Archiv

Biometrie und Demokratie
Gesicht zeigen

Wenn ein Blick in die Kamera den Reisepass überflüssig macht, dann kann sich das sehr bequem und modern anfühlen. Wenn allgegenwärtige Videosysteme jede Anonymität im öffentlichen Raum aushebeln, dann eher sehr beängstigend und dystopisch.

Von Thomas Reintjes |
Auf einem Notebook-Monitor ist eine Demonstration des biometrischen "FACES"- (Face Analysis Comparison and Examination) Systems zu sehen. Pinellas County Sheriff Office, Largo, Florida, USA
Gesichtsabgleich mit der Fahndungsdatenbank - viele US-Polizeibehörden arbeiten mit biometrischen Systemen (imago / Zuma Wire / Douglas Clifford)
Mitten in einem Gewitter bin ich – als das noch möglich war - am Bryant Park verabredet, im Zentrum Manhattans zwischen Times Square und Grand Central Station. Sahil Chinoy will mir eine Kamera zeigen, die den Park filmt.
Es ist eines dieser kugelförmigen Kameragehäuse, die untere Halbkugel schwarz, die obere weiß. Die Kamera darin, genauer gesagt sind es sogar drei Kameras, filmen den Park und streamen das Video ins Netz. Auf der Website kann jeder sehen, was gerade im Bryant Park los ist. Und auch wer dort ist.
"Hier in der Nähe ist ein College für Optiker. Auf dessen Website gibt es eine Liste aller Professoren und Dekane und so weiter. Deren Namen und Gesichter haben wir in einer Datenbank gespeichert. Dann haben wir das Material von den Kameras durch Amazons Gesichtserkennungsdienst laufen lassen, um es mit der Datenbank abzugleichen. Und wir konnten jemanden ausfindig machen."
Personen-Tracking im Do-it-yourself-Verfahren
Sahil Chinoy sagt, er sei ein eher durchschnittlicher Programmierer, aber es gebe Anleitungen in Blogs, mit denen es recht einfach sei, dieses Setup aufzubauen. Eine halbe Woche Arbeit und 60 Dollar.
"Wenn Sie das mit all den Kameras machen, die in Städten hängen, wird daraus ein Tracking-System. Und wenn Sie es auf die Menschen anwenden, mit denen Sie zusammen sind, dann wird daraus ein Protokoll nicht nur ihres Aufenthaltsortes, sondern auch darüber, mit wem Sie Kaffee trinken gehen oder Mittagessen oder mit wem Sie zur Arbeit gehen."
Screenshot der Webcam am Bryant Park in New York - auf der Aufnahme zur Nachtzeit ist die Terrasse und der Park menschenleer
Im Moment niemand zu tracken: Ein nächtlicher Webcam-Blick auf den Bryant Park (Michael Gessat)
Privatpersonen haben genauso Zugriff auf diese Technik wie Unternehmen. Besonders pikant: der Einsatz der Gesichtserkennung durch die Polizei. Allein im Süden Manhattans soll sie Zugriff auf mehr als 9000 Kameras haben.
Und in Europa? Verzichten Strafverfolger hier auf dieses mächtige Ermittlungswerkzeug? Sind Bürger durch strenge Gesetze wie die Datenschutzgrundverordnung geschützt? Oder sollte die Technik explizit reguliert werden, weil sie Grundrechte einschränkt und die Demokratie gefährden könnte?
Blick in die Kamera statt Bordkarte
"Ein Blick und Sie sind drin!" steht auf dem Schild. "Sie können jetzt mit Delta Biometrics einsteigen. Eine neue Art sich reibungslos durch den Flughafen zu bewegen." Am Gate am New Yorker Flughafen John F. Kennedy werden bei meinem Flug nach Europa keine Bordkarten mehr kontrolliert. Stattdessen soll ein Blick in eine Kamera genügen.
Als ich an der Reihe bin, sage ich dem Mitarbeiter der Fluggesellschaft, dass ich das lieber nicht möchte. Doch er steht direkt neben der Kamera. Die hat mich schon erkannt und der Bildschirm zeigt einen grünen Haken. Ups, sagt der Mitarbeiter. Das hätte ich früher sagen sollen.
Mir bleibt nichts anderes übrig als mit den Schultern zu zucken und an Bord zu gehen. Ich fühle mich machtlos. Bin aber auch neugierig. Woher hat die Fluggesellschaft eine Datenbank mit den Gesichtern aller Passagiere? Und was ist es genau, das sich in mir gegen diese Technik sträubt? Warum möchte ich lieber den Code auf meiner Bordkarte scannen lassen als mein Gesicht?
Aktive Einwilligung sollte Standard sein
Antworten erhoffe ich mir unter anderem von Clare Garvie. Sie untersucht an der Georgetown University in Washington DC, wie in den USA Gesichtserkennungstechnik eingesetzt wird. Meine Erfahrung am Flughafen findet sie bedenklich:
"Ich finde, dass solche Systeme, soweit möglich, eine Einwilligung verlangen sollten und nicht einen Widerspruch. Gesichtserkennung sollte nicht genutzt werden, bis man sagt, dass man einverstanden ist, vor allem, wenn ein Privatunternehmen sie einsetzt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Standard-Einstellung ist, dass die Gesichtserkennung eingeschaltet ist und man seine Rechte geltend machen muss. Wie Sie beschrieben haben, ist das aber gar nicht immer sinnvoll möglich, wenn ein System automatisch biometrische Daten sammelt."
In einer Situation wie am Flughafen, wo man nicht den Verkehr aufhalten und auch nicht für Aufsehen sorgen will und vielleicht auch noch gestresst ist, ist es erst recht unwahrscheinlich, dass ein Kunde oder eine Kundin darauf pocht, nicht gescannt zu werden. Auf seiner Website schreibt Delta, weniger als zwei Prozent der Kundschaft würden Widerspruch einlegen.
Vielleicht, denke ich mir, hätte ich auch gar nichts dagegen, wenn ich mich frei entscheiden dürfte. Schließlich soll die Gesichtserkennung in Zukunft nicht nur beim Boarding, sondern im gesamten Flughafen eingesetzt werden - vom Check-In und der Gepäckaufgabe über die Sicherheitskontrolle bis zum Gate. Klingt praktisch. Woher die Fluggesellschaft weiß, dass das gescannte Gesicht wirklich meins ist, steht auch auf der Website.
Biometrische Identifikation weltweit auf dem Vormarsch
"Bei der Gesichtserkennungstechnik gleichen wir einfach ein Foto mit Passfotos ab. Das ersetzt den manuellen Abgleich", zitiert Delta einen Verantwortlichen der amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörde CBP. Die Fluggesellschaft arbeitet also mit der Behörde zusammen, schickt ihr den Gesichtsscan zur Verifikation.
Man kann sich leicht vorstellen, dass sich die Technik von den USA schnell in alle Welt ausbreiten wird. Schließlich sind auch die heutigen Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen global recht ähnlich. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte Anfang des Jahres schon in einen Gesetzentwurf geschrieben, dass an Bahnhöfen und Flughäfen gesuchte Personen per Gesichtserkennung identifiziert werden sollen. Später wurde die Passage gestrichen.
Demonstranten halten Schilder mit Aufschriften wie "geht fremd", "Schaut Pornos", "fährt über die rote Ampel". Aktion gegen den Ausbau von Videoüberwachung im öffentlichen Raum am Bahnhof Südkreuz in Berlin am 27.11.2017. 
Gegen das Biometrie-Pilotprojekt am Berliner Bahnhof Südkreuz gab es zahlreiche Proteste (imago stock&people)
Clare Garvie scheint überrascht, dass solche Systeme nicht auch in den USA auf mehr Widerstand stoßen.
"Amerikaner haben nationale biometrische Identifikationssysteme immer abgelehnt. Amerikaner haben da einen sehr klaren Standpunkt pro Datenschutz und wollen nicht von einem staatlichen System erfasst werden. Und trotzdem, entgegen dieses Widerstandes, wurden wir davon erfasst. Wir wussten einfach nichts davon."
"Virtuelle Gegenüberstellung mit allen Einwohnern"
Und es geht dabei nicht nur um Reisepassfotos und Grenzschutz. Viele Amerikaner haben gar keinen Reisepass. Die meisten aber haben einen Führerschein.
"Durch Gesichtserkennung haben Strafverfolger einen bisher nicht gekannten Zugriff auf Führerscheinfotos."
Auch andere behördliche Fotodatenbanken werden von Künstlicher Intelligenz ausgewertet und so durchsuchbar. Es gebe legitime Anwendungen dafür, sagt Clare Garvie. Etwa, um auszuschließen, dass jemand mehrere Führerscheine unter verschiedenen Identitäten beantragt. Aber die Datenbanken werden für alle möglichen polizeilichen Zwecke genutzt. Schon 2016 sprachen Garvie und ihr Team in einer Studie von einer Art dauerhafter Gegenüberstellung:
"Wenn die Polizei oder das FBI mit Gesichtserkennung das Gesicht eines Verdächtigen mit Führerschein- oder Ausweisfotos abgleichen, gleicht das einer virtuellen Gegenüberstellung mit allen Einwohnern eines Staates. In dieser Gegenüberstellung ist es nicht ein Mensch, der auf den Verdächtigen zeigt, sondern ein Algorithmus."
Nicht alle Bundesstaaten erlauben das, aber die Wissenschaftler schätzen, dass inzwischen mindestens ein Viertel der Strafverfolgungsbehörden Gesichtserkennung einsetzt und dass mehr als die Hälfte der Erwachsenen in einer Gesichtserkennungsdatenbank erfasst sind, die für Ermittlungen genutzt wird.
Zutrittsschleusen zur automatischen Kontrolle des biometrischen Reisepasses bei der Einweihung des Systems auf dem Flughafen Brüssel, 10.7.2015 
Die automatische Passkontrolle ist mittlerweile auf vielen europäischen Flughäfen im Einsatz (imago stock&people)
Automatisierte Passkontrolle per Biometrie
Bei meiner Ankunft in der EU wird mein Gesicht wieder gescannt. Statt bei der Einreise einem Beamten meinen Pass zu zeigen, stehe ich vor einer Maschine an, bis sich vor mir ein kleines Schleusentor aus Plexiglas öffnet. Ich stelle mich auf die Markierung, lege meinen biometrischen Reisepass in ein Lesegerät und schaue in die Kamera, die sich automatisch auf Kopfhöhe fährt. Hier ist klar, wie der Automat meine Identität prüft. Er liest ja meinen Pass, in dem mein Foto gespeichert ist. Der Bildschirm zeigt einen grünen Pfeil und das Tor am Ende der Schleuse öffnet sich. Ein Beamter achtet nur noch darauf, dass alles mit rechten Dingen zugeht und prüft stichprobenartig oder wenn es Zweifelsfälle gibt.
"Ich verrate Ihnen das Geheimnis, dass ich immer zur Nachkontrolle muss. Ich habe mich da schon so daran gewöhnt, dass ich gar nicht mehr durch diese Schleusen gehe. Warum auch immer das so ist."
Ich spreche mit Hannes Federrath, Informatiker mit dem Fachgebiet Sicherheit und Privatsphäre an der Universität Hamburg. Obwohl sie bei ihm nicht zu funktionieren scheint, hält er die automatisierte Passkontrolle offenbar für sinnvoll:
"Wenn die Menschen entlastet werden durch die zweifelsfreien Fälle, die eben einfach durchgelassen werden können, dann kann wenigstens sich ein Grenzbeamter etwas genauer die Fälle angucken, die kritisch sind. Und die müssen auch nicht notwendigerweise alle dann potenziell gefährliche Menschen sein. Das heißt nicht, dass man sozusagen irgendwo verdächtig ist."
Falscherkennung führt zu Diskriminierung
Umstrittener ist die Technik, wenn sie über eng umrissene Anwendungen wie die Passkontrolle hinaus geht. Wenn sie zum Instrument für Massenüberwachung zu werden droht. Und wenn Menschen unter Generalverdacht gestellt werden.
Ein solches Szenario befürchten die Initiatoren der Website gesichtserkennung-stoppen.de, darunter der Chaos Computer Club und die Vereine D64 und Digitale Gesellschaft. Auch die Gesellschaft für Informatik gehört dazu, Hannes Federrath ist ihr Präsident. Sie alle fordern ein Verbot der Gesichtserkennung in der Öffentlichkeit durch die Polizei oder andere staatliche Akteure. Die häufige Falscherkennung, die Hannes Federrath am Flughafen immer wieder erlebt, wird auf der Website als Argument gegen die Technik angeführt. Denn wenn Kameras überall und immer wieder Menschen zu unrecht herausfischen, diskriminiert die Technik sie. Insbesondere, weil sich die Fehler der Technik nicht gleichmäßig verteilen, sondern bestimmte Personen oder Personengruppen immer wieder treffen.
Hannes Federrath: "Diskriminierung entsteht an dieser Stelle nicht, weil Menschen diskriminieren, sondern die Software sucht sich gewissermaßen die Merkmale raus, die offensichtlich darauf hinweisen, dass da ein Vorfall sein könnte. Und wenn ich blöderweise eines dieser Merkmale vielleicht auch enthalte als Mensch, dann bin ich rein statistisch gesehen noch viel häufiger in der Erkennung, obwohl ich gar nichts gemacht habe. Das heißt, es kann den einzelnen massiv beeinträchtigen, sobald er eben zufällig irgendein Merkmal hat, das die Software als kritisch erkennt."
Informationelle Selbstbestimmung in Gefahr
Das heißt, diese Menschen müssten überproportional viele Kontrollen oder Befragungen über sich ergehen lassen. Im Extremfall könnten sie zu Unrecht schweren Verdächtigungen ausgesetzt sein, was große persönliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.
"Und von daher ist es eben als Einzelfallbetrachtung immer anzuschauen, inwieweit werden die Grundrechte eingeschränkt. Und solche Einzelfälle müssen letztendlich verhindert werden. Sonst sind solche Systeme nicht akzeptabel für die Masse der Bevölkerung."
Die Technik muss besser werden, sagt Hannes Federrath; auch an seine Informatiker-Kolleginnen und -Kollegen gerichtet. Das aber ist ein schwaches Argument für ein Verbot, wie es gefordert wird. Denn selbst wenn die Künstliche Intelligenz einmal richtig gut ist, kann die Technik Grundrechte verletzen.
"Wir argumentieren ja hauptsächlich im Moment in diesem Aspekt immer mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also sprich das Recht des Einzelnen, darüber zu bestimmen, wer wann eigentlich was über ihn wissen darf. Das dürfen wir Menschen selbst bestimmen. Uns kann niemand vorschreiben, welche Daten andere über uns speichern. Es sei denn, das ist gesetzlich festgelegt. Und natürlich hat der Staat hier das Privileg, bestimmte Verfahren auch für sich sozusagen zu reklamieren und in Anspruch zu nehmen, etwa zur inneren Sicherheit. Also der ganz normale Bürger hat im Wesentlichen das Recht, über seine Daten selbst zu bestimmen."
Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wird ausgehebelt
Würden massenweise Kameras im öffentlichen Raum mit Gesichtserkennungstechnik ausgestattet, könnten Bürger auf Schritt und Tritt verfolgt werden, spätestens dann wäre die informationelle Selbstbestimmung verletzt. Clare Garvie aus den USA sieht noch andere Grundrechte, wie wir sie auf beiden Seiten des Atlantiks kennen, verletzt: Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die daraus abgeleitete Demonstrationsfreiheit.
"Hier in den USA sind wir stolz darauf, auf die Straße gehen zu können und anonym zu bleiben, an einer Demonstration teilzunehmen und geschützt durch unsere Verfassung keine Angst zu haben, identifiziert und angegriffen zu werden wegen dieses Protests. Gesichtserkennung ermöglicht es der Polizei quasi heimlich durch die Demonstration zu laufen und jedem oder jeder den Ausweis aus der Tasche zu ziehen. Das klingt verrückt und wäre illegal, aber Gesichtserkennung macht es technisch möglich. Die Konsequenz ist, dass wir bei der Teilnahme an Demonstrationen nicht mehr anonym sind. Und das hat weitreichende Konsequenzen für das Funktionieren einer freien Demokratie."
Heikle Balancefindung beim Biometrie-Einsatz
Auf beiden Seiten des Atlantiks fordern Experten wie Clare Garvie oder Hannes Federrath Verbote und Moratorien. Wobei sie sich nicht gegen jeglichen Einsatz der Technik wenden. Gleicht eine Polizistin das Foto eines Verdächtigen mit einer Datenbank von Straftätern ab, ist das weniger problematisch, als wenn die gesamte Bevölkerung gescannt wird. Werden nur an Bahnhöfen und Flughäfen Kamerabilder automatisch ausgewertet, ist das etwas anderes, als wenn Gesichtserkennung überall passiert. Schwierig ist, die richtige Balance zu finden. Hannes Federrath:
"Von daher ist es ja, glaube ich, schon erstmal gut und richtig und wichtig, dass wir eben auch Praxiserfahrungen gewinnen und die Systeme so gut machen, wie es nur geht. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber eben auch, dass wir die Grundrechte wahren. Und Grundrechte können nicht einfach erst mal ignoriert werden und anschließend steuert man nach, sondern da müssen die Systeme von Anfang an gut funktionieren, damit es eben nicht schiefgeht. Der Gesetzgeber sollte also auf alle Fälle die Experimentiermöglichkeit eröffnen, aber keinesfalls unausgegorene Technik schon vorschreiben als Allheilmittel zur Verbesserung der Sicherheit und zur Verbrechensbekämpfung."
Symbolfoto: Ein Mann spiegelt sich in einem Apple Smartphone auf dem der Schriftzug Face ID zu sehen ist.
Gesichtserkennung auf dem Smartphone - hier bleiben die Daten allerdings in der Hand des Nutzers (www.imago-images.de)
Ladendieb-Abwehr mit Gesichtserkennung
Ich benutze Gesichtserkennung. Zum Entsperren meines Handys. Weil ich dem Hersteller vertraue, wenn er sagt, dass die Daten auf meinem Gerät bleiben und sicher verwahrt sind. Wenn ich mit dem Handy Fotos mache, sucht es darin ebenfalls Gesichter und richtet die Parameter des Fotos darauf aus. Steht mir der Pulli? Aber meinem Empfinden nach wird Gesichtserkennung dann zum Problem, wenn ich sie buchstäblich nicht mehr in der Hand habe. Wenn andere ein biometrisches Profil von mir erstellen und daraus Schlüsse ziehen, ohne dass ich etwas davon weiß. Ist er gefährlich oder auffällig? Ist er in Kauflaune? Oder ein potenzieller Ladendieb?
"In den Niederlanden gibt es ein Kaufhaus namens Jumbo, die haben ein Gesichtserkennungssystem eingeführt. Der Sicherheitsdienst hatte Zugriff auf das System, das die Gesichter von Menschen mit einer Datenbank von Verdächtigen abglich, sodass sie sie aussortieren konnten. Könnte eine gute Idee sein, aber es ist leicht erkennbar, wie solche Systeme bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft verfestigen können."
Was sind "gewichtige Gründe" für Biometrie-Abgleich?
Nicolas Kayser-Bril von der Nichtregierungsorganisation AlgorithmWatch. Ich bin überrascht. Ich hatte von einem ähnlichen System in den USA gehört, wo eine kleine, lokale Supermarktkette die Eingangstür mit Gesichtserkennungstechnik ausgestattet hat. Wer verdächtig ist, kommt dort gar nicht erst rein. Aber in Europa, hätte ich gedacht, schützen Gesetze wie die viel gerühmte Datenschutzgrundverordnung vor einem solchen Einsatz. Ich frage nach bei Panasonic, dem Hersteller der Technik. Per E-Mail bekomme ich Antwort aus der Marketing-Abteilung:
"Unerlässlich beim Einsatz einer Lösung zur Gesichtserkennung ist es, dass die Datenschutzbestimmungen eingehalten werden. So dürfen Kamerabilder nicht in der Kamera gespeichert und Daten müssen auf dem internen Server vor externen Zugriffen geschützt werden. Die Datenschutzgrundverordnung erlaubt dabei eine Überwachung aus gewichtigen Gründen."
Karlsruher Fans protestieren gegen Gesichtserkennung im Stadion, indem sie sich Pappteller mit gemalten Gesichtern vor das Gesicht halten
Fußball-Fans protestieren gegen Gesichtserkennung im Stadion (picture alliance / dpa / Uli Deck)
Ob gewichtige Gründe in dem Supermarkt gegeben waren, bleibt unklar. Die Technik wurde wieder abgeschaltet. Im Einsatz ist das FacePRO genannte System aber im Stadion eines dänischen Fußballvereins. "Eine sichere und effiziente Lösung im Kampf gegen die Hooligans," schreibt Panasonic. Das System gleiche von Videokameras aufgenommene Gesichter binnen Sekunden mit bis zu 30.000 registrierten Gesichtern ab.
"Ist eine Person mit den Serverdaten identisch, werden Bilder dieser Person sofort an die nächststehenden Sicherheitsleute gesendet, damit diese umgehend handeln können. Wenn sich die Fans dadurch wieder sicherer im Stadion fühlen und das Stadion vor Geldstrafen durch Bengalos bewahrt wird, ist allen geholfen."
"Sehr großer Mangel an Transparenz"
Nicolas Kayser-Bril: "Es ist schwer zu sagen, wie verbreitet Gesichtserkennung in Europa ist, weil es kein Verzeichnis aller Einsatzorte gibt. Aber als Beispiel: Ich habe im Dezember 2019 die Polizeibehörden der 25 größten EU-Staaten nach ihrem Einsatz von Gesichtserkennung gefragt. Die meisten haben geantwortet und manche haben gesagt, dass sie es seit 2014 einsetzen. Aber niemand wusste davon, nicht einmal in den Ländern selbst. Manchmal wird Gesichtserkennung auch als Beweismaterial vor Gericht verwendet. An Orten, wo niemand etwas davon wusste. Also, es gibt einen sehr, sehr großen Mangel an Transparenz."
Verbreitet sei der Einsatz auch in Unternehmen, etwa bei Bewerbungsverfahren. Hunderte kleine und große Organisationen würden Gesichtserkennung auf verschiedene Weise nutzen. Schützt die Datenschutzgrundverordnung die Bürger also nicht wirksam? Er sei kein Anwalt, sagt Nicolas Kayser-Bril, aber:
"Biometrische Verfahren brauchen immer eine Datenbank mit persönlichen Daten. Das wäre laut Datenschutzgrundverordnung illegal. Und was auch wichtig ist an der DSGVO: Wenn eine Organisation ein automatisiertes System einsetzt, muss sie eine nachvollziehbare Erklärung dafür liefern können, wie das System funktioniert. Bei Machine-Learning-Systemen mit Black-Box-Algorithmen ist das unmöglich. Es ist klar, dass es Gesetze gibt, die man anwenden könnte, aber die nicht respektiert werden, weil es keine Kapazitäten für deren Durchsetzung gibt."
Moratorien oder Verbote in der politischen Diskussion
Ob es sinnvoll ist, mit einem Moratorium eine weitere gesetzliche Regelung zu schaffen, die dann wahrscheinlich ebenso wenig durchgesetzt werde, stellt Nicolas Kayser-Bril infrage. Ohnehin sieht er den politischen Willen dazu nicht.
"Ein Moratorium wird in Minderheitsparteien in verschiedenen Ländern diskutiert. Aber soweit ich weiß, denkt keine Regierungspartei eines EU-Landes ernsthaft darüber nach. Im Gegensatz; die sehr wenigen Länder, in denen es Beschränkungen gibt, arbeiten daran, sie aufzuheben."
Andere Signale kommen hingegen aus den USA. Ausgerechnet San Francisco, unweit des Silicon Valley, wo die Technik entwickelt wird, ausgerechnet San Francisco hat den Einsatz von Gesichtserkennung im Mai 2019 verboten. Stadtverwaltung und Polizei dürfen sie dort seither nicht mehr einsetzen. Weitere Städte folgten dem Beispiel und auch auf der Ebene von Bundesstaaten werden Verbote und Moratorien diskutiert.
Gesichtserkennung als alleinige Authentifikationsmethode
Ich fliege zurück in die USA, denn ich lebe und arbeite dort. Die Einreise verläuft noch überraschender als die Ausreise. Ich bin für ein System namens Global Entry registriert. Reisepass einscannen, in die Kamera gucken. Anders als in Europa werden hier auch noch die Fingerabdrücke gescannt und am Bildschirm muss ich ein paar Fragen beantworten. Denke ich. Aber diesmal ist es anders. Das System will nicht zuerst meinen Pass scannen, sondern ein Foto machen. Also gut. Ich gucke kurz in die Kamera, und dann spuckt der Automat auch schon die Quittung aus, die mir die erfolgreiche Einreise bestätigt.
"Das ist interessant. Das heißt, es hat die Verifikation des Passes ersetzt. Es wird nicht als zweite Authentifikationsmethode eingesetzt, sondern als alleinige Authentifikationsmethode. Das bedeutet, das Sicherheitssystem muss eine Menge Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Gesichtserkennung haben."
Clare Garvie scheint genauso überrascht wie ich. Andererseits wissen die Behörden ja, in welchem Flugzeug ich sitze und wann ich ungefähr einreisen werde. Und, sie haben in den vergangenen Jahren schon sehr viele Fotos von mir gesammelt. Beides erhöht die Genauigkeit des Systems.
Die Rechtswissenschaftlerin aus Washington begrüßt die Verbote und Moratorien. Den Einsatz der Technik zu pausieren, um sich über die Risiken bewusst zu werden und Regularien zu entwickeln, hält sie für eine gute Idee. Schon vor mehr als vier Jahren hat sie mit ihrem Team Gesetzestexte vorgeschlagen. Sie hat also eine genaue Vorstellung davon, was verboten sein sollte, und was erlaubt.
Absurder Biometrieeinsatz mit "Promi-Doppelgängern"
"Ich finde, es sollte verpflichtend sein, dass Ermittlungsbehörden Informationen über eine Gesichtserkennungs-Suche an Angeklagte übergeben müssen, damit sie sich angemessen vor Gericht verteidigen können. Ich finde, es sollte beschränkt werden, nach wem gesucht werden kann. Meiner Ansicht nach ist es nicht okay, nach jedem zu suchen, der ein Foto eines Verdächtigen auf Facebook geliked hat, und doch passiert es. Es ist momentan erlaubt. Ich finde, Fotobearbeitung sollte begrenzt werden. Meiner Meinung nach ist es nicht gestattet, zum Beispiel Promi-Doppelgänger zu suchen, anstatt der Person, die man wirklich sucht."
"Was meinen Sie mit Promi-Doppelgängern?", frage ich verblüfft.
Schauspieler Woody Harrelson beim Besuch der FIDE World Chess Championship 2018 in London. 
Ein markantes Gesicht, das sich nach Ansicht eifriger Polizisten aber auch als Biometrie-Double eignet (imago sportfotodienst)
"Die New Yorker Polizei hat mehrmals ein Foto eines Promis, von dem sie dachten dass der Verdächtige ihm ähnlich sah, in die Suche geladen - anstatt ein Foto des Verdächtigen. Zum Beispiel hatten sie einmal ein Foto von jemandem, der Bier aus einem Laden stahl. Das Foto hatte eine sehr schlechte Qualität, weshalb die Gesichtserkennung keine Ergebnisse lieferte. Aber einer der Ermittler dachte, dass die Person auf dem Foto dem Schauspieler Woody Harrelson ähnlich sah. Also haben sie ein Foto des Schauspielers gegoogelt, das in die Gesichtserkennung geladen und dann auf Grundlage des Ergebnisses jemanden festgenommen. Wenn wir Gesichtserkennung als Biometrie betrachten, dann macht das keinen Sinn. Man kann nicht ein biometrisches Merkmal einer Person durch das einer anderen ersetzen. Das läuft dem ganzen Zweck von Biometrie zuwider. Das ist eine vollkommen absurde Anwendung dieser Technik und trotzdem wird es gemacht."
Clare Garvie konzentriert sich darauf, wie Ermittler und Strafverfolger Gesichtserkennung nutzen, weil sie hier die größte Gefahr für die demokratische Gesellschaft sieht. Aber dieselbe Wildwest-Mentalität herrscht bei Unternehmen, die ihre Kunden scannen oder bei den Herstellern der Technik, die sie etwa Schulen zunächst kostenlos anbieten, um Eindringlinge zu identifizieren. Durch Cloud-Dienste wie Amazons "Rekognition" hat jeder mit Computern halbwegs Versierte Zugriff auf Gesichtserkennungstechnik und kann beispielsweise öffentliche Webcam-Feeds nach bestimmten Personen durchsuchen. Mein Fazit nach meiner Transatlantikreise und den Expertengesprächen: Es sieht nicht danach aus, dass der Wildwuchs sich selbst zähmt. Technik, die einmal installiert ist, wird selten wieder abgeschaltet. Sie sollte noch etwas in den Entwicklungsabteilungen reifen, während in den Parlamenten Gesetze und Regulären entstehen, um Sicherheit, Komfort und den Schutz der Grundrechte ins richtige Verhältnis zu setzen.