Lennart Pyritz: Nicht nur das Leben, auch die Forschung selbst hat sich seit den 1980er Jahren weiter entwickelt. Und damit auch die wissenschaftliche Diskussion, inwieweit die Evolution vorhersagbar ist. Inzwischen haben Studien im Freiland und im Labor neue Einblicke in die Fragen eröffnet, die Simon Conway Morris und Stephen Jay Gould einst aufgeworfen haben. Einer, der selbst in der freien Natur dazu forscht, ist der Biologe Axel Meyer von der Universität Konstanz. Ich habe ihn vor der Sendung gesprochen und zuerst gefragt, auf welcher Seite er steht: Simon Conway Morris und funktionale Zwänge, die die Evolution prägen, oder Stephen Jay Gould und der Zufall?
Axel Meyer: Das ist nicht ganz einfach. Ich glaube, dass unsere eigene Forschung eher auf der Seite von Simon Conway Morris ist, aber die bezieht sich auf kürzere evolutionäre Zeiträume von ein paar Millionen Jahren. Aber ich glaube, dass ich von meiner Einschätzung der Situation eher auf der Stephen-Jay-Gould-Seite bin, dass es also viele eingefrorene Zufälle gibt und dass Dinge mal im Kambrium eingefroren sind, und seitdem spielt die Evolution wie ein Bastler damit rum.
Pyritz: Wie ist das, wenn Sie sich in Ihrem Kollegenkreis umsehen, umhören, ist das Thema da nach wie vor sehr umstritten?
Meyer: Es ist ganz spannend, dass das Thema gerade wieder sehr aktuell geworden ist. Mein Eindruck ist, das liegt auch daran, dass wir jetzt mit modernen genomischen Methoden auf die genetische oder genomische Basis von Anpassung zurückgehen können und verstehen können, welche Gene oder sogar welche Mutation für bestimmte Adaptationen verantwortlich sind, und dann fragen können, wenn wir solche Ähnlichkeiten sehen, wie macht die Evolution das. Und da gibt es noch nicht viele abschließende Antworten, und die Beispiele, die bisher gefunden worden sind, sind auch nicht immer der gleiche Mechanismus. Aber zumindest ist es jetzt methodisch machbar, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, die zum Zeitpunkt von Stephen Jay Gould in den 80er-Jahren oder so wirklich noch gar nicht denkbar waren.
Bin von meiner Einschätzung der Situation her eher auf der Stephen-Jay-Gould-Seite
Pyritz: Gehen wir mal in diese Beispiele rein. Sie haben selbst zum Thema der Vorhersagbarkeit von Evolution geforscht in der freien Natur. Wenn wir mal auf eine konkrete Studie schauen, Sie haben zum Beispiel die Entwicklung zweier eng verwandter, aber isoliert lebender Populationen von Buntbarschen in Kraterseen in Nicaragua untersucht. Das war eine Studie im Fachblatt "Nature Communications" von 2014. Damals haben Sie geschrieben, dass Ihre Ergebnisse Hinweise auf einen deterministischen Verlauf der Evolution geben. Können Sie das oder diese Studie einmal etwas genauer beschreiben?
Meyer: Die Situation in Nicaragua ist besonders spannend und besonders hilfreich als sozusagen natürliches Experiment, weil wir dort zwei große alte Seen haben, die noch viel größer sind als der Bodensee hier, aus denen die Ursprungspopulation von diesen Fischen kommt. Und da gibt es eine Reihe von Kraterseen in Nicaragua, die Teil des Pazifischen Rings des Feuers sind, die zwischen 2.000 und 20.000 Jahre alt sind. Und diese Seen wurden unabhängig jeweils aus der gleichen Ursprungspopulation besiedelt. Und nun kann man anhand dieses natürlichen Experiments sozusagen fragen, was passiert, wenn ich dieselben Fische in mehrere Kraterseen tue. Und dabei haben wir dann eben festgestellt, dass bestimmte Dinge, wie die Evolution der Körperform oder andere Aspekte der Biologie sozusagen vorhersehbar sich verändern werden. Zum Beispiel die Ursprungspopulation kommt aus einem sehr trüben, flachen, aber wie gesagt sehr großen See, wo es nur Fische mit relativ tiefen Körpern gibt, während in den Kraterseen, die tief und klar sind, es neue Arten gibt, die sehr langgestreckt sind, so herings- oder sardinenähnlich, die dann in der Mitte des Sees schwimmen, also eine neue ökologische Nische besetzen können, die im Ursprungssee gar nicht vorhanden ist. Und diese ökologische Nische wird neu besetzt, und neue Arten entstehen, um diese Nische zu besetzen.
Wir nennen das unser Angelina-Jolie-Projekt
Pyritz: Das deutet also auf ähnliche Anpassung hin, aber wie die Fische das im Einzelnen erreichen in den unterschiedlichen Seen, inwieweit lässt sich das festmachen auf genetischer Ebene?
Meyer: Es gibt viele neue Arten, kleine Radiation von drei, vier, fünf, sechs Arten jeweils in diesen Kraterseen, und die Veränderung, die dort stattfindet, ist nicht nur in dieser länglichen, tiefen Körperachsenrichtung, sondern zum Beispiel gibt es mehrere Seen, wo die Fische ganz große, groteske Lippen haben. Wir nennen das unser Angelina-Jolie-Projekt. Und es stellt sich heraus, dass diese großen Lippen zu einem großen Teil von einem bestimmten genetischen Lokus gemacht werden. Und dieser genetische Lokus ist identisch in all den Kraterseen, in denen er vorhanden ist. Was darauf hindeutet, dass entweder diese Anpassung, diese neuen grotesk großen Lippen, die verantwortlich sind, dass diese Fische zwischen Ritzen im vulkanischen Gestein fressen können, dass die unabhängig entstanden ist, oder aber, was wahrscheinlicher ist, dass diese genetische Variante, dieses Allel mit der Gründungspopulation in die Kraterseen gekommen ist. Die Evolution wiederholt sich in diesem Fall also, indem alte Variation sozusagen in einem neuen ökologischen Kontext wieder abgerufen wird.
Das Interessante ist nun, wir wissen aus dem Vergleich mit afrikanischen Buntbarschen, wo es auch Arten mit diesen großen Lippen gibt, wir wissen, dass dort wenigstens zehn bis 15 genetische Regionen im Genom dazu einen Beitrag leisten, dass also die genetische Basis zumindest nach jetzigem Kenntnisstand darauf hindeutet, dass die genetische Basis bei afrikanischen Buntbarschen, die vielleicht vor 60 Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten mit den Buntbarschen in der neuen Welt, ein ganz anderer Mechanismus benutzt wird, um den gleichen ähnlichen Phänotyp, diese großen Lippen, hervorzurufen.
Ähnliche Anpassungen, aber auf unterschiedlichem Weg
Pyritz: Stützt dann so ein Befund eher Stephen Jay Gould oder Simon Conway Morris? Da ist ja sowohl Wiederholung drin bei der letztendlichen Anpassung – nehmen wir mal diese dicken Lippen –, als auch der, ich nenne es mal Zufall im Detail bei der genetischen Mutation oder bei der genetischen Basis, die zu dieser Anpassung führt.
Meyer: Diese Anpassung an ökologische Umstände oder die Besiedelung von Nischen mit bestimmten Adaptationen, die besonders gut dazu passen, ist wahrscheinlich eher deterministisch, eher vorhersagbar, während, was in der Evolution passiert wahrscheinlich viel zufälliger ist. Da bin, glaube ich, eher auf der Seite von Stephen Jay Gould, dass die Evolution durch eingefrorene Zufälle massiv beeinflusst wird. Als Beispiel würde ich auch sagen, was wir in den letzten 30 Jahren im Feld der Evo-Devo, dem Feld, wo Evolutionsbiologie und Entwicklungsbiologie zusammenkommen, gelernt haben, ist dass – und das war eine riesige Überraschung, die keiner vorhergesagt hätte –, dass die genetischen Grundbausteine, zum Beispiel Hox-Gene, in allen Tieren, in allen Tierstämmen vorhanden sind und in einer extrem konservierten Art und Weise auf den Chromosomen organisiert sind und dass diese Hox-Gene zum Beispiel einem sich entwickelnden Embryo sagen, da wird dein Kopf sein, da wird dein Schwanz sein. Bestimmte andere Gene sagen, da wird dein Schultergürtel sein, da wird dein Beckengürtel sein und so weiter. Und die sind extrem konserviert. Und dann gibt es aber anhand dieses zufälligen, würde ich behaupten, Musters – das war nicht besonders Cleverness unbedingt dabei, aber es hat sich einfach eingefroren, und es war dann entwicklungsbiologisch so eingefroren, dass die Organismen keine Möglichkeiten mehr hatten, sich zu verändern. Sie müssen sich dazu vorstellen, dass die Evolution natürlich kein Ingenieur ist, sondern eher so ein Bastler, wie wir seit 30, 40 Jahren denken, dass also mit den vorhandenen Werkzeugen oder Schrauben oder Dübeln, die man im Schuppen, in der Garage oder im Hobbykeller findet, rumgebaut wird. Und dass die Evolution mit den ihr zur Verfügung stehenden Materialien dann was macht. Sie fängt ja nicht mit einem weißen Blatt Papier an, wo ein Ingenieur entscheidet, oh, wir bauen heute mal einen Wurm oder wir bauen heute eine Schlange.
Evolution fängt nicht mit einem weißen Blatt Papier an
Pyritz: Sie haben eben schon gesagt, dass Evolution wahrscheinlich eher auf kürzere Zeiträume gesehen wiederholbare Prozesse zeigt. Kann man denn so was wie eine Zeitdimension, einen Zeithorizont festmachen, in dem Evolution wahrscheinlich für uns überschaubar ist? Und was ist eben mit unvorhersehbaren Zwischenfällen, zum Beispiel einem Asteroideneinschlag auf der Erde wie zur Zeit der Dinosaurier?
Meyer: Keine Tierart kann sich auf Asteroideneinschläge vorbereiten. Es gibt keine Selektion dafür, weil das so selten passiert und so unvorhersehbar ist. Da hat man einfach Glück oder nicht, und das ist der große Zufall, der dann eben dazu führt, dass Säugetiere überleben oder bestimmte marine Gruppen überleben. Die kürzeren Zeiträume, und da reden wir in Nicaragua von weniger als 2.000 Jahren und vielleicht sogar nur über einige Hundert Generationen – und das ist, würde ich sagen, auch eine große Erkenntnis meiner Generation von Evolutionsbiologen, dass die Evolution viel schneller passiert, als bisher angenommen wurde.
Darwin hat ja immer noch an graduelle Evolution über Millionen von Jahren gedacht, und auch Ernst Meyer. Die meisten von uns glauben mittlerweile, dass die Evolution in Tausenden, vielleicht sogar in Hunderten von Generationen passiert – Evolution, die wir messen können, also Veränderungen von Genhäufigkeiten oder phänotypische Veränderungen. Und in den nicaraguanischen Seen gibt es eben einige, die nur 2.000 Jahre alt sind, und es gibt neue Arten in diesen Seen. Und ich glaube, dass in diesen Zeiträumen, wo dann eben auch Evolution stattfindet mit Hilfe von schon vorhandenen Genvarianten. Dass also nicht neue Mutationen entstehen oder das wahrscheinlich nicht der Hauptfaktor ist, aber dass das Zusammenkommen verschiedener Genvarianten in einem neuen ökologischen Kontext wie in so einem Kratersee ein wichtiger Mechanismus ist und dann eben auch zu dieser Vorhersagbarkeit führt in gewissem Rahmen der Evolution.
Evolution passiert offenbar viel schneller als bisher angenommen
Pyritz: Sie forschen mit Fischen. Der US-Wissenschaftler Richard Lansky forscht seit ungefähr 30 Jahren zur Evolution von Bakterien. Kennen Sie das Projekt, und wie kann es helfen, die Frage nach der Vorhersagbarkeit der Evolution zu beantworten?
Meyer: Das Tolle ist eben, dass man die Bakterien einfrieren kann und wieder zum Leben erwecken kann in Anführungsstrichen und sozusagen Zeitreisen in die Vergangenheit machen kann, um zu sehen, was passiert, wenn ich 10.000, 20.000, 30.000 Generationen mir die Bakterien angucke. Als Fischforscher würde ich natürlich sagen, Bakterien sind ziemlich langweilig und nicht besonders spannend anzugucken, aber von der genomischen Seite ist es natürlich ein sehr schönes, kraftvolles Experiment, wo man auch gerade heute, wo man jedes Genom sequenzieren kann, genau im Detail auf jede Mutation schauen kann. Das ist also wirklich ein fantastisches Experiment.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.