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Birk Meinhardt: "Brüder und Schwestern"
Familiengeschichte nach der Wende

Mehr schlecht als recht kommen sie in der DDR über die Runden, die Kinder eines thüringischen Druckereileiters. Ihre Geschichte erzählte Band eins von "Brüder und Schwestern". Dann die Wende: In der Fortsetzung beschreibt Birk Meinhardt die Schicksale der Geschwister in der westlichen Gesellschaft - wortreich und theatralisch.

Von Martin Ebel |
    Birk Meinhardt, Autor von "Brüder und Schwestern"
    Birk Meinhardts Botschaft: Man soll die untergegangene DDR nicht mit einem Federstrich in den Orkus schicken. (imago stock&people)
    Was bisher geschah: Der klassische Vorspann für Fernsehserien ist hier sehr am Platze. Denn der vorliegende Roman ist der zweite Teil der Geschichte der Werchow-Kinder und schließt nahtlos an den ersten an, der die Jahre 1973-1989 behandelte. Es ist hilfreich, ihn zu kennen, hilfreich, zu wissen, wie die Kinder von Willy Werchow, dem Leiter einer großen Druckerei im Thüringischen, in der DDR zurecht gekommen waren: nämlich recht und schlecht. Erik hatte eine mittlere Karriere im Staatsdienst gemacht, sich dafür öffentlich von seiner dissidentischen Schwester Britta distanziert, sich einer Mitarbeit bei der Stasi aber verweigert: ein Anpasser. Die genannte Britta hatte ihre Nische als Artistin in einem Zirkus gefunden, der zweite Bruder Matti, Sympathieträger des Buches, bei der Binnenschifffahrt. Schließlich gab es noch ein dunkles Familiengeheimnis: Willy hatte seine Frau jahrelang betrogen und mit einer anderen ein Kind gezeugt; seine Frau hatte einen ominösen Vertrag darüber entdeckt und sich umgebracht.
    Fortsetzung einer DDR-Familiengeschichte nach der Wende
    Soweit die Vorgeschichte, die mit dem Fall der Mauer endete. Nun kommt der Westen über die DDR-Bürger und alles wird anders. Auch für die Werchow-Kinder. Erik findet eine Stelle bei dem Pharmakonzern "Generosis", der, ganz entgegen dem großzügigen Firmennamen, vor allem darauf aus ist, seinen Kunden die Krankheiten erst einzureden, gegen die sie dann teure Pillen kaufen sollen. Beschwerdefreiheit wird als "Prä-Erkrankungsphase" definiert; vermeintliche Selbsthilfegruppen und bestochene Mediziner unterstützen die Marketingaktion. Ausgerechnet der Opportunist Erik, der in den alten Verhältnissen für sein Fortkommen sogar die Familie aufs Spiel gesetzt hatte, empört sich jetzt über das, was er als Lüge und Betrug versteht - gut versteht, weil er derartige "double-speak" von der DDR her kennt.
    Matti, im ersten Band eine manchmal fast penetrant positive Lichtgestalt, bekommt Schatten und Flecken. Durch einen unerwarteten Bucherfolg hat er plötzlich viel Geld und kann, als die Binnenschifffahrt sich nicht mehr rechnet, seinen Kahn, die "Barby", kaufen und zu einem Schiffsrestaurant umrüsten. Immer dabei sein Kumpel Peter, die Stimme des Volkes und des gesunden Menschenverstandes, den der Autor erneut seitenlang berlinern lässt. Das Restaurant läuft, aber die Anforderungen des Kapitalismus stressen Matti, machen ihn engstirnig und egoistisch. Er lässt sich von einer dämonischen Glasbläserin verhexen und betrügt seine Frau Catherine mit ihr.
    Britta wiederum verliert eine Zeit lang vollkommen die Orientierung in der neuen Zeit: Ihr Zirkus geht pleite, sie lässt sich von Geschäftemachern einwickeln und versenkt dabei auch Geld ihrer Brüder. Schließlich taucht auch die zweite Schwester auf, Sibylle, jenes von Willy außerehelich gezeugte Kind; ein erstes spannungsgeladenes Familientreffen steht am Ende des Bandes.
    Die Dringlichkeit des ersten Bandes fehlt
    Birk Meinhardt hat allerhand zu erzählen. Der Zusammenbruch des scheinbar ewig währenden realsozialistischen Systems und seine Folgen für die Bewohner von DDR, Russland, Polen und so weiter bietet ja Stoff für ganze Roman-Bibliotheken und wird uns auch in den kommenden Jahren mit Meisterwerken beglücken wie etwa "Verfall" des Bulgaren Vladimir Zarew oder - hoffentlich - bald Uwe Tellkamps Fortsetzung des "Turms".
    Ein Meisterwerk ist "Brüder und Schwestern II" nicht. Dazu fehlt ihm die Dringlichkeit des ersten Bandes. In dem lastete auf jeder Entscheidung des Einzelnen ein gewaltiger politischer Druck, der moralische zu existenziellen Fragen machte. In der offenen Gesellschaft des vereinten Deutschland ist jede Antwort nur eine von mehreren möglichen. Das ist kein Argument gegen den Roman, erklärt aber, warum man die Schicksale der Werchow-Kinder mit geringerer Anteilnahme begleitet.
    Umständlich und papieren
    Es hat aber auch etwas mit dem Erzähltempo zu tun. Unter der Glasglocke der DDR gab es wenig Zeitdruck; die Personen konnten einander ihre Gedanken und Argumente ausführlich dar- und auseinanderlegen, man hörte sich geduldig zu, es gab keine Eile. Nun sind Erik, Matti und Britta in einer "just in time"-Gesellschaft gelandet, in der Zeit Geld ist und der frühe Vogel den Wurm frisst. Die Geschwister behalten aber ihre Art zu denken, zu reden und zu handeln bei - und der Autor auch. Er entwickelt jeden Einfall jeder Person in allen Denkschritten, lässt keinen Zweifel, keinen Einwand, keine Abschweifung aus. Da wird ein Wort auf die Goldwaage gelegt und durch ein anderes, auch nicht treffenderes, ersetzt. Da kommt es immer wieder zu Dialogen, die These und Antithese aufs Ausführlichste miteinander konfrontieren. Wenn nicht gerade der berlinernde Peter das Wort hat, klingt das meist hochdramatisch wie bei einem zeitreisenden Schiller, nach falscher Theatralik auch, vor allem aber: umständlich und papieren.
    "Gespannt darauf, was ihm geantwortet werden würde, beugte er sich vor", heißt es etwa oder: "Und er bekräftigte wie entschuldigend: So ist es eben." Mit solchen Szenenanweisungen geht der Autor nicht gerade sparsam um, was dazu führt, dass der Leser unmerklich sein eigenes Tempo steigert.
    Die komplizierten Verhältnisse nicht vereinfachen
    Die Umständlichkeit und Pedanterie des Romans sind nicht nur Methode, sondern auch Botschaft. Man findet sie in einer programmatischen Passage, die ausgerechnet einem dubiosen Journalisten in den Mund gelegt wird. Die Botschaft: Man soll die untergegangene DDR nicht mit einem Federstrich in den Orkus schicken, die komplizierten Verhältnisse nicht vereinfachen zu einer schlichten Gegenüberstellung: hier Gut, da Böse, hier die Opfer, da die Täter. Es ist komplizierter und braucht viele, viele Federstriche. Die sind Birk Meinhardt aber im ersten Band, als er die Zwangslagen schilderte, in denen seine Personen steckten, überzeugender gelungen.