Es ist ein Sonntagnachmittag im August. Gerade eine Woche liegt die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag zurück, da lädt Konrad Adenauer etwa dreißig prominente Parteifreunde zum Kaffee ein. Nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch Gegner - die Skala reicht vom populären Ludwig Erhard bis hin zum jungen CSU-Heißsporn Franz Josef Strauß. In Bonn brodelt gerade die Gerüchteküche: keiner weiß, welche Parteien die kommende Regierung stellen; erst recht weiß niemand, wer denn Kanzler werden soll. Adenauer aber weiß genau, was er will. Und er weiß auch, was er dazu tun muss - wie Werner Biermann schreibt:
"Der in kulinarischen Fragen anspruchslose bis geizige Adenauer hat diesmal alles aufgefahren, was an Köstlichkeiten aufzutreiben war. Das körperlich-sinnliche Wohlbehagen einer exzellenten Bewirtung fördert, wie Adenauer weiß, das Harmoniebedürfnis. Sattsein macht friedlich."
Und mit einer raffinierten Überrumpelungstaktik trotzt der 73-Jährige der Parteiprominenz dann alles ab: Es wird eine kleine Koalition geben, ohne die SPD; und er, Adenauer, wird Kanzler. Ausgerechnet er, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Aber noch im Krieg, im März 1945 - als zwei amerikanische Offiziere ihn in Rhöndorf aufgesucht und ihn gebeten hatten, wieder Bürgermeister seiner befreiten Vaterstadt Köln zu werden - hatte Adenauer nicht gekleckert, sondern geklotzt:
"Ohne sich die künftige Entwicklung überhaupt vorstellen zu können, beansprucht er vom ersten Augenblick an eine führende Rolle in der Zukunft. Und er bekundet dabei ein politisches Ziel, das über seiner künftigen Kanzlerschaft stehen wird: die Deutschen von Demokratie und Frieden zu überzeugen."
Nach dem Ersten Weltkrieg: versierter Krisenmanager in Köln
An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht, dem Sohn eines preußischen Justizbeamten, der schon im Kaiserreich seine Karriere begonnen hatte. 1917 wurde Adenauer mit 41 Jahren der jüngste Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt. Seine Bewährungsprobe bestand er schon kurz darauf - im Chaos nach der Novemberrevolution 1918 lavierte er pragmatisch zwischen alten und neuen Machteliten, um Kölns Alltagsleben in Gang zu halten.
"In diesen einschneidenden Wochen und Monaten wird Adenauers Persönlichkeit neu geprägt. Inmitten dieser Unordnung entdeckt er sich selbst ganz neu: seine analytische Begabung, seine Führungsqualitäten; seine kühle Entschlossenheit, sich auf eine neue Situation einzustellen, wenn die alte unhaltbar geworden ist. In wenigen Tagen verwandelt sich der autoritäre Rathauschef in einen Mann, der mit seinem neuen, beinahe republikanischen Führungsstil die vernünftigsten Kompromisse aushandelt."
Und schon jetzt sprach er von Versöhnung mit den vormaligen Kriegsgegnern, sogar öffentlich. Denn sonst, erklärte Adenauer im Sommer 1919, werde Europa seine Stellung in der Welt einbüßen.
"Der Kölner Oberbürgermeister entwickelt also bereits außenpolitische Zielvorstellungen, die erst der Bundeskanzler, Jahrzehnte später, umsetzen wird. Aber dass Adenauer dies gerade im Juni 1919 - in den hysterischen und hasserfüllten Tagen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags - so klar und öffentlich sagt, ist eindrucksvoll. Im Gürzenich spricht ein entschlossener, selbstbewusster und weitblickender Mann, der seine Ideen und Ziele nicht von Stimmungen in der Bevölkerung abhängig macht."
Ein rheinischer Separatist?
Ausführlich erzählt Biermann von Adenauers sechzehn Jahren als Kölner OB: Er setzte sich bei der personellen Besetzung der neuen Universität ebenso durch wie bei der Gestaltung der Mülheimer Rheinbrücke. Ein rheinischer Separatist war Adenauer nicht; ihm schwebte lediglich ein von Preußen getrenntes Gemeinwesen in einem föderalen Deutschland vor. Den Nazis war er trotzdem verhasst - 1933 jagten sie ihn aus dem Amt. Seine linken politischen Gegner hatte Adenauer stets integer behandelt. Einer von ihnen, der Kommunist Eugen Zander, verhalf ihm 1944 zur Flucht aus der Gestapo-Haft: Zander rettete Adenauer damit wohl das Leben. Nach 1945 dann gelang dem Siebzigjährigen der große Aufstieg. Sein Wille, etwas zu gestalten, und sein taktisches Geschick kamen Adenauer dabei zupass. Biermann beobachtet:
"Hinter seiner Konzilianz, seinem Humor und seiner Schlagfertigkeit verbirgt sich eine Härte, die notfalls mit vernichtender Schärfe auf einen Gegner niedergehen kann. Diese Härte ist gegründet auf die absolute Überzeugtheit von der Richtigkeit seiner grundlegenden Ideen. Mit einer fatalen Tendenz zur Selbstüberschätzung, die sich auch als herablassende Verachtung zeigt."
Weichenstellungen, die noch die Gegenwart prägen
Zu jenen grundlegenden Ideen gehörte eine moderne Wirtschaftspolitik: marktwirtschaftlich, darin aber nicht dogmatisch. Außenpolitisch überraschte der "alte Herr" seine deutschen Kontrahenten mit zukunftsweisenden Ideen.
"Während die anderen auf das alte Prinzip der nationalstaatlichen Interessenwahrung eingeschworen bleiben, ist er bereit, sich von ganz anderen Ideen leiten zu lassen: von dem Versuch, übernationale Strukturen zu schaffen - die den ewigen mörderischen Wettbewerb unnötig machen und zu gemeinsamem Wohlstand führen."
Die ersten Schritte zur heutigen EU.
Noch in seiner Spätzeit, als alle schon auf seinen Abgang warteten, tat er zwei wichtige Schritte, zu denen wohl wenige sonst in der CDU fähig gewesen wären: er schaffte die Aussöhnung mit Frankreich und die Kontaktaufnahme mit Israel.
Moskau 1955: zwei Formen der Ostpolitik
Wie aus einem kleinen Kölner Justizassessor dieser Bundeskanzler wurde, das erzählt Werner Biermann in einer sehr flüssigen, oftmals geradezu spannenden Weise. Besonders die Geschichte der Verhandlungen in Moskau 1955 liest sich wie ein Krimi. Erkennen kann man allerdings schon hier zwei Formen bundesdeutscher Ostpolitik: Da war Adenauer, der Chruschtschow gegenüber hart auftrat. Da war aber auch der konziliante Sozialdemokrat Carlo Schmid: er brachte mit einem Eingeständnis der deutschen Verbrechen das Eis zum Schmelzen, sodass schließlich die letzten Kriegsgefangenen in Freiheit kamen. Auch ein Konrad Adenauer war allein also nicht jeder Verhandlungssituation gewachsen.
Liest man Biermanns Biographie, dann bedauert man einzig, dass ihr Anmerkungsapparat nur rudimentär ausgefallen ist. Dabei greift der Autor auf exklusive Quellen zurück - vor allem hat er Interviews geführt; und so kann er Details beitragen, die man sonst nirgends findet. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den universitären deutschen Historikern zu zeigen, dass man durchaus bis ins Detail wissenschaftlich fundierte Bücher schreiben kann, über denen der Leser nicht einschläft. Aber auch so ist Werner Biermanns Adenauer-Biographie eine Bereicherung. Wer Details wissen möchte, besonders über die Frühzeit der Bundesrepublik, der wird sich rasch an ihr festlesen.
Werner Biermann: "Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben"
Rowohlt Berlin Verlag, 656 Seiten, 29,95 Euro.
Rowohlt Berlin Verlag, 656 Seiten, 29,95 Euro.