Biodiversität
Das Netz der Natur

Im Zuge der Weltnaturkonferenz COP16 wird ein Begriff wieder besonders oft fallen: Biodiversität. Doch was versteht man eigentlich darunter? Und warum ist sie so wichtig für Natur, Mensch und sogar die Wirtschaft?

Von Jule Reimer |
    Blick von oben auf die Hallig Südfall.
    Inseln, auch kleine wie Hallig Südfall, sind "Hot spots" mit besonders viel Biodiversität. Sie zeichnen sich durch spezielle Arten und Ökosysteme aus, die oft an keinem anderen Ort auf der Welt zu finden sind. (imago / Westend61)
    Biodiversität umfasst die ganze Natur, uns als Menschen, Tiere und Pflanzen, die Mikroorganismen und unser aller genetischen Grundlagen. Wenn es um den Erhalt der Biodiversität geht, gibt es oft Missverständnisse. Viele verstehen darunter nur, die Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten zu schützen. Tatsächlich umfasst der Begriff auch die vielfältigen Lebensräume wie Wiesen, Weiden, Wälder, Moore und Gewässer jeder Art.

    Inhalt

    Biodiversitätsverlust: Warum die aktuelle Entwicklung gefährlich ist

    Der Weltbiodiversitätsrat IPBES, das analoge Gremium zum Weltklimarat, schätzte in seinem Weltreport von 2019, dass von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit zwei Millionen gefährdet sind und davon eine Million vom Aussterben bedroht ist. Die Klimaerwärmung verschärft diesen Trend.
    Experten konstatieren einen Biodiversitätsverlust in einer Geschwindigkeit, der 100 bis 1000 Mal schneller ist als die natürliche Wandlungsrate der Natur. Doch anders als bei der Klimaerwärmung, die durch Wetterextreme spürbar ist, vollzieht sich der Artenverlust schleichend.
    Die Menschen merkten es erst mal nicht, weil die Natur wie ein riesiges Netz sei, warnte der damalige Chef der Weltnaturschutzunion IUCN 2022: "Man kann einen Draht zerschneiden, man kann einen zweiten Draht zerschneiden, und das Netz funktioniert weiterhin, und plötzlich, wenn man den x-ten Draht zerschneidet, dann hört es auf zu funktionieren. Behalten wir in Erinnerung: Alles, was wir essen, ist Biodiversität. Das Wasser, das wir trinken, ist aufbereitet durch Biodiversität und die Luft, die wir atmen, ist von Biodiversität produziert. Wenn diese Dienstleistungen aufhören, auch nur teilweise, dann haben wir ein riesiges Problem."
    Oberle vertritt zudem die These: Die Natur wird den Verlust von Biodiversität immer irgendwie kompensieren. Die Frage jedoch ist: Kommt der Mensch mit den Folgen zurecht?

    Wie funktioniert das Netz der Natur?

    Das lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel erklären: Der Biber war über Jahrhunderte fast überall in Deutschland ausgestorben. Erst in den letzten Jahrzehnten breitet er sich wieder aus.
    Lang wurde er auch nicht vermisst: Bei der Begradigung von Flüssen und Bächen störten die von ihm am und im Fluss errichteten Bauten. Landwirte sind bis heute oft nicht gut auf den Biber zu sprechen, weil seine Dämme Wasser stauen, das je nach Situation unkontrolliert angrenzende Äcker und Weiden überflutet und die Erträge mindert.
    Wissenschaftler hingegen betrachten den Biber als Schlüsselart. Denn er verändert die Dynamik in Fließgewässern und schafft damit neue, kleine Ökosysteme, in denen unzählige andere – teils sehr spezialisiert lebende – Arten wachsen, laichen, brüten oder rasten.
    Langfristig bringt er auch den Landwirten Vorteile, denn durch seine Bautätigkeit wird Grundwasser gebildet und gespeichert.
    Rund um Biberbauten entstehen wieder Auenwälder, die fast überall in Deutschland durch Begradigung, Trockenlegung und Kiesabbau zerstört wurden. Diese dienen ebenfalls als Rückhalteflächen für Wasser im Allgemeinen und als Überflutungsflächen bei Hochwasser und Starkregen.

    Was zerstört Biodiversität?

    In Deutschland konstatierten Wissenschaftler im September 2024, dass ein Drittel aller Arten gefährdet sei, mit jüngst leichten Verbesserungen bei Säugetieren in Wäldern, aber durchgängiger Verschlechterung in den Agrarlandschaften.
    Neben Rohstoffabbau, Versiegelung durch Wohnbebauung, Industrie und Straßen führten vor allem die großen Flurbereinigungs- und Entwässerungsprojekte der 70er- und 80er-Jahre in der Landwirtschaft sowie Überdüngung und stark angestiegener Pestizideinsatz zu der Verarmung auf Äckern, Wiesen und Weiden.
    Tatsächlich ist der Pestizideinsatz sogar im Nationalpark erlaubt. Der deutsche Staat zahlt zudem jedes Jahr klima- und naturschädliche Subventionen in Höhe von rund 65 Milliarden Euro aus.
    Der Straßenverkehr wird mit Pendlerpauschale und Steuervorteilen für Verbrenner-Fahrzeuge gefördert. Stickstoffverbindungen aus Autoabgasen fallen auf Felder, Gewässer und Meere nieder und tragen ebenso wie zu viel Düngereinsatz auf dem Acker zu einer Überdüngung ("Eutrophierung") von Gewässern bei. Auch die EU bindet ihre Agrarsubventionen bislang fast ausschließlich an die Hektarfläche – und nicht an die Art der Bewirtschaftung.

    Biodiversität als unterschätzter Wirtschaftsfaktor

    Über 50 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes hängt direkt oder indirekt von funktionierenden Ökosystemen beziehungsweise deren Ökosystemleistungen ab. Wenn der Regenwald in Westafrika verschwindet, ändern sich Pflanzengemeinschaften, Regenfälle, die Wasserverfügbarkeit allgemein und damit auch die Produktionsbedingungen für bei uns begehrte Güter wie Kaffee oder Kakao.
    Langfristig planende Investoren fragen sich, wie es um ihre Geldanlage im Nahrungsmittelbereich in 40 Jahren aussieht. Nicht gut, wenn die Klimaerwärmung und der Artenverlust fortschreiten. Deshalb sind auf den Weltnaturkonferenzen wie der COP16 immer auch zahlreiche Unternehmen bis hin zu multinationalen Chemiekonzernen mindestens im Hintergrund präsent.
    Je ärmer ein Land ist, desto stärker ist es abhängig von Dienstleistungen der Natur. Dort haben die Menschen meist nicht das Geld, um sich im Supermarkt mal eben mit sauberem Trinkwasser zu versorgen und sie leben häufig noch direkt vom kleinen Acker neben ihrer Hütte.
    Kleine Bauern und große Agrarkonzerne profitieren gleichermaßen davon, dass Bienen, Hummeln und anderen Insekten Nutz- und Wildpflanzen bestäuben – sie garantieren damit rund ein Drittel der Produktion von Nahrungsmitteln weltweit.

    Pharmaindustrie lebt von den Schätzen der Natur

    Züchter greifen zudem auf den riesigen Genpool der Natur zurück, wenn Pflanzensorten oder Nutzrassen von Seuchen erfasst werden und Missernten drohen. Dem Schweizer Konzern Syngenta gelang es, bestehende Peperoni-Sorten mit einer wilden Peperoni aus Jamaika zu kreuzen, die gegenüber der schädlichen Weißen Fliege resistent ist.
    2013 erteilte das Europäische Patentamt dem Unternehmen dafür ein Patent auf alle Pflanzen mit dieser Eigenschaft. Die Folge: Wenn sonst jemand Peperoni mit dieser Eigenschaft kommerziell züchten möchte, braucht er die Erlaubnis von Syngenta und er muss Lizenzgebühren zahlen.
    Zwar dürfen seit 2020 in Europa Eigenschaften aus Wildpflanzen nicht mehr patentiert werden. Da dies jedoch nicht rückwirkend angewendet werden kann, hält Syngenta das Patent noch bis 2033. Ob die moderne Gentechnik in der Lage sein wird, den Verlust von natürlichen genetischen Ressourcen zu kompensieren, wird vor allem von Ökologen bezweifelt.
    Eigenarten von Pflanzen und Tieren dienen Erfindern als "Vorlage" für technische Erfindungen (Bionik). So kopierten Wissenschaftler den Effekt, dass Wasser von einem Blatt der Lotuspflanze abperlt, um Oberflächen wasserabweisend zu machen.
    Auch die Pharmaindustrie lebt von den Schätzen der Natur. Und Grundlagenforscher nutzen Mikroorganismen aus aller Welt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Während Samen und Mikroorganismen in der Vergangenheit immer als lebende Materie weitergegeben werden mussten, liegen die Details der Gene heute digitalisiert in den Datenbanken der Welt vor. So können sie blitzschnell via Internet über die Grenzen hinweg in alle Welt verschoben werden.
    Ein großer Streitpunkt ist auf den Weltnaturkonferenzen deshalb immer die Frage, wie Gewinne aus der Nutzung dieser Digitalen Sequenzinformationen (DSI) nachverfolgt und fair und angemessen mit den Herkunftsländern geteilt werden kann.