"Mir ist es nicht gelungen, einen tatsächlichen Zugang zu diesem Menschen zu kriegen, wohl einige Momente der Nähe, die sich immer wieder ergeben haben, eine große Zuneigung, die wir füreinander empfunden haben, aber eine absolute Abwesenheit von Nähe."
So urteilte Matthias Brandt als aufstrebender Schauspieler vor ein paar Jahren über das Verhältnis zu seinem prominenten Vater. Damit berührte der jüngste Sohn des früheren Bundeskanzlers einen wunden Punkt, der den Glorienschein um Willy Brandt ein wenig zu verdunkeln schien. Vor allem Peter Brandt treibt das negative Vaterbild seines jüngeren Bruders Matthias um. Unter dem Titel "Mit anderen Augen" schildert Willys Ältester Normalitäten im Familienalltag der Brandts. Auf diese Weise wird der außergewöhnliche Politiker doch noch zum gewöhnlichen Vater, dem es durchaus gegeben war, in geselliger Runde zur Mandoline zu greifen, um das deutsche Volkslied von den "Wilden Gesellen vom Sturmwind umweht" anzustimmen.
"Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht
Zügellos drüber und drunter.
Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht,
uns geht die Sonne nicht unter,
uns geht die Sonne nicht unter …"
Ebenso erinnert sich Peter Brandt an deutsche Urlaube und deutsche Weihnacht:
"An Besichtigungen der üblichen touristischen Attraktionen, etwa der Zugspitze oder der altfränkischen Kleinodien Rothenburg ob der Tauber und Dinkelsbühl, lange Spaziergänge bei jedem Wetter und abendliches Vorlesen altertümlicher Sagen (…) Zu Hause sangen wir oft Weihnachtslieder. Manchmal las er aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte vor (…) Gans gab es am ersten und Grünkohl mit Rauchfleisch, wie Vater es aus Lübeck kannte, am zweiten Weihnachtsfeiertag. Die Bescherung fand nach dem Essen statt (…) Ich bekam Bücher, manchmal Ritterfiguren."
Der Privatmann Willy Brandt
Und den unrühmlichen Testamentsstreit nach dem Tode Willy Brandts im Oktober 1992 versucht Sohn Peter sich ideologisch schönzureden:
"Er sprach den gesamten materiellen Nachlass der Witwe Brigitte als "befreiter Vorerbin" zu. Was das Finanzielle betraf, hieß das de facto, dass der Anteil des Vermögens, der den Kindern zugutekam, auf ein Viertel reduziert wurde. Damit hatte ich kein Problem, da ich stets der Meinung war, Menschen hätten kein moralisches Recht, überhaupt etwas zu erben."
Für seine Biografie über die "Familie Willy Brandt" hat sich ein anderer Autor, Torsten Körner, mit zahlreichen Zeitzeugen aus dem Freundeskreis und der Nachbarschaft getroffen und private Korrespondenzen durchforstet. Er gelangt zu einem vorsichtigen Urteil. Danach erschließt sich für Körner der Familiensinn Willy Brandts aus ein paar Kindheitsmustern des vaterlos aufgewachsenen Lübecker Arbeiterkindes, das unter dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm geboren wurde:
"Die Familie wird von ihm als diskontinuierliche und disparate Erzählung erlebt. Sie ist kein verlässlicher Raum der Selbstfindung und Selbstbegründung. Daraus resultiert ein verkümmerter Familiensinn. Willy Brandt ist früh in sich selbst zerfallen (…) Der abwesende Vater begleitet den Sohn wie ein Schatten, der verborgen werden muss. Anstatt ihn selbst durch Sprache ans Licht zu bringen, unterdrückt der Sohn dieses Scham-Erbe, das später von anderen hervorgezogen und missbraucht wird."
Buch des früheren Wahlkampfleiters
"Eine Partei vom Schlag der deutschen Sozialdemokratie darf nie der Versuchung geistiger Anspruchslosigkeit erliegen. Und wenn ich das hinzufügen darf: Mangel an Humor ist auch kein Schlüssel zum Erfolg."
An diese Empfehlung aus Willy Brandts Abschiedsrede von 1987 hätte sich sein früherer Wahlkampfleiter Albrecht Müller einmal halten sollen. Denn in seinem Buch über die "Treibjagd auf den Hoffnungsträger" wühlt er noch einmal in den alten Wunden aus den 1960er und 70er Jahren. Dabei attackiert er weniger parteipolitische Gegner als Spitzengenossen der damaligen Zeit wie Karl Schiller, Helmut Schmidt oder Herbert Wehner. Sie hätten den Bewertungsmaßstab Willy Brandts in der Geschichtsschreibung durch die Verbreitung von Klischees negativ beeinflusst:
"Über Willy Brandt und seine Arbeit werden viele Märchen erzählt: Er sei ein Träumer gewesen und kein Macher. Intensive Schreibtischarbeit habe er vermieden (…) Er sei psychisch labil gewesen, ein Frauenheld, depressiv, ja vielleicht sogar Alkoholiker. Er sei allein ein ‚Außen‘-Kanzler gewesen."
Albrecht Müllers Buch ist der geschichtsrevisionistische Versuch, das Erbe des "wahren Willy" für sich zu beanspruchen. Dabei wartet er mit höchst eigenwilligen Neuinterpretationen auf, um ein wenig krampfhaft einen Bezug zur Aktualität herzustellen.
"Bei Andrea Ypsilanti hat auf regionaler Ebene eine ähnliche Treibjagd stattgefunden wie ehedem bei Willy Brandt (…) Diese merkwürdige Personenfixierung auf den innerparteilichen Gegner war zu Willy Brandts Zeiten schon ein Problem. Es erklärt das fortlaufende Desaster der SPD."
Ende des Willy-Mythos
Viel erhellender ist dagegen die wieder aufgelegte Biografie Gregor Schöllgens. Der Erlanger Historiker arbeitet schonungslos den Willy-Mythos ab, ohne die Größe Brandts zu dementieren. Dabei sieht er ihn nicht nur in der innerparteilichen Opferrolle wie Albrecht Müller. Schöllgen beschreibt Brandts passive Haltung gegenüber seinem strauchelnden Amtsnachfolger Helmut Schmidt auf der Zielgeraden der sozialliberalen Koalition Anfang der 1980er Jahre:
"Der rührt nicht nur keinen Finger, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, vielmehr sieht er, gelassen und wohl mit einer Spur innerer Genugtuung, dem Sturz des alten Rivalen entgegen."
Von solchen kritischen Einlassungen ist Bernd Faulenbach in seiner Willy-Brandt-Monografie weit entfernt. Der gleichsam erste Haushistoriker der deutschen Sozialdemokratie gefällt sich in seiner abschließenden Würdigung in Plattitüden wie dieser:
"Besonders auffällig ist Brandts Fähigkeit, in jeder Lebensphase sich wieder neu auf veränderte Bedingungen einzulassen, dabei aber die Erfahrungen der vorhergehenden Phasen nicht aus den Augen zu verlieren (…) Er dachte Politik in Prozessen, bei denen es manchmal abzuwarten galt, wie sich die Dinge entwickelten."
So liefert das Willy-Brandt-Revival im Jahr seines 100. Geburtstags kaum einen Aspekt, der nicht schon nach seinem Tode verhandelt worden wäre. Dies gilt auch für die Flut wieder aufgelegter Bücher mit Brandt-Witzen, Anekdoten und Karikaturen. Immerhin glaubt die Partei, mit der gerade stattgefundenen Urwahl im Inneren realisiert zu haben, was ihr der große Ahn einst mit auf den Weg gegeben hat:
"Wir suchen keine Bewunderer. Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mit entscheiden und mitverantworten. Wir wollen mehr Demokratie wagen." (Aus einer Regierungserklärung Brandts 1969).
Literatur:
- Torsten Körner: "Die Familie Willy Brandt". S. Fischer Verlag, 510 Seiten, 22,90 Euro. ISBN: 978-3-100-40407-7.
- Peter Brandt: "Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt". Dietz Verlag, 277 Seiten, 24,90 Euro. ISBN: 978-3-801-20441-9.
- Albrecht Müller: "Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger". Westend Verlag, 158 Seiten, 12,90 Euro. ISBN: 978-3-864-89064-2.
- Gregor Schöllgen: "Willy Brandt. Die Biographie." Berlin Verlag, 328 Seiten, 19,99 Euro. ISBN: 978-3-827-01152-7.
- Bernd Faulenbach: "Willy Brandt". C.H. Beck Verlag, 128 Seiten, 8,95 Euro. ISBN: 978-3-406-65466-4.