Archiv

Biografie
Die Wiederentdeckung der Marie von Ebner-Eschenbach

In ihren letzten Lebensjahren war sie die regierende Fürstin der deutschsprachigen Literaturwelt: Marie von Ebner-Eschenbach, die österreichische Realistin, die sich mit sozialkritisch-psychologischen Romanen und Erzählungen einen Namen gemacht hatte. Zum ihrem 100. Todestag am 12. März bringt die Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl eine 440 Seiten starke Biografie der Dichterin heraus.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Spuren im Sand.
    Wollte eine leise Spur ihrer Schritte einprägen: Marie von Ebner-Eschenbach. (picture alliance / ZB / Jens Kalaene)
    Sie muss eine beeindruckende Frau gewesen sein, die Gräfin Marie von Dubsky, spätere Baronin von Ebner-Eschenbach. In ihren Backfischjahren war die Aristokratentochter aus dem Mährischen ein fantasievolles, als ungebärdig geltendes "Komtesserl", wie berichtet wird, eine selbstbewusste, junge Dame, die kompromisslos einen für ihre Zeit und ihre Kreise ungewöhnlichen Weg beschritten hat: Sie wurde Dichterin – gegen den Widerstand ihrer feudalherrschaftlichen Familie. Daniela Strigl zeichnet in ihrer Biographie das Bild einer ebenso begabten wie eigenwilligen jungen Frau.
    "Sie war eine begeisterte Reiterin, sie war eine Draufgängerin. Sie hat sich über alles lustig gemacht, was als heilig gegolten hat in ihren Kreisen: über den Adel und seine Oberflächlichkeit, über die Kirche, über Betschwestern aller Art. Also, sie war durchaus eine, die anecken wollte und das auch auf sich genommen hat."
    An Selbstsicherheit scheint es Marie von Ebner-Eschenbach schon in jugendlichem Alter nicht gemangelt zu haben. Ihrem Freund und Biographen Anton Bettelheim verriet die Autorin in reiferen Jahren:
    "Ich war ein junges Mädchen, beinahe noch ein Kind, meine traumhaften Ansichten, meine Sympathien und Antipathien wechselten wie Aprilwetter; aber eines stand immer klar und felsenfest in mir: Die Überzeugung, dass ich nicht über die Erde schreiten werde, ohne ihr eine wenigstens leise Spur meiner Schritte eingeprägt zu haben."
    Konservativ war Ebner-Eschenbach nur in fortgeschrittenerem Alter
    Das ist Marie von Ebner-Eschenbach gelungen. Gegen Ende ihres Lebens war die Baronin eine europäische Berühmtheit, in zahlreiche Weltsprachen übersetzt, von Kaiser Franz-Joseph ebenso geschätzt wie vom führenden Personal der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie.
    "Sie war ja wirklich eine Kultautorin. Sie war die berühmteste Autorin ihrer Zeit und hat diesen Ruhm verwaltet von einem konservativen Selbstverständnis aus."
    Daniela Strigl will Marie von Ebner-Eschenbach in ihrer Biographie von diesem konservativen Odeur befreien. Denn konservativ war Ebner-Eschenbach nur in fortgeschrittenerem Alter, und das in einem liberalen Sinne. Strigl schreibt:
    "Dass Ebner-Eschenbach als Figur heute in irgendeiner Weise sexy wäre, wird kaum jemand behaupten. Man verbindet mit ihr das etwas angestaubte Bild einer Matrone und einen Tugendkatalog ganz nach dem Geschmack des 19. Jahrhunderts: Güte, Mitleid, Weisheit, Mütterlichkeit, Mitmenschlichkeit, Tierliebe, Herzenswärme ... Ebner-Eschenbachs Image ist heute nicht nur das einer immer schon alten, sondern das einer altmodischen Frau. Was vor gut hundert Jahren Gegenstand der Verehrung war, ist zum Rezeptionshindernis geworden: Der 'gute Mensch von Zdislawitz', wie sie einmal genannt wurde, wirkt abschreckend in seiner Biederkeit."
    "Sie ist keine Autorin, bei der Erotik eine große Rolle spielen würde, aber sie ist eine Autorin, die in vielen Aspekten sehr zeitgemäß und zeitlos ist: in ihrer Gesellschaftskritik, in ihrem Engagement für Frauenrechte und in ihrem Humor und ihrer Ironie."
    Lauter moderne Eigenschaften. 1830 geboren und 1916 gestorben: Marie von Ebner-Eschenbach teilt ihre Lebensdaten bis auf Geburts- und Sterbejahr genau mit denen Kaiser Franz-Josephs. Das 86 Jahre währende Leben der Dichterin umfasst eine gewaltige Zeitspanne: vom Vormärz über die 1848er-Revolution und die Blütejahre des Liberalismus in der Gründerzeit bis hin zum Ersten Weltkrieg.
    Von den enormen Umwälzungen dieser Zeit kann die junge Comtesse noch nichts ahnen, als sie in den 1830er- und 40er-Jahren ihre Kindheit und Jugend teils in Wien, teils auf dem mährischen Familienschloss Zdislawitz verbringt. Daniela Strigl lässt in ihrer Biographie das Bild einer jungen Frau erstehen, die in den Konventionen der Zeit heranwächst, zwischen Klavierunterricht und Französisch-Stunden, erzogen, gehegt und verhätschelt von frankophonen Gouvernanten, tschechischen Dienstmägden und gräflichen Tanten und Großmüttern. Die junge Aristokratin entdeckt ihre Begeisterung fürs Reiten – sie genießt die stundenlangen, Ausritte über die Felder und Fluren von Zdislawitz –, sie entdeckt aber auch, folgenreicher, ihre Liebe zur Literatur und zum Theater, sie begeistert sich für die Balladen Schillers und, als eifrige Besucherin des Burgtheaters, für die Bühnendichtungen Shakespeares, Grillparzers, Goethes. Für Marie von Dubsky steht fest: Auch sie will Dichterin werden, ganz wie ihre bewunderten Vorbilder.
    Gegen allerlei Widerstände beginnt sie zu schreiben
    Zunächst aber gilt es, der väterlichen Einfluss-Sphäre zu entkommen. Denn Graf Dubsky, ein K.u.k.-Patriarch der alten Schule, ist alles andere als erfreut, dass sich die jüngere seiner Töchter als Literatin versucht. Die Lösung: Marie begibt sich auf die Suche nach einem Bräutigam – und findet ihn in Gestalt ihres Cousins Moriz, Freiherr von Ebner-Eschenbach, den sie seit Kindertagen kennt und verehrt. Der um fünfzehn Jahre Ältere ist Militär vom Scheitel bis zur Sohle, ein liberaler, den Wissenschaften aufgeschlossener Mann.
    "Im Jahr 1848 hat Ebner-Eschenbach geheiratet, ihren um fünfzehn Jahre älteren Cousin, und als die Revolution ausbrach, haben beide mit den liberalen Anliegen sympathisiert. Gleichzeitig war ihnen der Ausbruch der Gewalt aber auch unheimlich. Sie war da zwiegespalten."
    Gegen allerlei Widerstände, auch vonseiten der Literatur- und Theaterkritik, beginnt Marie von Ebner-Eschenbach, wie sie nun heißt, zu schreiben und zu publizieren, für die Bühne zunächst, dann immer intensiver auf dem Feld der erzählenden Prosa. 1876 veröffentlicht sie die Erzählung "Božena", eines ihrer besten Werke bis heute, wie Daniela Strigl befindet, später folgen erfolgreiche Romane und Erzählungen wie "Unsühnbar", "Das Gemeindekind", "Lotti, die Uhrmacherin" und die berühmte Hundegeschichte "Krambambuli", die Strigl vor vielen, vielen Jahren zur Ebner-Eschenbach-Leserin gemacht hat, wie sie in ihrer Biographie bekennt:
    "Krambambuli gehörte zu meinen frühesten Leseereignissen. Ich hatte die Ausgabe auf dem Dachboden meiner Großeltern gefunden und fieberte mit der armen, zwischen zwei Herren zerrissenen Hundeseele mit, aber auch mit dem in seiner Gekränktheit wie vernagelten Revierjäger Hopp. Als der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht hatte, brach die Geschichte ab: Die letzten Seiten, ich wusste nicht, wie viele, fehlten in meinem Buch, eine bittere Enttäuschung zunächst. Weil ich aber ahnte, dass es kein gutes Ende nehmen würde mit dem von seinem rechtmäßigen Besitzer verstoßenen Krambambuli, mied ich jede Gelegenheit, die Erzählung zu Ende zu lesen. So dachte ich mir mein eigenes, versöhnliches Ende aus: Kinder sind ja selten Anhänger einer kompromisslosen Dramaturgie."
    Daniela Strigl arbeitet in ihrer Ebner-Eschenbach-Biographie die Modernität der Dichterin heraus, vor allem auch auf politischem Gebiet:
    "Ebner-Eschenbach war sehr ihrer Zeit voraus, was das Frauenbild betroffen hat: Die Erziehung junger Mädchen – da hat sie sich darüber mokiert, dass sich die Erziehung der bürgerlichen jungen Mädchen an den Adeligen ein Beispiel genommen hat, dass die Mädchen oberflächlich auf Konversation und schöne Künste hin instruiert wurden, aber keine tiefere Bildung bekamen."
    Marie von Ebner-Eschenbach hat lebhaften Anteil genommen an den politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Als Liberale mit wachem Blick für spießbürgerliche Borniertheiten hat sie sich besonders gegen den Antisemitismus gewendet, der seit den 1880er-Jahren immer unverhohlener das öffentliche Leben in Deutschland und Österreich, aber auch in Frankreich bestimmt hat.
    Ein qualitativ und quantitativ imponierendes Werk
    "Sie war eine kämpferische Anti-Antisemitin, kann man sagen. Und das war für eine Aristokratin wahrhaftig nicht selbstverständlich. Da gab’s schon einen gemäßigten Antisemitismus unter katholischen Adeligen. Auf Initiative von Bertha von Suttner ist sie Mitglied geworden, zusammen mit ihrem Mann, beim "Verein zur Abwehr des Antisemitismus". Und der war eine Reaktion auf den politischen Stil des Karl Lueger in Wien. Das war der christlich-soziale Bürgermeister, der gerade mit einem antisemitisch grundierten Wahlkampf populär wurde. Sie hat gemerkt, dass das die gesamte Stimmung in der Stadt vergiftet."
    Wenn es gegen den Antisemiten Lueger geht, wird Ebner-Eschenbach fast schon ausfällig. In einem Brief an einen ihrer Freunde, den Wiener Arzt Josef Breuer, erscheint der christlich-soziale Bürgermeister der Stadt als "der niederträchtige Lueger", im Tagebuch als ein "gewalttätiger Schwindler", seine Parteifreunde nennt sie "Spießgesellen" und "Canaillen".
    Allen Empörungen zum Trotz: Die literarische Produktion geht weiter. Am Ende ihres Lebens hat Marie von Ebner-Eschenbach nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ein imponierendes Werk geschaffen.
    "Ebner-Eschenbach wurde schon zu Lebzeiten vielfach übersetzt, und sie war auch, so wie Peter Rosegger, im Gespräch für den Nobelpreis, den sie dann nicht bekommen hat. Selma Lagerlöf hat ihn bekommen, und sie hat sich bemüht, sie trotzdem zu bewundern."
    Mit ihrer Biographie setzt Daniela Strigl Maßstäbe in der neueren Ebner-Eschenbach-Rezeption. Die 51-Jährige zeichnet das Leben der Dichterin empathisch, aber mit kritischer Distanz nach, wie es sich gehört. Vor allem aber streicht Strigl die frappierende Frische und Modernität heraus, die das Werk der widersetzlichen Baronin – bei aller Zeitbedingtheit – bis heute kennzeichnet. Strigls Resümee:
    "Das Werk der Marie von Ebner-Eschenbach hält der strengsten Prüfung stand. Es zeichnet kein geschöntes, sondern ein realistisches Bild der Gesellschaft. Wer sich darauf einlässt, betritt keine muffige Stube in altdeutscher Eiche, sondern einen Raum von klassischer Modernität: Ebner-Eschenbachs Werk enthält 'die erstaunlichsten Identifikationen mit dem Dunklen und Abgründigen', wie Gertrud Fussenegger einmal festgestellt hat, es ist 'nicht nur von leidenschaftlichen Gefühlstönen, es ist auch mit beißenden Ironien durchsetzt'. Und es vermag über den Abgrund der verstrichenen Zeit hinweg Leserinnen und Leser zu bewegen."
    Wie wahr. Zur Wiederentdeckung Marie von Ebner-Eschenbachs sollte auch die vierbändige Leseausgabe beitragen, die Daniela Strigl zusammen mit ihren Germanistenkolleginnen Ulrike Tanzer und Evelyne Polt-Heinzl soeben im Residenz-Verlag herausgegeben hat. Zwei Kilo Ebner-Eschenbach im schmucken, vielfärbigen Schuber. Wer Jane Austen, George Eliot und die Bronte-Sisters mag, so steht zu vermuten, wird auch mit diesen Romanen und Erzählungen seine Freude haben. Humanistische Literatur im aufgeklärten K.und-k.-Sound: Gehet hin und leset.
    Daniela Strigl: "Berühmt sein ist nichts – Marie von Ebner-Eschenbach – Eine Biographie", Residenz-Verlag, Salzburg, 440 Seiten, 26,90 Euro.

    Marie von Ebner-Eschenbach: "Leseausgabe im Schuber", 4 Bände, hrsg. von Ulrike Tanzer, Daniela Strigl und Evelyne Polt-Heinzl, Residenz-Verlag, Salzburg, 1400 Seiten, 75 Euro.