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Biografie Theodor Heuss
Verständiger Mann mit Überblick

Er war das erste Staatsoberhaupt der neuen Bundesrepublik: Theodor Heuss. Ein vielseitiger Mann mit verschiedenen Interessen und Talenten. 50 Jahre nach seinem Tod gibt es noch allerlei Neues über ihn zu entdecken – so in der Biografie, die der Historiker Joachim Radkau vorgelegt hat.

Peter Carstens |
    Wer Heuss sagt, muss auch "Papa" sagen. Unter diesem Spitznamen ist er in die bundesdeutsche Geschichte eingegangen. Der schwäbische Gelehrte, FDP-Gründer und heitere Zigarrenraucher bot gegen den kühl-autoritären Adenauer ein wärmendes Sinnbild dessen, was er selbst als sein politisches Programm bezeichnet hätte: "Entkrampfung". In seiner Neujahrsansprache als Bundespräsident beschrieb Theodor Heuss am 31.Dezember 1950 auch seine eigene Rolle, als er den deutschen Radiohörern sagte:
    Der Bundespräsident (...) hat dies als stärksten Wunsch, den er in das werdende Jahr ruft: Begegnet euch wieder in dem Geist realistischer Sachlichkeit und menschlicher Vertrauenskraft. Die rednerischen Heißsporne, die sich selber und vielleicht auch manchem Zuhörer mit flotter und unbedarfter Polemik Freude machen, gehören jetzt, heute nicht auf die Tribüne, aber die verständigen Männer mit Überblick, mit Respekt vor dem Partner, mit einem freien Spürgefühl für das Werdende und tapferer Entscheidung an den Beratungstisch.
    "Papa Heuss"
    Ein "verständiger Mann mit Überblick", das wollte Heuss sehr gerne sein. Die Bezeichnung "Papa Heuss" hat er allerdings verachtet, wie Joachim Radkau in seiner ausführlichen Biografie schreibt. Der Bielefelder Historiker, der Heuss noch als Schüler erlebt hat, führt die Leser auf eine Wanderung durch das Leben eines großen Liberalen. Sie beginnt in den Weinbergen am Neckar, führt in den zwanziger Jahren nach Berlin, dann durch Krieg und Nachkrieg hindurch nach Bonn zum Parlamentarischen Rat und schließlich in die Villa Hammerschmidt. Radkau will bei seiner Darstellung, die auch ein Spaziergang durch 80 Jahre deutscher Geistesgeschichte ist, ergründen, was an Heuss das politisch Bedeutende war. Denn das sei schwer zu beschreiben:
    Da gerät man in Verlegenheit durch die Frage, was Heuss eigentlich konkret getan habe, außer der Wiedereinführung von Orden und diesem und jenem Klimbim.
    Zu diesem "Klimbim" gehört wohl auch der Streit um die deutsche Nationalhymne, den Heuss gegen Adenauer focht. Der Bundespräsident griff dabei zusammen mit einem Männerfreund selbst zur Feder. Seinen Entwurf für ein romantisches Lied der Bundesdeutschen verlas er dann sogar im Radio:
    Land des Glaubens, deutsches Land, Land der Väter und der Erben, uns im Leben und im Sterben Haus und Herberg, Trost und Pfand ...
    Adenauer hingegen wollte "Einigkeit und Recht und Freiheit". Natürlich gewann er diesen Streit. "Theos Nachthymne", wie das Lied bald spöttisch genannt wurde, wanderte ins Archiv. Denn Adenauer hatte, hier im Grunde einig mit Heuss, nicht die geringste Absicht, dem Bundespräsidenten auch nur einen Hauch echter Macht einzuräumen. Das Grundgesetz, an dessen Entstehung Heuss aktiv mitgewirkt hatte, wollte ausdrücklich an der Staatsspitze keinen mächtigen Mann mehr, wie es einst der Reichspräsident gewesen war.
    Kollektivscham statt Kollektivschuld
    Was Heuss zwischen 1949 und 1959 dem neuen Amt verlieh, war, so formuliert es Radkau, eine "zwanglose Würde". Er trat ein für "Kollektivscham" statt kollektiver Schuld, bahnte der modernen Kunst nach dem Nazi-Kitsch Wege in die Mitte der Gesellschaft und war in mancher Hinsicht das Gegenteil von Adenauer.
    Heuss strahlte Harmonie aus, zumindest in der Öffentlichkeit. Adenauer dagegen war bekanntermaßen kampfeslustig. ( ... ) Heuss tat sich unter den Bonner Politikern stets durch seine feine und vielseitige Bildung hervor, die er in weit ausholenden Reden und komplizierten Satzkonstruktionen zur Schau stellte; Adenauer dagegen liebte die an Primitivität grenzende Vereinfachung aller Dinge.
    Die Weitläufigkeit des Denkens, die Vielfalt tausender Briefe und Artikel, aber auch das Ungefähre vieler Ansichten – all dies wäre Joachim Radkau bei seiner biografischen Arbeit beinahe zum Verhängnis geworden. Denn es fiel ihm offenbar schwer, in der Vielfalt des Heuss´schen Daseins als Liberaler, Journalist, Ökonom, Weltbürger und Schwabe den roten Faden nicht zu verlieren. Selbstironisch schreibt der Bielefelder Historiker in seinem Nachwort von Wesensverwandtschaften:
    Heuss brauchte für seine Texte im Idealfall immer jemanden, der sie "entheusste", sie von überladenen Sätzen und Ausschweifungen entschlackte. Da spürte ich in meinen Schwächen eine fatale Nähe.
    Doch die Mühen des Lektorats haben sich am Ende gelohnt. Entstanden ist so eine fast kongenial wirkende Heuss-Begleitung, bei der die Promotion über "Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar" ebenso liebevoll erörtert wird wie die Briefwechsel mit den jüdisch-amerikanischen Freunden und einigen Frauen. Und bei alledem präsentiert Radkau den Lesern ein neues Heuss-Bild, jenseits von Zigarre und Klimbim:
    Obwohl Heuss als Bundespräsident unablässig in der Öffentlichkeit redete und sich sein Ansehen wesentlich auf seine großen Reden gründete, spricht einiges dafür, dass er sich noch höhere und bislang zu wenig gewürdigte Verdienste um sein Land im Verborgenen oder Halb-Verborgenen erwarb durch die Vernetzung einer neuen bundesdeutschen Elite, die von Adenauer bis Adorno, vom konservativ-nationalen Establishment bis zu einst emigrierten Linksintellektuellen reichte, durch sein Kommunizieren und Briefeschreiben ( ... ) durch persönliche Kontakte und nicht zuletzt auch durch seine Entschärfung des Kalten Kriegs auf unauffällige Art – durch seine Kunst der Atmosphäre.
    Radkau erweckt in seiner Biografie des ersten Bundespräsidenten diese "Kunst der Atmosphäre" zu neuem Leben und leistet damit einen Beitrag, die tiefere Bedeutung des oberflächlich heiteren Mannes zu erkennen, der so lange als "Papa Heuss" verkitscht worden ist.
    Joachim Radkau: Theodor Heuss
    Carl Hanser-Verlag, 640 Seiten, 27,90 Euro
    ISBN: 978-3-446-24355-2