nicht, alle Unterschiede und Gegensätze zu verwischen. Es geht dabei auch weniger um Schuld, als um Verantwortung. Dass Juden das Leid der Palästinenser anerkennen und Palästinenser das Leid der Juden. Das ist keine Überforderung, meine ich."
Dann, hofft Omri Boehm, ließen sich auch praktische Fragen klären. Auch ein binationaler Staat müsste selbstverständlich ein sicherer Hafen für verfolgte Juden aus aller Welt bleiben. Und die palästinensischen Flüchtlinge müssten in diesen Staat zurückkehren dürfen, aber ohne Israelis aus ihren jetzigen Häusern zu vertreiben. Vielleicht am schwierigsten wäre es, für jene Palästinenser einen Ausweg zu finden, die unter der Herrschaft der Hamas im Gazastreifen eingesperrt sind. Aber für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan könnte dann gelten, was Theodor Herzl 1897 nach dem ersten Zionistenkongress den Juden in aller Welt zugerufen hat:
"Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen."