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Biografie über Wilbert Olinde
Basketball mit Helmut Kohl

Amerikanist Christoph Ribbat spannt in seinen Büchern gerne den großen gesellschaftlichen Bogen. In "Deutschland für eine Saison" geht es vordergründig um Basketball. Doch eigentlich erzählt seine Biografie des schwarzen Sportlers Wilbert Olinde auch viel über Göttingen und die alte Bundesrepublik.

Von Christoph Schröder |
    Der ehemalige Basketball-Bundesligaspieler und jetzige "Inspiration Coach" Wilbert Olinde in seinem Büro in Hamburg
    Basketballspieler Wilbert Olinde kam 1977 eigentlich nur für eine Saison aus Los Angeles nach Göttingen. Doch er blieb, verhalf seinem Team zu mehreren Bundesligasiegen und arbeitet heute als "Inspirationscoach" in Hamburg (picture alliance / dpa / Marcus Brandt)
    Der Sport – Achtung, Floskel – schreibt seine eigenen Geschichten. Aber im besten Fall sind diese Geschichten dazu angetan, weit mehr als nur vom Sport zu erzählen. Zum Beispiel, indem sie gesellschaftliche Zustände kenntlich machen.
    So verhält es sich im Fall von Wilbert Olinde. Geboren in New Orleans, aufgewachsen in Kalifornien. Ein hochbegabter Basketballer, der im Jahr 1977 nach Deutschland kommt. Der ASC Göttingen 1846 hat ihn unter Vertrag genommen. Zu dieser Zeit galt im deutschen Basketball noch eine Sonderregelung: Jeder Verein durfte nur einen einzigen Ausländer, wie es seinerzeit noch hieß, unter Vertrag nehmen. Olinde war also der Exot, die "schwarze Perle", wie er schnell genannt wurde. Ein eher menschenscheuer, schlauer Junge, der fortan mit seinen höchstens semiprofessionell eingestellten Mitspielern zurechtkommen musste.
    Die rauchten vor dem Spiel erst einmal eine Zigarette, weil das angeblich die Leistung fördere, und trafen sich allabendlich in der Kneipe "Zum Altdeutschen". Im Detail genau und atmosphärisch erlebbar schildert Christoph Ribbat den soziokulturellen Kontext, in den Olinde ohne großes Hintergrundwissen hineinkommt:
    "Er kommt im Deutschen Herbst an, August '77, und sofort geht das alles los: die Entführung von Schleyer, die Flugzeugentführung. Er kriegt das aber alles nicht mit, weil er zu dem Zeitpunkt noch kein deutsches Fernsehen guckt oder deutsche Zeitungen liest, weil er noch nicht gut genug Deutsch kann. Göttingen ist dann aber auch wieder so ein Zentrum von einem linken Lager, das zum Teil auch recht nah dran ist an der RAF. Alle möglichen Leute sind zu diesem Zeitpunkt dort: Jürgen Trittin ist einer der Studentenführer, Ursula von der Leyen fängt an, dort zu studieren, hört aber sofort wieder auf, weil es Sicherheitsbedenken gibt, dass sie als Tochter des Ministerpräsidenten dort möglicherweise ein Opfer sein könnte. Dieter Bohlen wiederum ist ein BWL-Student, der in Göttingen in die Disko geht. Es ist eine seltsame Stadt, in die er kommt und ein seltsames Land."
    Olinde kommt aus einer "Hexenküche" des Rassismus
    Christoph Ribbat weitet seine Perspektive über Deutschland hinaus. Es geht ihm nicht darum, eine kuriose Anekdote aus der vertrauten alten Bonner Republik zu erzählen. Er hat recherchiert, ist dafür mehrfach in den USA gewesen, hat die biografischen Hintergründe seiner Figur erforscht und mit Olinde senior, Wilberts Vater, gesprochen.
    Ribbat nimmt eine hoch interessante Untersuchung vor: Zum einen beleuchtet er in einem Exkurs die Geschichte der Sklaverei als Olindes Familiengeschichte bis zum Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1955. Zum anderen aber rekonstruiert er den Weg der Familie Olinde, die aus dem offen rassistisch strukturierten Louisiana der 50er-Jahre in das vermeintlich liberale Kalifornien umsiedelt – um festzustellen, dass der Rassismus dort zwar subtiler und weniger offen praktiziert wird, aber dennoch den Alltag einer schwarzen Familie prägt.
    Ribbat merkte im Zuge seines Arbeitsprozesses, dass es nötig sein würde, die historischen Koordinaten seines Protagonisten genauer auszuleuchten:
    "Wenn man sich die Geschichte seiner Familie anguckt, dann wird einem klar, dass sie aus einer Art Laboratorium des Rassismus kommen. Oder vielleicht sollte man sagen: Hexenküche. Sein Vater stammt aus Point Coupee in Louisiana; das ist ein extrem gut erforschter Bezirk in Louisiana, weil es dort diverse Sklavenaufstände gab. Und deswegen gibt es so viel Material über die Anfänge der Sklaverei dort, über die Rassencodes, die dort in Kraft waren. Und ich musste einfach so weit zurückgehen, um herauszufinden, was diese Schwarz-weiß-Grenze damals bedeutet hat und was sie heute bedeutet, um die Geschichte komplett zu erzählen."
    "Du bist ja schwarz, du kannst bestimmt gut tanzen"
    Im deutschen Selbstverständnis dagegen existierte, zumindest bis zum Jahr 1990, kein offener Rassismus. Ausländerfeindlichkeit oder, um es euphemistisch zu sagen, ein gesundes Misstrauen gegenüber Fremden, das ja. Christoph Ribbat zeigt, dass auch diese Einschätzung ein Selbstbetrug war. Wilbert Olinde wird freundlich aufgenommen in Göttingen. Das liegt auch daran, dass er die Mannschaft, nach gewissen Startschwierigkeiten, zu großen sportlichen Erfolgen führt.
    1980 wird das Team sensationellerweise zum ersten Mal deutscher Meister; ein Triumph, der sich 1983 und 1984 wiederholen sollte. Parallel dazu studiert Olinde Betriebswirtschaft und schließt das Studium als Diplomkaufmann ab. Mittlerweile hat er im Griechenland-Urlaub Marion kennen gelernt, eine Tischtennisspielerin aus Bayern. Sie zieht zu ihm nach Göttingen; später werden sie heiraten.
    Olinde wird gefeiert und ist bestens integriert. Und doch beschreibt Ribbat auch, wie Olinde jenseits seiner Popularität als Sportler immer wieder an Grenzen stößt:
    "Manchmal hat er etwas beschönigendes und hat eine schulterklopfende Qualität, so eine Art positiver Rassismus: Ah, Du bist ja schwarz, Du kannst bestimmt gut tanzen. Aber er erlebt auch den harten, strukturellen, schmerzhaften Rassismus. Er ist einer der absoluten Sportstars von Göttingen und sucht eine Wohnung. Die Maklerin kennt ihn offensichtlich nicht als Sportstar und sagt dann eben auch: 'Ach nee, die Wohnung ist schon vermietet.' Obwohl sie noch nicht vermietet ist."
    Und dann der Anruf von Helmut Kohl
    1983 gibt Wilbert Olinde, der eigentlich vorhatte, nur ein Jahr in Deutschland zu bleiben, seinen amerikanischen Pass ab – gegen alle Warnungen der amerikanischen Botschaft. Der Kalte Krieg war in vollem Gange. Es gäbe kein Zurück mehr in die USA, so warnte man ihn. Olinde wird Deutscher. Politik, so vermutet Christoph Ribbat, spielte dabei eine weniger bedeutende Rolle, als man zunächst denken könnte. Vielleicht war sogar der Umstand, dass die "Ein-Ausländer-pro-Mannschaft"-Regelung noch immer in Kraft war, eine Komponente, die zu dieser Entscheidung beitrug.
    Und dann, im Sommer 1985, erreicht Wilbert Olinde ein Anruf: Er möge sich bitte am 13. September um elf Uhr im Bundeskanzleramt in Bonn einfinden. Helmut Kohl, so sagt man ihm, wolle ihn um etwas bitten. Eine Nachricht, die bei Olinde im ersten Augenblick nicht nur Freude ausgelöst hat:
    "Zuerst hat er sich ja erschreckt, als das Bundeskanzleramt ihn anrief, war sein erster Gedanke: Oh, die wollen mir meine deutsche Staatsbürgerschaft wieder wegnehmen. Vielleicht war das seine unbewusste Angst vor Helmut Kohl. Aber letztlich hat ihn das einfach sehr beeindruckt. Man muss sich das vorstellen: Er steht da mit den beiden größten Deutschen der Zeit, Boris Becker und Helmut Kohl, und soll dann Helmut Kohl sogar noch etwas vorführen. Ich glaube, das war eine Situation, in der er keine allzu großen politischen Bedenken hatte."
    Olinde lebt heute in Hamburg und macht Coachings
    Um was genau der Anführer der geistig-moralischen Wende den neudeutschen Basketballspieler gebeten hat – das wird an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Es hat Olinde einigermaßen fassungslos gemacht. 1987 wird bei Wilbert Olinde eine Blasenkrebserkrankung diagnostiziert. Er muss mit dem Sport aufhören. Eine finanzielle Absicherung bietet der Sport ihm nicht. Seine Ehe zerbricht. Er muss noch einmal neu anfangen.
    Und er schafft es, findet eine Anstellung als Projektmanager bei einer Bank, lernt seine zweite Frau kennen, baut sich eine neue Existenz auf. Heute lebt er als Mentaltrainer und "Inspirationscoach", wie er sich selbst nennt, in Hamburg. Ein offener, freundlicher Mensch, wie Christoph Ribbat erzählt. Während der Arbeit an seinem Buch allerdings befiel Ribbat, wie er gesteht, mehrfach ein ungutes Gefühl:
    "Dass ich ihm quasi diese Geschichte auch wegnehmen könnte und mit einer weißen Stimme eine schwarze Geschichte erzähle, das ist dann doch noch einmal ein Problem, weil es das eben seit Jahrhunderten gibt und es im Grunde an der Zeit wäre, dass das aufhört und schwarze Themen von schwarzen Autorinnen und Autoren erzählt werden."
    Scharfsinniger, mehrfach gespiegelter Blick
    Ribbat hat dieses Problem expliziert thematisiert. Und letztendlich war es Wilbert Olinde selbst, der ihn ermutigt und auch Kontakte in die USA ermöglicht hat. "Deutschland für eine Saison" bildet in seiner Struktur die Recherchearbeit des Autors ab: Ribbat erzählt nicht chronologisch, er fügt in einer distanzierten, aber vokabelreichen Sprache Erkenntnisbaustein auf Erkenntnisbaustein. Auch darum, weil Ribbat sich dezidiert den voyeuristischen Blick versagt, ist ihm ein so scharfsinniger, mehrfach gespiegelter Blick auf Deutschland gelungen.
    Christoph Ribbat: "Deutschland für eine Saison"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 272 Seiten, 24 Euro