Ausstellungstechnisch gesehen ist die Schau im Züricher Strauhof eine Katastrophe: Die engen Räume des barocken Bürgerhauses sind vollgepackt mit Material, mit Büchern, Informationen und Monitoren, und der Zuschauer schlängelt sich vor allem im Unterstock wie ein Aal durch ein Labyrinth aus Stellwänden. Wer die kühlen Präsentationsformen etwa des Marbacher Literaturmuseums der Moderne gewohnt ist, der kann so etwas nur schauerlich finden. Zürich braucht dringend ein großes Literaturmuseum.
Andererseits: Was soll der Kurator Thomas Schlachter denn machen? Er hat halt nur begrenzten Platz, und auf wundersame Weise entspricht dieser literarische Museums-Kramladen der inneren Struktur der meisten Dickens-Werke, die sich um Formprobleme wenig scheren – da wird sehr plastisch drauflosfabuliert und immer noch ein Handlungsstrang aufgemacht.
Allerdings ist Charles Dickens auch einer der größten Sozialkritiker des 19. Jahrhunderts: Wer etwas über die miesen Verhältnisse in der Londoner Unterschicht, über Kinderarbeit und die Bigotterie des Viktorianismus erfahren will, der muss ihn lesen. Die Züricher Ausstellung vermittelt all das auch, aber sie will vor allem, sagt der Thomas Schlachter, von den biografischen Geheimnissen des Schriftstellers handeln.
"Charles Dickens hütet sein Leben lang das Geheimnis seiner gemeinen Abkunft. Er kommt aus sehr, sehr bescheidenen Verhältnissen, und darüber spricht man im Hause Dickens nicht. Auch seine engsten Freunde wissen zeit seines Lebens nicht, aus wie bescheidenen Verhältnissen er stammt."
Die Ausstellung informiert ausführlich über diese Kränkungen: Der Großvater unterschlägt Geld und muss ins Ausland fliehen, Dickens' Vater ist verschuldet, kommt ins Gefängnis und nimmt den Sohn aus der Schule; der spätere Schriftsteller füllt als Kind in der Fabrik Schuhwichse ab und etikettiert die Büchsen. Diese Erniedrigungen finden sich in zahlreichen Dickens-Werken nur notdürftig verbrämt wieder. Immer geht es, im Sinne des Bildungsromans, um geschundene Kinder, die sich freikämpfen – wie Charles Dickens eben, der zeitlebens zur Oberschicht gehören wollte. Auch Oliver Twist mochte sich nicht mit einem Löffel Haferschleim zufriedengeben – "Please, Sir, I want some more".
"In seinem frühen Werk gibt es eine Art Wunschbiografie, wenn man so will. Bei Oliver Twist, der unverschuldet ebenfalls im Armenhaus landet, ein Waisenjunge, der merkwürdigerweise, sozial ganz unplausibel, immer etwas feiner redet als alle andern. Erst am Ende des Romans stellt sich heraus, dass Oliver Twist eben auch ein geborener Gentleman ist und nur durch einen Schicksalsschlag hinabgestoßen wurde in die Armut."
Viele Dickens-Figuren sind im Grunde verkleidete Autobiografie: Der joviale, über seine Verhältnisse lebende, aber immer optimistische Mister Micawber aus "David Copperfield" ist eine Spiegelung von Dickens' eigenem Vater. Die kalte Estella aus "Great Expectations" ist eine Variante der Maria Beadnell, die den Schriftsteller in jungen Jahren abblitzen ließ. Diese Gestalten werden in der Ausstellung nun nicht nur als literarische, sondern auch als grafische und Filmfiguren sichtbar gemacht. Dickens' Bücher waren ja hervorragend illustriert, das war Teil der Inszenierung; und kaum ein Autor hat so viele Verfilmungen erfahren wie Charles Dickens; das beginnt fast mit der Frühgeschichte des Mediums, und erst 2005 hat Roman Polanski noch mal den "Oliver Twist" verfilmt.
Die vielen Filmeinspielungen in einer Literaturausstellung sind aber gerechtfertigt durch den Autor selbst, der fast als Schauspieler beim Theater gelandet wäre – und in seinen späten Jahren, nach der Trennung von Weib und Kindern wegen einer 18jährigen Schauspielerin, als von sich selbst besoffener Rezitator durch die Lande zog.
An Weihnachten wird man nun wieder "A Christmas Carol" lesen, jenes erfolgreichste Dickens-Märchen, in dem der bösartige Geizhals Mr. Scrooge zum mildtätigen Menschen geläutert wird. Viel wichtiger aber wäre es, das pessimistische Spätwerk zu erschließen, das in Deutschland wenig bekannt ist. "Great Expectations" ist gerade (bei Hanser) in einer neuen Übersetzung erschienen, und "Bleak House", eine Kritik am englischen Rechtssystem mit dem Nebel als ungeheuer wirksamer Leitmetapher, wurde schon von Arno Schmidt gelobt. Der ekelhafte Schleimer Uriah Heep aus "David Copperfield" kam übrigens Anfang der 1970iger Jahre als Name einer englischen Hardrockband nochmals zu Ehren. Das ist der wahre Ruhm des Großschriftstellers: wenn seine literarische Invention den Popmarkt erobert.
Andererseits: Was soll der Kurator Thomas Schlachter denn machen? Er hat halt nur begrenzten Platz, und auf wundersame Weise entspricht dieser literarische Museums-Kramladen der inneren Struktur der meisten Dickens-Werke, die sich um Formprobleme wenig scheren – da wird sehr plastisch drauflosfabuliert und immer noch ein Handlungsstrang aufgemacht.
Allerdings ist Charles Dickens auch einer der größten Sozialkritiker des 19. Jahrhunderts: Wer etwas über die miesen Verhältnisse in der Londoner Unterschicht, über Kinderarbeit und die Bigotterie des Viktorianismus erfahren will, der muss ihn lesen. Die Züricher Ausstellung vermittelt all das auch, aber sie will vor allem, sagt der Thomas Schlachter, von den biografischen Geheimnissen des Schriftstellers handeln.
"Charles Dickens hütet sein Leben lang das Geheimnis seiner gemeinen Abkunft. Er kommt aus sehr, sehr bescheidenen Verhältnissen, und darüber spricht man im Hause Dickens nicht. Auch seine engsten Freunde wissen zeit seines Lebens nicht, aus wie bescheidenen Verhältnissen er stammt."
Die Ausstellung informiert ausführlich über diese Kränkungen: Der Großvater unterschlägt Geld und muss ins Ausland fliehen, Dickens' Vater ist verschuldet, kommt ins Gefängnis und nimmt den Sohn aus der Schule; der spätere Schriftsteller füllt als Kind in der Fabrik Schuhwichse ab und etikettiert die Büchsen. Diese Erniedrigungen finden sich in zahlreichen Dickens-Werken nur notdürftig verbrämt wieder. Immer geht es, im Sinne des Bildungsromans, um geschundene Kinder, die sich freikämpfen – wie Charles Dickens eben, der zeitlebens zur Oberschicht gehören wollte. Auch Oliver Twist mochte sich nicht mit einem Löffel Haferschleim zufriedengeben – "Please, Sir, I want some more".
"In seinem frühen Werk gibt es eine Art Wunschbiografie, wenn man so will. Bei Oliver Twist, der unverschuldet ebenfalls im Armenhaus landet, ein Waisenjunge, der merkwürdigerweise, sozial ganz unplausibel, immer etwas feiner redet als alle andern. Erst am Ende des Romans stellt sich heraus, dass Oliver Twist eben auch ein geborener Gentleman ist und nur durch einen Schicksalsschlag hinabgestoßen wurde in die Armut."
Viele Dickens-Figuren sind im Grunde verkleidete Autobiografie: Der joviale, über seine Verhältnisse lebende, aber immer optimistische Mister Micawber aus "David Copperfield" ist eine Spiegelung von Dickens' eigenem Vater. Die kalte Estella aus "Great Expectations" ist eine Variante der Maria Beadnell, die den Schriftsteller in jungen Jahren abblitzen ließ. Diese Gestalten werden in der Ausstellung nun nicht nur als literarische, sondern auch als grafische und Filmfiguren sichtbar gemacht. Dickens' Bücher waren ja hervorragend illustriert, das war Teil der Inszenierung; und kaum ein Autor hat so viele Verfilmungen erfahren wie Charles Dickens; das beginnt fast mit der Frühgeschichte des Mediums, und erst 2005 hat Roman Polanski noch mal den "Oliver Twist" verfilmt.
Die vielen Filmeinspielungen in einer Literaturausstellung sind aber gerechtfertigt durch den Autor selbst, der fast als Schauspieler beim Theater gelandet wäre – und in seinen späten Jahren, nach der Trennung von Weib und Kindern wegen einer 18jährigen Schauspielerin, als von sich selbst besoffener Rezitator durch die Lande zog.
An Weihnachten wird man nun wieder "A Christmas Carol" lesen, jenes erfolgreichste Dickens-Märchen, in dem der bösartige Geizhals Mr. Scrooge zum mildtätigen Menschen geläutert wird. Viel wichtiger aber wäre es, das pessimistische Spätwerk zu erschließen, das in Deutschland wenig bekannt ist. "Great Expectations" ist gerade (bei Hanser) in einer neuen Übersetzung erschienen, und "Bleak House", eine Kritik am englischen Rechtssystem mit dem Nebel als ungeheuer wirksamer Leitmetapher, wurde schon von Arno Schmidt gelobt. Der ekelhafte Schleimer Uriah Heep aus "David Copperfield" kam übrigens Anfang der 1970iger Jahre als Name einer englischen Hardrockband nochmals zu Ehren. Das ist der wahre Ruhm des Großschriftstellers: wenn seine literarische Invention den Popmarkt erobert.