"Die Biografen sollen sich plagen ..." schrieb der junge Freud 1885 in einem Brief an seine Braut Martha Bernays, nachdem er Unterlagen, Briefe und andere schriftliche Zeugnisse vernichtet hatte. Das sind Zeilen, die sowohl von großem Selbst- und Sendungsbewusstsein als auch von nicht minder großem Ehrgeiz künden: Immerhin war Freud, als er dies schrieb, erst 29 Jahre alt und ein noch völlig unbekannter junger Arzt. Aber weder das Dunkel, das über seiner Kindheit und Jugend liegt, noch der Umfang seines Werkes haben die Biografen davon abgehalten, über den Mann zu schreiben, der Ende des 19. Jahrhunderts das Unbewusste entdeckte und mittels einer Sprechkur die Strukturen dieses Unbewussten bei seinen Patientinnen und Patienten freizulegen versuchte.
Als Klassiker der Freud-Biografie gelten die Arbeiten von Ernest Jones, einem Schüler Freuds, das Buch von Freuds Arzt Max Schur sowie das 1989 erschienene Standardwerk des amerikanischen Historikers Peter Gay. Nun hat der Berliner Literaturwissenschaftler Peter André Alt der Freud-Literatur eine weitere Biografie hinzugefügt. Alt nennt sein Buch "Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne" und – so viel sei schon hier gesagt – bringt im engeren biografischen Sinn wenig Neues. Im Zentrum der über 1000 Seiten umfassenden Untersuchung stehen bei ihm Freud als "Mann der Wissenschaft", als den er sich selbst immer gesehen hat, und die rekonstruierende Annäherung an das Werk. Einleitend gibt der Verfasser an, warum die Rekonstruktion sich auch heute noch lohnt:
"Es steht außer Frage, dass Freuds Lehre heute in einigen Punkten historisch überholt oder zumindest von der Geschichte konditioniert ist. Ihr Geschlechterbild, ihr Verständnis abweichender sexueller Praktiken, ihr Körpermodell und ihre Kulturtheorie waren stark geprägt von der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Freuds strenger Dogmatismus und die unerbittliche Konsequenz seiner Lehre lassen sich heute nur nachvollziehen, wenn man den gesellschaftlichen Puritanismus dieses versunkenen Zeitalters berücksichtigt, gegen den sie aufgeboten wurde.
Trotz der Irrwege, die Freud auch ging, kann man aber die kulturhistorische Leistung nicht leugnen, die seine Lehre als Moment der Moderne, als Instrument ihrer Deutung und ihr Motor zugleich vollbracht hat."
Zu Freuds Kindheit führt der Autor nur diejenigen Elemente an, die den Kern der späteren Theorie der Psychoanalyse berühren: Freud wurde 1856 in Freiberg, Mähren, als Sohn des Wollhändlers Jacob Freud und seiner 20 Jahre jüngeren Frau Amalia geboren und der Biograf richtet sein Augenmerk vor allem auf die Beziehung des Helden zu Vater und Mutter. Freud selbst sprach in Bezug auf seine Vaterimago vom "schwachen Riesenkerl", ein Ausdruck, der die Ambivalenz des Verhältnisses zum männlichen Elternteil spiegelt.
Gegenentwurf zum eher leichtlebigen Vater
Amalia Freud, die junge, schöne Mutter, 20 Jahre jünger als der Vater, der mit ihr in zweiter, manche glauben auch dritter Ehe verbunden war, erschien dem Kind als die Verkörperung erotischer Essenz. Das Konzept vom Ödipuskomplex, das fast jeder mit Freuds Namen verbindet, wird durch diese Darstellung erklärlich: ein Hin und Her zwischen Zuneigung und Hass gegenüber dem Vater auf der einen, die frühe Verliebtheit in die Mutter auf der anderen Seite.
Nach dem Umzug nach Wien ist das Leben der Familie durchweg prekär. Der Vater ist tagsüber in undurchschaubaren Geschäften unterwegs, die Quelle seiner Einkünfte ist unklar. Sigmund, lange der einzige Sohn und einer Schar von fünf jüngeren Schwestern vorstehend, ist den Mädchen gegenüber privilegiert. Er besucht das Gymnasium, hat ein Zimmer für sich und soll studieren, möglicherweise weil man in ihm schon den zukünftigen Ernährer der Familie sieht. Freuds jugendlicher Ernst, seine Askese bildeten offenbar eine Art Gegenentwurf gegenüber dem eher leichtlebigen Vater. In Wien wächst der junge Freud in einem Klima der Ausgrenzung heran: Durch den stetigen Zuzug von Ostjuden wächst der Antisemitismus in der Stadt. In Armut und Isolation aufwachsend, entwickelt Freud einen unersättlichen Bildungshunger, ist Klassenprimus, später Doktorand der Medizin, dessen Forschungsinteresse sich ganz den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, vor allem der Lehre Darwins, verpflichtet fühlt.
Hysterie als die Grundform neurotischer Erkrankung
Seine Laborarbeiten umfassen die Erforschung der Geschlechtsorgane von Aalen und der Spinalnerven kleiner Fische, das Sezieren von Flusskrebsen sowie die Präparierung menschlichen Gehirns. Es sind die Kontakte mit Praktikern wie dem Wiener Nervenarzt Josef Breuer und dem französischen Psychiater Jean-Martin Charcot, die seine Aufmerksamkeit von der Analyse des unmittelbar Beobachtbaren auf die Ebene der Psyche lenken. Bei Charcot in Paris lernt er die Hysterie und mit ihr die Grundform neurotischer Erkrankung des 19. Jahrhunderts kennen. Im Gegensatz zur Psychiatrie seiner Zeit sieht Freud die Ursache nicht in gehirnorganischen Defekten. Das Krankheitsbild ist Symptom von etwas anderem, etwas Unbearbeitetem seelischer Art:
"Mit dieser Einschätzung betraten Freud und Breuer wirkliches Neuland; die Behandlung der Hysterie konnte fortan von der Untersuchung der unbewussten, verdrängten Affekte, die sie auslösten, nicht getrennt werden. Sie wandelten sich von einer symptombezogenen Therapie zur Ursachenforschung und Tiefenanalyse."
Und nicht nur andere Therapieformen, auch neue Darstellungsformen schien das Leiden zu erzwingen:
"Nicht zuletzt korrespondierte die Beschreibung des hysterischen Anfalls dem Modell einer Novelle, denn sie leistete, was nach Goethes berühmter Definition das entscheidende Merkmal der Gattung bildete: die Schilderung einer 'unerhörten' Begebenheit. Die Patientinnen wurden selbst zum Text, den der Therapeut lesen, verstehen und deuten musste."
Hysterie und andere Formen der Neurose als Folge sexueller Unterdrückung zu beschreiben, war gewagt. In der Wiener Ärzteschaft machte sich Empörung breit. Freud wird bei Vorträgen ausgepfiffen. Von männlicher Hysterie oder kindlicher Sexualität will man im zeitgenössischen Wien nichts wissen. Freud verbringt lange Jahre in wissenschaftlicher Isolation und beginnt, sich selbst anhand seiner Träume zu analysieren.
Ein schmerzhafter Prozess, bei dem das frühkindliche Begehren gegenüber der Mutter und der Todeswunsch gegen den Vater als Rivalen sich herauskristallisiert. Und er findet den Inzestwunsch in Tragödien der Weltliteratur wie "König Ödipus" oder "Hamlet" wieder:
"(Ödipus) Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat, wie über ihn. Freud behauptete damit, dass die Liebe des Sohnes zur Mutter kein Einzelfall, sondern gattungsspezifisch und epochenübergreifend ist. Die normale Sozialisation erlaubt es, diese Prägung zu überwinden, 'unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen' und die Eifersucht auf den Vater zu 'vergessen'. Die Erblast kann also abgeworfen werden, und nur im Fall der Psychoneurotiker bleibt sie bestehen."
Freud dechiffrierte die Struktur der Träume
Hatten die Berichte seiner Patientinnen Freud zu den Mechanismen der Verdrängung und Triebunterdrückung geführt, so konnte er mittels der Traumanalyse auf das Unbewusste schließen, den Ort, an dem sich verbotene Sehnsüchte und Wünsche des Individuums verbargen. Die Kernthese des "Jahrhundertwerks" lautete, dass sich in jedem Traum eine Wunscherfüllung versteckt, die jedoch nur für den zu erkennen ist, der die Traumarbeit, ihre Verschiebungen, Verdichtungen und Symbolik versteht und zu lesen weiß. Freuds Leistung bestand in der Entwicklung einer Methode, mittels der die sprachähnliche Struktur der Träume zu dechiffrieren war.
"Der Traum ist zuerst Erfüllung eines Begehrens, während andere Bedeutungen nachrangig scheinen. Jede Emotion, die er erregt, bildet das Element seiner Erfüllungsfantasie. Das zeigen auch Prüfungsträume, die Angstträume sind: Dass man das Examen nicht bestanden habe, träume man nur, wenn man es im wirklichen Leben bereits erfolgreich absolviert hat. Der Traum bietet hier eine seelische Entlastung für reale Furcht vor künftigem Versagen an. Er signalisiert, dass man auch weitere Prüfungen des Lebens meistern werde, weil man die früheren bewältigt hat."
Zu Freuds großer Enttäuschung wurde das Traum-Buch, das 1900 erschien, zunächst kaum rezipiert. Größere Erfolge erzielten die auf die Traumdeutung folgenden Publikationen, die "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", die Studie über den "Witz und seine Beziehung zum Unbewussten" oder die "Psychopathologie des Alltagslebens", die ihn einer breiteren Leserschaft bekannt machten. In der Abhandlung zum Alltagsleben wollte Freud zeigen, dass auch Fehlleistungen ihre Quelle im Unbewussten haben:
"Auf paradoxe Weise bezeichnet der gesamte Mechanismus eine Form der enthüllenden Verbergung, ähnlich wie der Traum: Das was unsichtbar ist, das vergessene Wort, offenbart den geheimen Wunsch, die Angst oder die Hemmung, die im Dunkeln haust Der frischvermählte Gemahl, der seinen Trauring verlegt, offenbart durch seine Fehlleistung den heimlichen Wunsch nach erotischer Freiheit."
Zu dieser Zeit war auch Freuds Ruf längst über Wien hinaus gedrungen und hatte ihm reiche Patienten internationaler Herkunft eingebracht. Die Fallstudien der 10er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu Dora, zum Rattenmann oder Wolfsmann zeigen Patienten mit schweren Störungen und Obsessionen, die ihnen eine Teilnahme am normalen Alltagsleben erschwerten oder unmöglich machten. Ziel seiner Therapie war es, die Patienten davon zu entlasten, ihre Energie im seelischen Konflikt zu verbrauchen und sie wieder lebens- und genussfähig zu machen.
Freud will "reine Lehre" erhalten
Nach seinem 50. Lebensjahr gewinnt in Freuds Leben neben der publizistischen und therapeutischen Arbeit dasjenige an Gewicht, was die Biografen "psychoanalytische Politik" nennen. Die Lehre sollte tradiert und verbreitet werden. Aus dem engen Wiener Zirkel der Mittwochsgesellschaft, einer Art psychoanalytischer Salon, der wöchentlich in Freuds Wartezimmer stattfand, entwickelte sich sukzessive über seine Anhänger Karl Abraham in Berlin, Carl Gustav Jung in Zürich, Sandor Ferenzci in Budapest und Ernest Jones in London die Gründung psychoanalytischer Vereinigungen. Freud zeigt sich in der Phase der Gründungsbewegung von ungewöhnlicher Strenge gegen Gegner: Wer nicht für die Psychoanalyse - sprich Freuds Einsichten war - wurde unerbittlich ausgegrenzt. Die reine Lehre sollte erhalten bleiben, Zweifel wurden nicht geduldet. Zu dieser Unversöhnlichkeit gehören der Bruch mit C.G. Jung oder Otto Rank, mit sogenannten Renegaten wie Adler, Stekel, Reich, Groddeck oder Tausk. Auch Analytikerinnen wie Melanie Klein, Jeanne Lampl-de Groot oder Karen Horney, die Freuds Lehre vom Ödipus-Komplex oder seine phallozentrischen Ansichten über weibliche Sexualität relativierten, zogen sich seinen Zorn zu.
Freud blieb Patriarch bis zum Ende. Zu diesem Grundzug passte seine Rolle als Familienoberhaupt, in der er einem Haushalt mit Ehefrau, Schwägerin und sechs Kindern vorstand sowie seine Jahrzehnte währende, großzügige finanzielle Unterstützung seiner Eltern, seiner verwitweten Schwestern, seiner Neffen und Nichten, manchmal auch bedürftiger Patienten. Dazu passte auch seine identifikatorische Bewunderung für die mythische Figur des Moses. Die Moses-Skulptur des Michelangelo deutete Freud als jemanden, der in äußerstem Zorn über den Ungehorsam seines Volkes diesen Affekt zu beschwichtigen in der Lage ist, ihn unter Kontrolle bringt und sich auf seine Rolle als Überbringer des göttlichen Gesetzes besinnt. In der Triebkontrolle sah Freud nicht nur die Grundlage aller Zivilisation, sondern auch für sich ein hohes Ich-Ideal, auch wenn er - wie er einmal schrieb - "seinen Patienten manchmal den Hals umdrehen könnte".
In Freuds Altersstudie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" liest Alt im Subtext die Geschichte der Psychoanalyse als Bewegung:
"Schließlich bot Freuds vorletzte Arbeit eine heimliche Selbstdeutung seiner eigenen Rolle, die noch nicht ausreichend wahrgenommen worden ist. Hinter der Untersuchung des Moses stand die geschichtliche Bewertung der Psychoanalyse, beleuchtet aus dem Blickwinkel ihrer Gründungsmythologie. Die Psychoanalyse, deren Geschichte die Moses-Arbeit spiegelte, bezwingt ihre Gegner und überlebt ihren Gründer."
Die "schwärzeste Schrift", so Alt, die aus dem pessimistischen Spätwerk Freuds herausragt, ist "Jenseits des Lustprinzips". Das Lustprinzip, bis dahin nur vom Realitätsprinzip korrigiert, wird nun vom Todestrieb flankiert, welcher die Zustände des spannungslosen Daseins vor unserer Geburt wiederzuerlangen sucht. Das Ich, ohnehin "nicht Herr im eigenen Haus", ist neben den neurotischen Zumutungen auch noch diesen konfligierenden Kräften ausgesetzt.
Freuds letzte Schrift, "Der Abriss der Psychoanalyse", die er, vonseiner Krebserkrankung gezeichnet, kurz vor seinem Tod im Londoner Exil verfasste, kommentiert Alt mit einer Bewunderung, die sich gleichzeitig über seinen Protagonisten erhebt, wenn er ihm Souveränität zuschreibt:
"Zahlreiche Themen früherer Arbeiten erörterte Freuds Abriß mit lakonischer Brillanz. Die Traumlehre, die Neurosentheorie, die Beziehung von Triebverdrängung und Kulturleistung wurden in großer Souveränität abgehandelt. Wer immer eine Einführung in die Psychoanalyse benötigt, sollte als erstes Freuds letztes Buch lesen. Der Abriß der Psychoanalyse ist Unterrichtswerk und zugleich unendliches Projekt, hineingeschrieben in den offenen Horizont einer im Wortsinn dynamischen Wissenschaft."
Chronologisches Abarbeiten von Freuds Schriften
Sporadisch gibt es in dieser Biografie Einlassungen, die befremden, auch wenn sie nur Anekdotisches betreffen. So behauptet der Verfasser an mehreren Stellen, Freuds Interesse an Sexualität habe nur im Zusammenhang mit dem Kinderzeugen gestanden und sein Sexualleben sei nach der Geburt seiner jüngsten Tochter Anna, also im Alter von 40 Jahren, vollständig erloschen. Dagegen zitiert Peter Gay eine Notiz des Neunundfünzigjährigen, die sich auf einen Traum Freuds mit explizit sexuellem Inhalt bezieht und den er in Eigenanalyse auf den (Zitat) "gelungenen Geschlechtsakt vom Mittwoch" (Zitatende) zurückführt.
Wie auch immer: Alt arbeitet Freuds Schriften bis zu dessen Tod im September 1939 chronologisch ab. Das Sympathische an seinem Buch ist, dass er den Reichtum und die Vielfalt der Freudschen Schriften mit großer Einlässlichkeit würdigt, ohne hagiografisch zu werden.
Was fehlt, ist eine explizite kulturhistorische Verortung des Freudschen Werks in der Moderne, wie sie uns der Untertitel verspricht. Und: Diejenigen, die Peter Gays Biografie kennen, erfahren in diesem Buch nicht viel Neues, eher eine Einladung zur Relektüre Freuds. Für diejenigen jedoch, für die Freuds Arbeiten Neuland sind, werden die Entwicklungsschritte seines Denkens engmaschig und sorgfältig rekonstruiert und gut lesbar dargestellt.
Peter André Alt: "Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne"
C.H. Beck-Verlag 2016, 1038 Seiten, 34,95 Euro.
C.H. Beck-Verlag 2016, 1038 Seiten, 34,95 Euro.