Willy Brandt und die Frauen – dieses Thema begleitet die Erinnerungen an den legendären SPD-Politiker. Aber merkwürdigerweise fehlt dabei zumeist eine Frau, die im norwegischen Exil an seiner Seite war. Gertrud Meyer stammte wie Brandt aus Lübeck, lebte von 1933 bis 1939 mit ihm in der norwegischen Hauptstadt Oslo und war damals seine Lebensgefährtin und wichtigste politische Mitstreiterin.
Diese Lücke zu füllen, hat sich nun die wissenschaftliche Referentin im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, Gertrud Lenz, verdient gemacht. In ihrem Buch über Gertrud Meyer setzt sie dieser bemerkenswerten Linkssozialistin ein Denkmal. Gleich in der Einleitung geht die Autorin ausführlich darauf ein, warum Meyers geschichtswürdige Lebensleistung in den Brandt-Biografien bisher vernachlässigt, wenn nicht sogar negiert wurde:
"Gertrud Meyer selbst beteiligte sich, im Unterschied zu Willy Brandt, nicht am Prozess des sogenannten biographischen Arbeitens. Betrachtet man ihre Persönlichkeit, verwundert diese Zurückhaltung nicht. Bereits in ihrem Schulzeugnis wurde Gertrud Meyer als ein stilles, bescheidenes Mädchen charakterisiert, das jedoch zu den besten der Klasse zähle. Diese Zurückhaltung ist charakteristisch für das Selbstverständnis von Frauen als Akteurinnen in historischen Prozessen. Im Unterschied zu Männern verstehen Frauen ihren individuellen Lebensweg meist nicht als Spiegelbild ihrer Zeit und sehen sich selbst nicht als Zeitzeuginnen im Mittelpunkt des historischen Geschehens."
Hinzu kam, wie Lenz nachvollziehbar beschreibt, dass Meyer sich in späteren Jahren bewusst Interviews enthielt und damit zu ihrer öffentlichen Marginalisierung selbst beitrug. Dies geschah auch, um Brandt zu schützen, der in Deutschland wegen seiner Zeit im norwegischen Exil lange hart angegangen wurde. So schreibt Lenz:
"In den fünfziger und sechziger Jahren sah sich Gertrud Meyer angesichts der Angriffe von kommunistischer, konservativer und rechtsradikaler Seite gegen den SPD-Kanzlerkandidaten und SPD-Parteivorsitzenden zudem in der Verantwortung, durch ihre Zurückhaltung ihn und die deutsche Sozialdemokratie zu schützen, indem sie sich nicht öffentlich zu ihrem politischen Wirken im Kampf gegen den Nationalsozialismus und Faschismus an der Seite Willy Brandts äußerte."
Wer war also diese Gertrud Meyer? Im Juli 1914 wurde sie in Lübeck als zehntes Kind in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Die junge Frau war fleißig und intelligent, sodass sie nach der Mittleren Reife eine kaufmännische Lehre absolvierte und zunächst als Stenotypistin tätig war. Neben ihrer Arbeit war Meyer als überzeugte Linkssozialistin politisch aktiv und engagierte sich wie Willy Brandt in der später verbotenen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. 1933 wurde sie in Lübeck verhaftet und verlor ihren Arbeitsplatz. Im gleichen Jahr reiste sie zu Brandt nach Oslo, wo sie sich im Widerstand gegen Hitler engagierte und als spätere Leiterin der SAP-Gruppe eine eigenständige politische Rolle einnahm. Obwohl Gertrud Meyer zeitweise sogar seinen Lebensunterhalt sicherte, spielte Brandt ihre Bedeutung in seinen Lebenserinnerungen herunter, wie die Autorin in ihrem Buch beschreibt:
"Die Bedeutung der Unterstützungstätigkeit Gertrud Meyers für Willy Brandt selbst und die SAP-Gruppe Oslo wird in den beiden Autobiografien Willy Brandts, in denen er Gertrud Meyer erwähnt, nicht in ihrer tatsächlichen Dimension dargestellt. Im Unterschied zu zeitgenössischen Bewertungen verkleinert Willy Brandt durch die Art der Darstellung die wahre Bedeutung ihrer Hilfsleistungen für sein Leben als Emigrant im norwegischen Exil. Außerdem unterschlägt Brandt in den beiden genannten Autobiografien den Status von Gertrud Mayer als politischer Flüchtling.
Lenz benennt diese Unstimmigkeit nicht nur, sondern zeichnet anhand der Quellenlage ein ganz anderes Bild: Sie beschreibt Gertrud Meyer als versierte Fachfrau, die aufgrund ihrer Fremdsprachenkenntnisse, ihrer gestalterischen und technischen Fähigkeiten sowie ihrer kaufmännischen Kompetenz für die politische Arbeit in Oslo schnell unentbehrlich wurde. Meyer arbeitete lange parallel für den bedeutenden Psychoanalytiker und Mediziner Wilhelm Reich. Sie folgte ihm als enge Mitarbeiterin in die USA, wo sie auch ihre politische Arbeit fortsetzte und weiter mit Brandt in enger Verbindung stand. Anfang der 40er-Jahre veränderte sich Meyers Leben grundlegend, wie die Autorin beschreibt:
"Die 1941 erfolgte Trennung von Wilhelm Reich zwang Gertrud Meyer, sich beruflich neu zu orientieren. 1942 brach sie zu Willy Brandt bis zum Kriegende jeden Kontakt ab, als sie von der Ehe mit Carola Thorkildsen und Geburt der Tochter erfuhr. Trotz ihrer gesicherten Lebensverhältnisse geriet sie durch das Zerbrechen ihrer bisherigen Lebenswelt in eine schwere seelische Krise, wie sie Willy Brandt nach Kriegende bekannte: 'Die ganzen Jahre waren ein großes schwarzes Loch. Ich versuche die Jahre so schnell wie möglich zu vergessen. Ich bin ein optimistischer Mensch. Trotzdem war es schwer. Ich war sehr viel allein'."
Leider gibt es in dem Buch nur wenige Stellen wie diese, in denen Gertrud Meyers eigene Stimme in solchen Originalzitaten hörbar wird. Da das Werk auf eine Dissertation aufbaut, konzentriert sich die Autorin darauf, Meyers Lebensweg anhand von Primärquellen aufzuarbeiten und ihr einen Platz in der Geschichte einzuräumen. Eindrucksvoll gelingt es, am Beispiel von Meyers Leben aufzuzeigen, wie es kommt, dass Lebensleistungen von Frauen in der Geschichte in Vergessenheit geraten können und wie schwierig es für Historiker ist, sie aus dem Schatten bedeutender Männer hervorzuholen. Gleichzeitig bleibt die Lektüre leider in langen Passagen sehr trocken. Es gelingt der Autorin nicht ausreichend, die Persönlichkeit von Gertrud Meyer lebendig werden zu lassen. Auch die Beziehung zwischen ihr und Brandt wirft mehr Fragen auf, als das Buch beantwortet. Nur zwischen den Zeilen ist zu spüren, wie tragisch diese Liebe für Gertrud Meyer gewesen sein muss. Sie heiratete später einen norwegischen Kapitän, mit dem sie zwei Kinder hatte und führte ein zweites, auch berufliches anderes Leben, fern der Politik und fern von Brandt.
Gertrud Lenz: "Gertrud Meyer. Ein politisches Leben im Schatten Willy Brandts (1914-2002)", Verlag Ferdinand Schöningh, 394 Seiten, Euro 39,90, ISBN: 978-3-506-77569-6