Autoren, die man allein an ihrer Sprache erkennen kann, gibt es viele. Aber Kritiker? Da fällt einem eigentlich nur einer ein: Alfred Kerr. Kerr war der meistbewunderte, meistgefürchtete Literaturkritiker, den die Deutschen je hatten, er war so etwas wie der Marcel Reich-Ranicki der Kaiserzeit und Weimarer Republik. Seine Texte erkennt man meist schon am ersten Satz. Und natürlich an ihrem Markenzeichen, der Gliederung in I., II., III., weshalb Kerr-Kritiken schon optisch anmuten wie Gesetzestexte. 1924 begann eine Theaterbesprechung fürs "Berliner Tageblatt" zum Beispiel so:
"Erstens, die Kritik ist kurz. Noch ein Auftritt, noch ein Auftritt. Steigerungslos. Angeklebt. Vier Stunden fast. Wer nicht schläft, wächst aus. Jemand kann Zitherspieler werden. Jemand kann Möbeltischler werden. Jemand kann Lithograf sein oder im Baugeschäft. Aber warum Dramatiker – wenn ihm just diese Fähigkeit mangelt?"
Kritiken teilweise brillanter als die besprochenen Werke
Kerrs "Opfer" war in diesem Fall übrigens kein Geringerer als Bertolt Brecht. Obwohl das bezeichnenderweise gar nicht so wichtig ist: Denn Kerr war mehr als ein Kritiker – er war ein Sprachkünstler, der seinesgleichen suchte. Er schrieb brillanter, origineller und witziger als all seine Konkurrenten in der Berliner Theaterkritik – darunter klangvolle Namen wie Maximilian Harden, Siegfried Jacobsohn oder Herbert Jhering. Oft sind seine Texte sogar bedeutender als die besprochenen Werke und Autoren, von denen heute ja viele längst vergessen sind. Kerr selbst wusste das freilich nur zu gut und rieb es seinen Gegnern immer wieder genüsslich unter die Nase.
"Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz."
"Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz."
Mit seiner Eitelkeit, seinem übersteigerten Selbstbewusstsein, polarisierte Kerr, seit er in den 1890er-Jahren seine ersten Kritiken veröffentlichte. Dass er aber mit seinem Auftreten innere Unsicherheiten, auch aufgrund seiner jüdischen Herkunft, versteckte – das erfährt man nun erstmals aus einer jetzt erschienenen Biografie des Kritikers, verfasst von Deborah Vietor-Engländer. Als Mitherausgeberin der Werkausgabe ist die Autorin, 1946 in London geboren, eine ausgewiesene Kerr-Spezialistin.
Sohn eines jüdischen Weinhändlers
Und ihre 700-Seiten-Biografie – übrigens die erste über diesen Kritiker – ebenso elegant geschrieben wie kenntnisreich und zitierfreudig. Das Werk informiert über praktisch jeden Aspekt dieses Kritikerlebens: über die vielen Literaturfehden Kerrs, etwa mit Karl Kraus, oder über den tragischen Tod seiner jungen Gattin Inge nach nur drei Monaten Ehe, über seine berüchtigte Propagandalyrik im Ersten Weltkrieg, die Armut der Exiljahre oder seinen Freitod 1948 nach einem Schlaganfall in Hamburg.
1867 als Sohn eines jüdischen Weinhändlers in Breslau geboren, ergriff der junge Kerr in Berlin den "wundersamsten Beruf, den ein Mensch haben kann", wie er später schrieb. Warum, das liegt nach der Lektüre der Biografie auf der Hand: Nicht nur wegen seines Ehrgeizes oder seiner Streitlust oder weil das Theater nach 1900 das Reflexionsmedium der Gesellschaft war. Sondern weil ihm die Kritik "pure Selbsterfahrung und Selbsterprobung" ermöglicht habe, so Vietor-Engländer. Oder, in Kerrs Worten:
"Weil etwas in mir über Dinge der Außenwelt hienieden unwissentlich einen Beschluss fasst; im Keller des Bewusstseins automatisch ein Urteil fällt; eine Quittung stellt. Weil ich vor jeglicher Gestaltung des Irdischen gedrängt bin: zu preisen oder zu rülpsen."
Gegen Korruption und Zensur
Gegner wie Bertolt Brecht verspotteten Kerr gern als "kulinarischen Kritiker", als Vorkoster eines unterhaltungssüchtigen Publikums. Womit sie ihm Unrecht taten: Kerr war zeitlebens politisch hellwach und kämpfte schon in der Kaiserzeit gegen Korruption und Zensur. Und in den Weimarer Jahren früher als viele andere gegen die Nazis, die er als "Frühstufigste" und "Primitivste" verspottete. Schon Ende 1931 konnte er nur unter Polizeischutz zum Rundfunk fahren und musste zwei Jahre später als einer der ersten aus Deutschland fliehen.
Für seine Biografin gehört Alfred Kerr zu einer Generation junger jüdischer Intellektueller, die von dem Ehrgeiz geprägt gewesen sei, "die zu erreichende Freiheit auch durch sich selbst darzustellen": einerseits mit dem Drang an die Öffentlichkeit, andererseits mit der Lust, das Leben in all seinen Facetten zu erfahren und zu genießen. Wozu Reisen, etwa nach Palästina oder nach New York, ebenso gehörten wie zahllose Liebesgeschichten.
"Die Sterne blühen, die Tage rauschen, die Abende wehen. Man lebt auf, ja gewissermaßen, man atmet wieder. Und in Träumen rauscht’s der Hain, und die Nachtigallen schlagen’s. Und allen Gegnern verzeiht man, sie sind ja bloß Hornochsen. Und fühlt eine Armee in seiner Faust und weiß, dass man die deutsche Sprache beherrscht, was unendliche Seligkeiten gibt. Die Welt wird schöner mit jedem Tag."
Lebenskünstler und Romantiker
Bis jenseits seines 50. Lebensjahres genoss Kerr sein Junggesellenleben in vollen Zügen, wie seine Notizbücher verraten, aus denen seine Biografin hier erstmals zitiert. Kerr sei ein Lebenskünstler gewesen, betont Deborah Vietor-Engländer, gesegnet mit der Gabe, noch den größten Schicksalsschlägen die "Seligkeit des Daseins" entgegenzuhalten. Und ein Romantiker, der im Grunde immer nur über sich und sein intensiv durchlebtes Leben geschrieben habe. Weshalb Kerrs Texte, von seinen Kritiken bis zu seinen Gedichten und "Berliner Briefen", auch als "großer Lebensbericht" zu verstehen seien – als "Seiten eines lebenslang geführten Tagebuchs".
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biografie. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2016. 720 Seiten, 29,95 Euro.