Archiv

Birthler-Autobiografie
Die ostdeutsche Sicht

Bis zur Beauftragten für Stasi-Unterlagen war es für Marianne Birthler ein langer Weg, der sie etwa in die kirchliche Opposition und die erste demokratisch gewählte Volkskammer führte. Vor diesem Hintergrund ist ihr mit ihrer Autobiografie ein interessanter Blick auf die deutsch-deutsche Zeitgeschichte gelungen.

Von Antje Rávic Strubel |
    Das neue Buch von Marianne Birthler steht am 04.03.2014 in Berlin auf einem Tisch im Kino Babylon. Dort stellte die ehemalige Bundesbeauftragte fü die Stasi-Unterlagen ihr Werk mit dem Titel "Halbes Land, Ganzes Land, Ganzes Leben" bei einer Gesprächsrunde vor.
    Marianne Birthlers Buch korrigiert die westdeutsche Sicht auf die gesamtdeutsche Vergangenheit. (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Marianne Birthler, die ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, hält Rückschau. Sie möchte sich erinnern, sie möchte gegen das Vergessen anschreiben, nachdem ihr eines Tages klar wurde, wie wenig sie über ihre Mutter und ihre Großmutter weiß. Eine Art biografische Hinterlassenschaft sollte es werden, ohne pädagogischen Ansatz, ohne geschichtspolitische Ambitionen, so formuliert Birthler ihr Vorhaben zu Beginn ihres Buches "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben".
    Aber so schlicht kann es nicht ausgehen bei einer Frau, die längst zu einer prägenden Persönlichkeit der Zeitgeschichte wurde. Birthler erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in Berlin, ihren Jahren als Hausfrau und Mutter dreier Kinder in der Stadt der Hochöfen Schwedt, ihr Engagement in der evangelischen Kirche, von ihrem Kampf in der DDR-Opposition und schließlich von ihren politischen Ämtern im wiedervereinigten Deutschland. Dabei entwirft sie jedoch zugleich ein Schicksal, das in seiner Verflechtung mit den gesellschaftlichen Ereignissen von der Nachkriegszeit bis heute exemplarisch ist für die zurückliegenden Jahrzehnte deutscher Geschichte.
    Birthler gehört zur ersten Nachkriegsgeneration. Aus einer Familie kommend, die ihren Lebensunterhalt mit einem Spirituosenladen verdiente, gehörte sie nicht zur Arbeiterklasse, weshalb ihr Anfang der 60er Jahre ein Studium verwehrt blieb. Als gelernte Fachverkäuferin für Foto/Optik/Uhren/Schmuck arbeitete sie beim Außenhandel, ehe sie sich nach der Geburt ihrer Kinder stärker in der Kirche engagierte. Dort lag für sie die berufliche Zukunft. Dort begann sie sich auch zunehmend zu politisieren, befeuert von den Ereignissen des Prager Frühlings 1968, dessen brutales Ende nicht nur die menschenverachtende Haltung des DDR-Regimes ins Bewusstsein vieler Menschen brachte. Das Ereignis markierte auch den Beginn einer gegenläufigen Entwicklung in beiden deutschen Staaten: Während die DDR in eine Depression stürzte, fand im Westen ein gesellschaftlicher Aufbruch statt. Im Leben Marianne Birthlers war es der Beginn ihrer aktiven Rolle in der Oppositionellenszene. Sie kehrte aus Schwedt nach Berlin-Prenzlauer Berg zurück, wo sie sich im Schutz der Kirche und als Angestellte des Stadtjugendpfarramts gegen das SED-Regime, für Menschenrechte, Umweltschutz und in der Friedensbewegung engagierte. Zentraler Ort des Widerstands ist die Gethsemanekirche.
    Bilanz eines politischen Lebens
    Birthler vergegenwärtigt noch einmal die täglichen Momente des Widerstands, die Fürbittandachten, das Tragen des Abzeichens "Schwerter zu Pflugscharen", die Öffnung der Kirchen für die Auftritte verbotener Künstler und die Großereignisse wie den Friedensmarsch, die Mahnwachen, die Demonstrationen am Alexanderplatz kurz vor der Wende. Bekannte Namen tauchen auf wie Bärbel Bohley oder Ulrike Poppe, aber auch solche, die heute beinahe vergessen sind. Birthler erklärt die Schwierigkeiten des Alltags, die Tyrannei an Schulen, die Schikanen gegenüber Andersdenken, zeigt die Widersprüche innerhalb der vielen verschiedenen Oppositionellengruppen und hinterfragt die Rolle, die zwiespältige Figuren wie Manfred Stolpe oder Gregor Gysi innehatten. Sie schreibt mit einem durchs Erleben gesättigten Draufblick. Statt einer Nabelschau ist es die Bilanz eines politischen Menschen, der sich innerhalb gesellschaftlicher Prozesse begreift.
    Und doch zeichnet dieses Buch auch ein lebendiges und differenziertes Bild vom Alltag in der DDR. Da geht es um ein mittlerweile fast ikonografisches Phänomen wie das Improvisationsvermögen der Ossis am Beispiel der roten Wachshüllen von Babybel-Käse aus den Westpaketen, die gesammelt und in Form geknetet wurden, um zu Weihnachten die Kerzen zu verzieren. Oder um die typische Datsche mit dünnen Doppelwänden aus Spanplatte, um die allgegenwärtige Verseuchung von Böden und Gewässern, woher der Spruch rührt: "In der DDR ist alles grau, nur die Flüsse sind bunt."
    Lebensentwürfe werden anschaulich, die im Rückblick auf eine Diktatur allzu oft auf der Strecke bleiben. Birthler zeigt, wie ein aufrechtes, reiches Lebens trotz Widrigkeiten, Bespitzelung und Unterdrückung möglich war und rückt damit auch Lebensleistungen ins Recht, die mit der Verurteilung des SED-Regimes nach der Wende gleich mit abgeurteilt wurden. "In der Selbstverständlichkeit, mit der alles, aber auch alles, was im Westen entstanden, entschieden oder gewachsen war, nun auch für den Osten gutgeheißen wurde, lag etwas Autoritäres und Selbstgerechtes, das dem Selbstbewusstsein der ehemals Ostdeutschen nicht guttat", schreibt sie.
    Neu in der Bonner Republik
    Als Abgeordnete der ersten und einzigen demokratisch gewählten Volkskammer, als Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, als erste brandenburgische Ministerin für Familie, Jugend und Sport, schließlich als Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagen erhielt Birthler einen tiefen privilegierten Einblick in die Prozesse von Wendezeit und Wiedervereinigung. Sie kennt Details und Hintergründe, die die Umbruchphase in all ihrer Widersprüchlichkeit deutlich macht.
    Da geht es um die Schwierigkeiten, die eine schlagartige Neuorientierung mit sich brachte. Da verhandelten auf einmal Menschen, die sich gerade noch mit Hilfsjobs über Wasser hielten, weil sie Berufsverbot hatten, mit vormals linientreuen Anwälten wie Gregor Gysi über Demokratie. Da mussten DDR-Oppositionelle über Nacht die Methoden des westdeutschen Wahlkampfs lernen oder erfahren, dass der Einheitsvertrag trotz ihres Engagements über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Da brach die laute, polemische und egozentrierte Bonner Debattenkultur in den eher zielorientierten und pragmatischen Diskurs der Oppositionellen ein. Unterschiedliche Wertvorstellung krachten aufeinander. In der Bundesrepublik beispielsweise war der Paragrafen 175 noch immer in Kraft, der Schwule diskriminierte, Birthler die erste, die in einer Rede vor der Volkskammer seine Abschaffung verlangte. Und von den westdeutschen Parteien schafften es allein die Grünen, eine faire Grundlage auszuhandeln für das Zusammengehen mit ihren Kollegen aus dem Osten, bei allen anderen wurden die Ossis einfach geschluckt.
    Das letzte Drittel des Buches ist Birthlers Zeit als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen gewidmet. Die Unsicherheit darüber, wie mit einer solchen Institution umzugehen war, waren auch zehn Jahre nach der Wende noch spürbar, als Birthler im Oktober 2000 das Amt von Joachim Gauck übernahm. Ihr Amtsantritt begann mit der erhitzten Diskussion und dem Rechtsstreit um die Herausgabe der Kohl-Akten, das Taktieren der Politik vollzieht Birthler hier noch einmal ausführlich nach. Auch die Missverständnisse und Fehlinterpretationen, die die Aufarbeitung einer Diktatur mit sich bringen, macht sie deutlich, unter anderem am Beispiel von Studenten, die gegen die Entlassung eines Professors demonstrierten, der nach Aktenlage der offensiven Zusammenarbeit mit der Stasi überführt war. Die Studenten hielten es schlicht für Stimmungsmache, die pauschal gegen den Osten ging.
    Als Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagen lernte Birthler einmal mehr, wie wichtig es ist, die persönliche Einzelgeschichte der allgemeinen Geschichtsbetrachtung gegenüberzustellen. Dass sie das auch für das eigene Schreiben beherzigte, macht ihre Erinnerungen anschaulich und zugleich zu einem interessanten Zeitdokument, ergänzt um einige Fotos.
    Die Erinnerungen Marianne Birthlers sind nicht zuletzt auch ein Korrektiv an der dominierenden westdeutschen Sicht auf die deutsch-deutsche Vergangenheit, die sich so schwertut damit, die DD als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen, und sie immer noch als das Andere betrachtet. Birthler zeigt, wie die Menschen dieses Anderen sich längst als Türöffner erwiesen haben für eine wache und zeitgemäßere deutsche Gesellschaft.
    Marianne Birthler: "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen."
    Hanser Berlin, 424 Seiten, 22,90 Euro