Merkwürdige Parallelen! Vor zwanzig Jahren starben kurz hintereinander die beiden Schweizer Großschriftsteller, 1990 Friedrich Dürrenmatt, 1991 Max Frisch. Bis zum Jahr 2011 hat es gedauert, bis beide eine Biografie erhalten haben, die ihrem Rang angemessen ist, wissenschaftlichen Standards genügt und auch noch ein Lesevergnügen darstellt. Julian Schütts Max-Frisch-Biografie ist in diesem Frühjahr erschienen, gerade noch rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Autors, Frucht 15-jähriger Beschäftigung und der Auswertung des umfangreichen Nachlasses. Kenner und Sympathisanten hatten an eine Vollendung des Projekts nicht mehr glauben wollen, und tatsächlich ist Schütt auch nur bis zur Hälfte des Frischschen Lebensweges gekommen, bis zum Durchbruch mit dem Roman "Stiller".
Diesen Herbst ist auch die Parallelaktion zu einem gewissen Ende gekommen: Peter Rüedis Dürrenmatt-Biografie liegt in den Buchhandlungen, fast 1000 Seiten stark, Ergebnis einer noch längeren Beschäftigung mit seinem Gegenstand. 1991 hatte der Schweizer Journalist, übrigens ein ausgepichter Jazz- und Weinkenner, eine Artikelserie für die damals noch renommierte Schweizer "Weltwoche" verfasst. Daniel Keel, der kürzlich verstorbene Diogenes-Verleger, gab Rüedi den Auftrag, sie zu einer Biografie auszubauen. In den folgenden Jahren versank Rüedi im Material, aber auch im Mahlstrom seines Gegenstandes. Dass Dürrenmatt jeden Biografen überfordert, wird sofort klar, wenn man sich den Umfang des Werks – die Werkausgabe bei Diogenes umfasst 37 Bände – und des Nachlasses - etliche Regalmeter im Schweizerischen Literaturarchiv – vor Augen führt. Von der Unerschöpflichkeit und Undurchdringlichkeit im Gedanklichen ganz zu schweigen. Dennoch: Rüedi ist fertig geworden oder besser: er hat ein Buch abgeschlossen und vorgelegt. Aber auch er hat den biografischen Bogen nicht bis zum Ende spannen können, chronologisch betrachtet endet seine Darstellung etwa im Jahr 1957, also wie Schütt/Frisch mit dem Durchbruch zum Welterfolg, mit dem Theaterstück "Der Besuch der alten Dame".
Anders als Schütts "Frisch" merkt man Rüedis "Dürrenmatt" die Mühen der Entstehung durchaus an. Er selbst macht kein Hehl daraus, dass ohne die Geduld, aber auch den sanften Druck des Verlags, vor allem ohne die kräftige Hilfe von dort das Buch es dieses Jahr nicht mehr bis zum Druck geschafft hätte, man möchte hinzufügen: vielleicht nie. Und auch so waren zwei Assistenten und die Tatkraft der Lektorin Anna von Planta nötig. Bei dieser bedankt sich der Autor in ungewohnter und sympathischer Offenheit. Ihr sei es gelungen….
"…zu unterscheiden zwischen dem Unzumutbaren und jenem Mass dosierter Anarchie, ohne die eine Ahnung vom Ganzen in Dürrenmatts Leben und Werk nicht angemessen zu vermitteln ist. Ein Hochseilakt, der gar nicht genug zu schätzen ist."
Die "Ahnung vom Ganzen" – das spielt auf den Untertitel der Biografie an. Nähe kann der biografischen Arbeit hilfreich sein, sie kann die Sache aber auch schwer machen. Peter Rüedi stand Dürrenmatt nahe. Er hat in den späten Sechzigern als Kulturredakteur im "Sonntags-Journal" gearbeitet, einer Wochenzeitung, zu deren vier Herausgebern Dürrenmatt gehörte. Er hat 1983, da war er Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich, daran mitgewirkt, Dürrenmatts letztes Stück "Achterloo" zur Uraufführung zu bringen. Er hat ihn, dazwischen und danach, immer wieder in Neuchâtel besucht, seinen langen nächtlichen Monologen gelauscht und ihm geholfen, viele gute Flaschen seines reich bestückten Weinkellers zu leeren. An einen dieser Weinabende, es war Mitte der Siebziger-Jahre, erinnert sich Rüedi detailliert bis zur Unglaubhaftigkeit:
"Es war einsam geworden am Pertuis-du-Sault, und F. D. war dankbar für Gesellschaft. So entkorkte er bald eine Flasche Brane-Cantenac 1970, das war noch vorstellbar und im Keller eines 30-jährigen Redaktors auch vorhanden. Schon der 1961er Pauillac (ich weiss nicht mehr, welcher) ging darüber weit hinaus, wie alles Weitere auf dem folgenden Abstieg in mythologische Tiefen: ein 1955er Chateau Palmer, dann Villemaurine 1947, ein 1928er seines geliebten Latour. Zum ersten Mal im Leben trank ich dann legendäre Jahrgänge wie 1911 und 1904, um endlich, mit Dürrenmatt als Cicerone, den endgültigen Abstieg in den Hades zu wagen: Ich meine mich an einen Wein von 1871 zu erinnern und einen Scherz Dürrenmatts, der habe schon angezeigt, dass die französische Kapitulation keine endgültige habe gewesen sein können. Fritz dekantierte mit rauschender Nonchalance, er schüttete die Bouteillen in die Karaffe, als wär´s Rioja aus dem Supermarkt. Irgendwann kamen wir ins Bett, irgendwie, von Dürrenmatts Spezialität endgültig gefällt: Er liebte es, den letzten Schluck mit dem Satz in einen Schwenker zu giessen und die gleiche Menge Cognac zuzufügen. Fünf Stunden später hörte ich Schritte. Dürrenmatt war an der Arbeit."
Ein 1871er Wein, hundert Jahre danach – das ist wohl schon Literatur. Die Nähe mit seinem Gegenstand führt den Biografen bis an den Rand der Identifikation: So trägt er auf dem Foto auf dem Buchumschlag dieselbe Brille wie der junge Dürrenmatt. Dennoch gelingt es Rüedi, bei Bedarf auch kritische Distanz einzunehmen. Sätze wie "hier irrte Dürrenmatt" fallen durchaus, und wenn nötig, liest er gegen den Strich, was der Dichter im Rückblick gern glatt bürstet. So etwa die kurze Phase, als Dürrenmatt sich mit der Fröntlerbewegung einließ, den Schweizer Nazis gewissermaßen. In seinem eigenen autobiografischen Rückblick im "Labyrinth", dem ersten Band der "Stoffe", geht er nonchalant über die Episode hinweg und deutet sie im Zusammenhang mit der Revolte gegen die Welt des Vaters. Das ist geschönt und verharmlost. Protokolle der Berner Sicherheits- und Kriminalpolizei, die vor einigen Jahren auftauchten, belegen, dass Dürrenmatt an Treffen der Hochschulgruppe der rechtsextremen "Eidgenössischen Sammlung" teilnahm und etwa im November 1941 dafür plädierte, auch extreme Nationalsozialisten aufzunehmen, seines Erachtens, so das Protokoll, komme sowieso nur noch ein Anschluss in Frage – gemeint ist: ein Anschluss der Schweiz an Nazideutschland.
Peter Rüedi bettet dieses Verhalten sowohl in den historischen Kontext ein als auch in das familiäre Umfeld. Vater Reinhold, ein unzweifelhaft konservativer Pfarrer, missbilligte den Antisemitismus der Nazis und nahm zeitweise Emigranten bei sich auf. Antisemit war auch Sohn Friedrich niemals, mitten im Krieg suchte er sich den jüdischen Maler Walter Jonas zum, wie Rüedi schreibt, "Wahl-, Gegen- und Übervater". Aber in "Die Glasglocke", einem frühen literarischen Text, der 1941 nach abgelegtem Abitur während eines Ferienaufenthaltes im Kiental entstand, spürt Rüedi homoerotische und faschistoide Züge auf. In denselben Wochen entsteht aber auch der erste Versuch eines Theatertextes, der zuerst "Der Knopf" heißen soll und zwei Jahre später im Wallis vollendet wird, Titel jetzt: "Eine Komödie". Sie endet damit, dass eine Höllenmaschine die Welt explodieren lässt. Rüedi kommentiert:
"Hier musste einer einen Weltuntergang inszenieren, damit die Bombe nicht nach innen losging."
Die Jahre des Erwachsenwerdens waren von Verwirrung und Unsicherheit geprägt, von der schwierigen Loslösung vom Eltern- und Pfarrhaus und der Suche nach dem eigenen Weg. Dürrenmatt fing ein Literaturstudium an, wechselte dann zur Philosophie, neigte zur Kunst, wollte Maler werden. Schließlich zerhieb er den Gordischen Knoten seiner Biografie gleich zweifach: Er brach das Studium ab, beschloss, fortan als Schriftsteller sein Brot zu verdienen - und heiratete, Knall auf Fall. Da war er 25 und hatte gerade mal eine Erzählung in einer Tageszeitung veröffentlicht. Unbegrenzt muss aber sein Selbstbewusstsein und die Überzeugung von seiner "Sendung" gewesen sein. "Er war wie ein Fels", erinnert sich die Schwester Verena. Dürrenmatt selbst hat den lebensentscheidenden Umschwung exakt auf seinen 24. Geburtstag datiert, also auf den 5. Januar 1945, als er im militärischen Hilfsdienst an der französischen Grenze stationiert war, zu viel gegessen und getrunken hatte, was sich in einer "großen Kotzerei" entlud.
"Ich hatte mein Zimmer bei einer alten Witwe. Ich schlief sofort ein, doch dann brach es aus mir: die Fondue, die Spiegeleier, der Luzerner Kaffee, die eingelegten Kirschen; es schleuderte sich hinaus mit Riesengewalt, bekleisterte die Decke, das Ganze Zimmer gleichsam tapezierend, das die alte Witwe nachher neu tapezieren lassen musste. Gleichzeitig aber brach noch etwas anderes aus mir heraus: eine ungewöhnliche Heiterkeit; zwar war mir übel wie noch nie, doch die Lächerlichkeit meiner Kotzerei angesichts des ungeheuren Sich-Übergebens, das die Menschheit ausserhalb dieses Landes befallen hatte, diese Groteske des Verschontseins – das unserem Lande in der Folge mehr Schaden zufügen sollte, als damals noch zu ahnen war – stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht fanden, zu erfinden."
Wie sehr Dürrenmatt diese literarische Urszene auch "frisiert" und ins Groteske und Komische verschoben haben mag – für Rüedi trifft sie etwas Entscheidendes, nämlich das Gefühl des Verschontseins, das auch ein Ausgesperrtsein ist. Bilder vom Gefängnis, in dem man gefangen und zugleich geschützt ist, durchziehen Dürrenmatts Werk bis hin zu jener letzten Rede, die einen solchen Skandal in der Schweiz verursachte, weil er darin sein Land als Gefängnis beschrieb, in dem die Einwohner Gefangene und Wärter zugleich seien.
Peter Rüedi hat seine Biografie mehr thematisch als chronologisch angelegt. Erzählende Kapitel wechseln mit Exkursen ab, etwa zur Theaterpraxis, zu Brecht, zur Schweiz, zur Sprache, zur Naturwissenschaft, aber auch die erzählenden kreisen um Themen, um zentrale Bilder – das Gefängnis, das Labyrinth, die Grenze als Spiegel.
Sein Buch ist letztlich weniger eine Biografie im konventionellen Sinne als ein monumentaler Essay – obwohl er seine biografischen Hausaufgaben durchaus gemacht und nicht nur alles Geschriebene durchgeackert, sondern auch mit zahlreichen Freunden und Verwandten Dürrenmatts geredet hat. Hier hat die lange Entstehungszeit des Buches ihr Gutes: Viele Zeitzeugen sind inzwischen gestorben, ihr Zeugnis aber ist bewahrt.
Trotz vieler biografischer Details, von denen man bisher nichts gewusst hat: Hier wird vorrangig kein Leben erzählt, hier wird ein Universum durchleuchtet. Diese Schwerpunktsetzung hängt zweifellos auch mit Dürrenmatts antibiografischem Affekt zusammen. Den hatte Frisch auch, aber dessen Leben war doch der Stoff, aus dem er unentwegt schöpfte und das er nicht aufhörte, selbst zu kommentieren. Dürrenmatt dagegen "strebte von sich weg"; er machte, um den berühmten Satz noch einmal zu zitieren, "die Welt zu seinem Fall". Wer über Dürrenmatt schreibt, muss also über seine Welt schreiben und riskiert, dass ihm deren Schöpfer dabei verloren geht. Dazu kommt die außerordentliche Diskretion, mit der Dürrenmatt alles behandelte, was sein Privat- und Seelenleben betraf.
"Ich bin ein intellektueller Autor, der sich komödiantisch tarnt …"
… hat Dürrenmatt sich in einem Gespräch selbst charakterisiert. Er liebte es, seine Umgebung zu provozieren, in Rollen zu schlüpfen, Masken aufzusetzen. Auch die "Stoffe", die noch am ehesten autobiografischen Texte, muss der Biograf mit spitzen Fingern anfassen, und Rüedi tut das. Er zitiert ausführlich (gern auch dieselbe Passage mehrfach), weil Dürrenmatts kantige Prosa natürlich schwer zu toppen ist, aber er kommentiert, relativiert, ordnet ein – mit einer Kenntnis, die aus der 40-jährigen Bekanntschaft mit dem Mann und seinem Werk resultiert und in der ihm wohl unter den Lebenden niemand gleichkommt.
Das liest sich nicht so runter, aber die genaue, konzentrierte, ausgedehnte Lektüre lohnt sich ungemein. Am Ende hat man natürlich keinen "neuen Dürrenmatt". Das wäre auch eine absurde Erwartung. Aber man weiß mehr, als man je wusste über diesen Koloss. Vor allem gibt die Biografie - ohne das Komplexe, Widersprüchliche, Paradoxe an einen falschen Ganzheitsanspruch zu verraten – dem Leser viel mehr, als der Untertitel bescheiden proklamiert: nämlich eine "Ahnung vom Ganzen".
Diese Formulierung ist von Dürrenmatt selbst, und sie führt ins Zentrum seines Denkens. Zwischen zwei unerreichbaren Polen – hier der christliche Glaube, den der Pfarrerssohn früh verloren hatte (nicht aber die Sehnsucht danach), dort ein konsistentes wissenschaftliches Weltbild, dem auch die Naturwissenschaftler vergeblich nachjagten – entschied er sich für das fröhliche Bekenntnis zum Dilettantismus. Mehr als eine "Ahnung vom Ganzen", meinte er, war nicht zu haben. Durch intensive Lektüre und Gespräche mit Physikern und Mathematikern begriff Dürrenmatt immer besser, was seine Rolle, Aufgabe und Begabung war: das Unbegreifliche in eigene Bilder zu fassen, der unfassbaren Welt eigene Welten entgegen zu halten. Sein Erkenntnismittel war das Gleichnis, nicht die Theorie oder die Erklärung.
Mit diesen Bildern war er nie fertig, so wie auch seine Werke zwar irgendwann gedruckt und aufgeführt wurden, damit aber längst nicht abgeschlossen waren. Das führte zu dem geläufigen Klischee, der Dichter sei leergeschrieben und bereite nur noch alten Kram wieder auf. Rüedi zeigt dagegen das produktive Prinzip, das für ihn gerade im Unperfekten lag, auch im Scheitern, im Immer-wieder-Aufnehmen. Detailreich werden wir darüber informiert, wie aus einem Einfall eine Notiz, eine Erzählung, ein Filmdrehbuch, ein Stück und noch mal neue, andere Prosa wurde. "Der Besuch der alten Dame" etwa, jenes Stück, das die Wende in Dürrenmatts Leben brachte, reicht als Themenkomplex weit zurück; der entscheidende Bühneneinfall kam Dürrenmatt dann bei einem Halt auf einem Provinzbahnhof. Und mit dem Theatererfolg war die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Das Stück wurde auf der ganzen Welt inszeniert – und seinem Autor zusehends unheimlich. Zum Glück konnte er sich wenigstens über die Verfilmung durch Hollywood ärgern. Die Passagen, die den Versuch behandeln, Dürrenmatts tiefschwarzes Stück für ein amerikanisches Publikum zuzurichten, gehören zu den amüsantesten des ganzen Buches. Dürrenmatt zog später das sarkastische Fazit:
"Ein europäisches Stück hat in den USA nur dann Erfolg, wenn es drüben missverstanden werden kann und dieses Missverständnis zufällig zieht."
Der berüchtigte Hollywood-Produzent Daryll F. Zanuck setzte ein unblutiges Ende durch – denn Ingrid Bergman, die die Titelrolle spielte, war ein Publikumsliebling und durfte an keinem Mord schuldig sein. Trotz dieser und anderer Anpassungen wurde der Film kein Erfolg. Dürrenmatt sah ihn sich übrigens nie an. Allerdings hatte er sich einen neuen Schluss ausgedacht, wie er seinem Biografen erzählt:
"Die Güllener wollen ihren Scheck einlösen, und da stehen dann die Herren von der Bank und sagen: Was wollen Sie mit dem Papier, die Dame ist schon längst entmündigt."
Vielleicht eine Anregung für eine Neuinszenierung eines Stücks, das zwar rituell an deutschen Gymnasien gelesen wird, aber von der Bühne weitgehend verschwunden ist.
Peter Rüedis Buch ist übervoll von solchen Details und Entdeckungen. Man folgt ihm und verliert sich, blättert vor und zurück, bleibt bei den Anmerkungen (allein sie über 100 Seiten) hängen, stolpert über Wiederholungen und kapituliert schließlich vor diesem unerschöpflichen Denker, Erfinder, Visionär.
Und der "Mensch Dürrenmatt"? Auch der bekommt gegen Ende in einem Kapitel, als hätte sich Rüedi regelrecht dazu ermannen müssen, noch schärfere Konturen. Einfach kann es nicht gewesen sein, mit ihm zusammenzuleben. Er liebte seine Frau Lotti über alles, betrog sie auch fast gar nicht. Aber dass sie depressiv wurde und Alkoholikerin, daran war er sicher nicht ganz unbeteiligt. Die drei Kinder hatten es ebenfalls schwer.
"Arbeitete er, störten sie, und er arbeitete eigentlich immer. Auch, wenn er nicht an seinem Schreibtisch sass."
Da verwundert es nicht, dass die Kinder auch in Rüedis Biografie so gut wie keinen Platz bekommen, weniger sogar als der "Hofmeister" Pierre Lachat, der ursprünglich als Nachhilfelehrer für den Sohn Peter ins Haus kam und dann zehn Jahre dazugehörte. Mehr noch als von den Kindern erfahren wir von Dürrenmatts Hunden und wen sie alles gebissen haben. Bezeichnend auch, dass nur die Tochter Ruth bereit war, dem Biografen überhaupt Auskunft zu geben. Immerhin hat noch kein Kind, wie Max Frischs Tochter Ursula, ein Abrechnungsbuch über den Vater geschrieben. Im Schatten eines Genies aufzuwachsen, ist eine schwere Hypothek. Rüedi macht aber auch deutlich, wie schwer es das Genie mit sich selbst hatte, mit seiner apokalyptischen Grundausstattung, mit seiner schwer angeschlagenen Gesundheit – er war zuckerkrank - und dem künstlerischen Egoismus, der in Schaffensphasen autistische Züge annehmen konnte.
Wer sich vierzig Jahre mit einem Schriftsteller beschäftigt, für den stellt sich die Frage nach dessen Aktualität nicht. Peter Rüedis Dürrenmatt-Buch beantwortet sie denn auch implizit – aber für den geduldigen Leser unwiderstehlich. Seine Aktualität liegt in Dürrenmatts gnadenloser Art, die Dinge zu Ende zu denken, bis an, um ihn zu paraphrasieren, ihr notwendiges, schlimmstmögliches Ende. Jenseits der Frage, ob seine Stücke heute noch "funktionieren", ist das schwarze, komische Universum dieses Dichter-Denkers noch längst nicht ausgeforscht und ausgeschritten. Und schreit nicht fast täglich eine Zeitungsschlagseite nach dem Dürrenmattschen Kommentar? Schuldenkrise, Fukushima, Nine/Eleven, verzockte Milliarden: Das hätte ihn alles nicht überrascht. Der Mensch ist mit Fähigkeiten begabt, die ihn überfordern. Das führt zur "Wurstelei", wie er es nannte. Um die anstehenden Katastrophen zu erklären, braucht es das Böse nicht, das Signum der Epoche ist die Panne. Und in der Erzählung mit diesem Titel stehen die folgenden, auch heute unmittelbar treffenden, erschreckend zutreffenden Sätze:
"So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten. In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande nebst Reklamewänden für Bally-Schuhe, Studebaker, Eiscreme und den Gedenksteinen der Verunfallten sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgegangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen."
Peter Rüedi: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen
Biografie. Diogenes, Zürich 2011. 960 Seiten, 28,90 Euro
Diesen Herbst ist auch die Parallelaktion zu einem gewissen Ende gekommen: Peter Rüedis Dürrenmatt-Biografie liegt in den Buchhandlungen, fast 1000 Seiten stark, Ergebnis einer noch längeren Beschäftigung mit seinem Gegenstand. 1991 hatte der Schweizer Journalist, übrigens ein ausgepichter Jazz- und Weinkenner, eine Artikelserie für die damals noch renommierte Schweizer "Weltwoche" verfasst. Daniel Keel, der kürzlich verstorbene Diogenes-Verleger, gab Rüedi den Auftrag, sie zu einer Biografie auszubauen. In den folgenden Jahren versank Rüedi im Material, aber auch im Mahlstrom seines Gegenstandes. Dass Dürrenmatt jeden Biografen überfordert, wird sofort klar, wenn man sich den Umfang des Werks – die Werkausgabe bei Diogenes umfasst 37 Bände – und des Nachlasses - etliche Regalmeter im Schweizerischen Literaturarchiv – vor Augen führt. Von der Unerschöpflichkeit und Undurchdringlichkeit im Gedanklichen ganz zu schweigen. Dennoch: Rüedi ist fertig geworden oder besser: er hat ein Buch abgeschlossen und vorgelegt. Aber auch er hat den biografischen Bogen nicht bis zum Ende spannen können, chronologisch betrachtet endet seine Darstellung etwa im Jahr 1957, also wie Schütt/Frisch mit dem Durchbruch zum Welterfolg, mit dem Theaterstück "Der Besuch der alten Dame".
Anders als Schütts "Frisch" merkt man Rüedis "Dürrenmatt" die Mühen der Entstehung durchaus an. Er selbst macht kein Hehl daraus, dass ohne die Geduld, aber auch den sanften Druck des Verlags, vor allem ohne die kräftige Hilfe von dort das Buch es dieses Jahr nicht mehr bis zum Druck geschafft hätte, man möchte hinzufügen: vielleicht nie. Und auch so waren zwei Assistenten und die Tatkraft der Lektorin Anna von Planta nötig. Bei dieser bedankt sich der Autor in ungewohnter und sympathischer Offenheit. Ihr sei es gelungen….
"…zu unterscheiden zwischen dem Unzumutbaren und jenem Mass dosierter Anarchie, ohne die eine Ahnung vom Ganzen in Dürrenmatts Leben und Werk nicht angemessen zu vermitteln ist. Ein Hochseilakt, der gar nicht genug zu schätzen ist."
Die "Ahnung vom Ganzen" – das spielt auf den Untertitel der Biografie an. Nähe kann der biografischen Arbeit hilfreich sein, sie kann die Sache aber auch schwer machen. Peter Rüedi stand Dürrenmatt nahe. Er hat in den späten Sechzigern als Kulturredakteur im "Sonntags-Journal" gearbeitet, einer Wochenzeitung, zu deren vier Herausgebern Dürrenmatt gehörte. Er hat 1983, da war er Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich, daran mitgewirkt, Dürrenmatts letztes Stück "Achterloo" zur Uraufführung zu bringen. Er hat ihn, dazwischen und danach, immer wieder in Neuchâtel besucht, seinen langen nächtlichen Monologen gelauscht und ihm geholfen, viele gute Flaschen seines reich bestückten Weinkellers zu leeren. An einen dieser Weinabende, es war Mitte der Siebziger-Jahre, erinnert sich Rüedi detailliert bis zur Unglaubhaftigkeit:
"Es war einsam geworden am Pertuis-du-Sault, und F. D. war dankbar für Gesellschaft. So entkorkte er bald eine Flasche Brane-Cantenac 1970, das war noch vorstellbar und im Keller eines 30-jährigen Redaktors auch vorhanden. Schon der 1961er Pauillac (ich weiss nicht mehr, welcher) ging darüber weit hinaus, wie alles Weitere auf dem folgenden Abstieg in mythologische Tiefen: ein 1955er Chateau Palmer, dann Villemaurine 1947, ein 1928er seines geliebten Latour. Zum ersten Mal im Leben trank ich dann legendäre Jahrgänge wie 1911 und 1904, um endlich, mit Dürrenmatt als Cicerone, den endgültigen Abstieg in den Hades zu wagen: Ich meine mich an einen Wein von 1871 zu erinnern und einen Scherz Dürrenmatts, der habe schon angezeigt, dass die französische Kapitulation keine endgültige habe gewesen sein können. Fritz dekantierte mit rauschender Nonchalance, er schüttete die Bouteillen in die Karaffe, als wär´s Rioja aus dem Supermarkt. Irgendwann kamen wir ins Bett, irgendwie, von Dürrenmatts Spezialität endgültig gefällt: Er liebte es, den letzten Schluck mit dem Satz in einen Schwenker zu giessen und die gleiche Menge Cognac zuzufügen. Fünf Stunden später hörte ich Schritte. Dürrenmatt war an der Arbeit."
Ein 1871er Wein, hundert Jahre danach – das ist wohl schon Literatur. Die Nähe mit seinem Gegenstand führt den Biografen bis an den Rand der Identifikation: So trägt er auf dem Foto auf dem Buchumschlag dieselbe Brille wie der junge Dürrenmatt. Dennoch gelingt es Rüedi, bei Bedarf auch kritische Distanz einzunehmen. Sätze wie "hier irrte Dürrenmatt" fallen durchaus, und wenn nötig, liest er gegen den Strich, was der Dichter im Rückblick gern glatt bürstet. So etwa die kurze Phase, als Dürrenmatt sich mit der Fröntlerbewegung einließ, den Schweizer Nazis gewissermaßen. In seinem eigenen autobiografischen Rückblick im "Labyrinth", dem ersten Band der "Stoffe", geht er nonchalant über die Episode hinweg und deutet sie im Zusammenhang mit der Revolte gegen die Welt des Vaters. Das ist geschönt und verharmlost. Protokolle der Berner Sicherheits- und Kriminalpolizei, die vor einigen Jahren auftauchten, belegen, dass Dürrenmatt an Treffen der Hochschulgruppe der rechtsextremen "Eidgenössischen Sammlung" teilnahm und etwa im November 1941 dafür plädierte, auch extreme Nationalsozialisten aufzunehmen, seines Erachtens, so das Protokoll, komme sowieso nur noch ein Anschluss in Frage – gemeint ist: ein Anschluss der Schweiz an Nazideutschland.
Peter Rüedi bettet dieses Verhalten sowohl in den historischen Kontext ein als auch in das familiäre Umfeld. Vater Reinhold, ein unzweifelhaft konservativer Pfarrer, missbilligte den Antisemitismus der Nazis und nahm zeitweise Emigranten bei sich auf. Antisemit war auch Sohn Friedrich niemals, mitten im Krieg suchte er sich den jüdischen Maler Walter Jonas zum, wie Rüedi schreibt, "Wahl-, Gegen- und Übervater". Aber in "Die Glasglocke", einem frühen literarischen Text, der 1941 nach abgelegtem Abitur während eines Ferienaufenthaltes im Kiental entstand, spürt Rüedi homoerotische und faschistoide Züge auf. In denselben Wochen entsteht aber auch der erste Versuch eines Theatertextes, der zuerst "Der Knopf" heißen soll und zwei Jahre später im Wallis vollendet wird, Titel jetzt: "Eine Komödie". Sie endet damit, dass eine Höllenmaschine die Welt explodieren lässt. Rüedi kommentiert:
"Hier musste einer einen Weltuntergang inszenieren, damit die Bombe nicht nach innen losging."
Die Jahre des Erwachsenwerdens waren von Verwirrung und Unsicherheit geprägt, von der schwierigen Loslösung vom Eltern- und Pfarrhaus und der Suche nach dem eigenen Weg. Dürrenmatt fing ein Literaturstudium an, wechselte dann zur Philosophie, neigte zur Kunst, wollte Maler werden. Schließlich zerhieb er den Gordischen Knoten seiner Biografie gleich zweifach: Er brach das Studium ab, beschloss, fortan als Schriftsteller sein Brot zu verdienen - und heiratete, Knall auf Fall. Da war er 25 und hatte gerade mal eine Erzählung in einer Tageszeitung veröffentlicht. Unbegrenzt muss aber sein Selbstbewusstsein und die Überzeugung von seiner "Sendung" gewesen sein. "Er war wie ein Fels", erinnert sich die Schwester Verena. Dürrenmatt selbst hat den lebensentscheidenden Umschwung exakt auf seinen 24. Geburtstag datiert, also auf den 5. Januar 1945, als er im militärischen Hilfsdienst an der französischen Grenze stationiert war, zu viel gegessen und getrunken hatte, was sich in einer "großen Kotzerei" entlud.
"Ich hatte mein Zimmer bei einer alten Witwe. Ich schlief sofort ein, doch dann brach es aus mir: die Fondue, die Spiegeleier, der Luzerner Kaffee, die eingelegten Kirschen; es schleuderte sich hinaus mit Riesengewalt, bekleisterte die Decke, das Ganze Zimmer gleichsam tapezierend, das die alte Witwe nachher neu tapezieren lassen musste. Gleichzeitig aber brach noch etwas anderes aus mir heraus: eine ungewöhnliche Heiterkeit; zwar war mir übel wie noch nie, doch die Lächerlichkeit meiner Kotzerei angesichts des ungeheuren Sich-Übergebens, das die Menschheit ausserhalb dieses Landes befallen hatte, diese Groteske des Verschontseins – das unserem Lande in der Folge mehr Schaden zufügen sollte, als damals noch zu ahnen war – stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht fanden, zu erfinden."
Wie sehr Dürrenmatt diese literarische Urszene auch "frisiert" und ins Groteske und Komische verschoben haben mag – für Rüedi trifft sie etwas Entscheidendes, nämlich das Gefühl des Verschontseins, das auch ein Ausgesperrtsein ist. Bilder vom Gefängnis, in dem man gefangen und zugleich geschützt ist, durchziehen Dürrenmatts Werk bis hin zu jener letzten Rede, die einen solchen Skandal in der Schweiz verursachte, weil er darin sein Land als Gefängnis beschrieb, in dem die Einwohner Gefangene und Wärter zugleich seien.
Peter Rüedi hat seine Biografie mehr thematisch als chronologisch angelegt. Erzählende Kapitel wechseln mit Exkursen ab, etwa zur Theaterpraxis, zu Brecht, zur Schweiz, zur Sprache, zur Naturwissenschaft, aber auch die erzählenden kreisen um Themen, um zentrale Bilder – das Gefängnis, das Labyrinth, die Grenze als Spiegel.
Sein Buch ist letztlich weniger eine Biografie im konventionellen Sinne als ein monumentaler Essay – obwohl er seine biografischen Hausaufgaben durchaus gemacht und nicht nur alles Geschriebene durchgeackert, sondern auch mit zahlreichen Freunden und Verwandten Dürrenmatts geredet hat. Hier hat die lange Entstehungszeit des Buches ihr Gutes: Viele Zeitzeugen sind inzwischen gestorben, ihr Zeugnis aber ist bewahrt.
Trotz vieler biografischer Details, von denen man bisher nichts gewusst hat: Hier wird vorrangig kein Leben erzählt, hier wird ein Universum durchleuchtet. Diese Schwerpunktsetzung hängt zweifellos auch mit Dürrenmatts antibiografischem Affekt zusammen. Den hatte Frisch auch, aber dessen Leben war doch der Stoff, aus dem er unentwegt schöpfte und das er nicht aufhörte, selbst zu kommentieren. Dürrenmatt dagegen "strebte von sich weg"; er machte, um den berühmten Satz noch einmal zu zitieren, "die Welt zu seinem Fall". Wer über Dürrenmatt schreibt, muss also über seine Welt schreiben und riskiert, dass ihm deren Schöpfer dabei verloren geht. Dazu kommt die außerordentliche Diskretion, mit der Dürrenmatt alles behandelte, was sein Privat- und Seelenleben betraf.
"Ich bin ein intellektueller Autor, der sich komödiantisch tarnt …"
… hat Dürrenmatt sich in einem Gespräch selbst charakterisiert. Er liebte es, seine Umgebung zu provozieren, in Rollen zu schlüpfen, Masken aufzusetzen. Auch die "Stoffe", die noch am ehesten autobiografischen Texte, muss der Biograf mit spitzen Fingern anfassen, und Rüedi tut das. Er zitiert ausführlich (gern auch dieselbe Passage mehrfach), weil Dürrenmatts kantige Prosa natürlich schwer zu toppen ist, aber er kommentiert, relativiert, ordnet ein – mit einer Kenntnis, die aus der 40-jährigen Bekanntschaft mit dem Mann und seinem Werk resultiert und in der ihm wohl unter den Lebenden niemand gleichkommt.
Das liest sich nicht so runter, aber die genaue, konzentrierte, ausgedehnte Lektüre lohnt sich ungemein. Am Ende hat man natürlich keinen "neuen Dürrenmatt". Das wäre auch eine absurde Erwartung. Aber man weiß mehr, als man je wusste über diesen Koloss. Vor allem gibt die Biografie - ohne das Komplexe, Widersprüchliche, Paradoxe an einen falschen Ganzheitsanspruch zu verraten – dem Leser viel mehr, als der Untertitel bescheiden proklamiert: nämlich eine "Ahnung vom Ganzen".
Diese Formulierung ist von Dürrenmatt selbst, und sie führt ins Zentrum seines Denkens. Zwischen zwei unerreichbaren Polen – hier der christliche Glaube, den der Pfarrerssohn früh verloren hatte (nicht aber die Sehnsucht danach), dort ein konsistentes wissenschaftliches Weltbild, dem auch die Naturwissenschaftler vergeblich nachjagten – entschied er sich für das fröhliche Bekenntnis zum Dilettantismus. Mehr als eine "Ahnung vom Ganzen", meinte er, war nicht zu haben. Durch intensive Lektüre und Gespräche mit Physikern und Mathematikern begriff Dürrenmatt immer besser, was seine Rolle, Aufgabe und Begabung war: das Unbegreifliche in eigene Bilder zu fassen, der unfassbaren Welt eigene Welten entgegen zu halten. Sein Erkenntnismittel war das Gleichnis, nicht die Theorie oder die Erklärung.
Mit diesen Bildern war er nie fertig, so wie auch seine Werke zwar irgendwann gedruckt und aufgeführt wurden, damit aber längst nicht abgeschlossen waren. Das führte zu dem geläufigen Klischee, der Dichter sei leergeschrieben und bereite nur noch alten Kram wieder auf. Rüedi zeigt dagegen das produktive Prinzip, das für ihn gerade im Unperfekten lag, auch im Scheitern, im Immer-wieder-Aufnehmen. Detailreich werden wir darüber informiert, wie aus einem Einfall eine Notiz, eine Erzählung, ein Filmdrehbuch, ein Stück und noch mal neue, andere Prosa wurde. "Der Besuch der alten Dame" etwa, jenes Stück, das die Wende in Dürrenmatts Leben brachte, reicht als Themenkomplex weit zurück; der entscheidende Bühneneinfall kam Dürrenmatt dann bei einem Halt auf einem Provinzbahnhof. Und mit dem Theatererfolg war die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Das Stück wurde auf der ganzen Welt inszeniert – und seinem Autor zusehends unheimlich. Zum Glück konnte er sich wenigstens über die Verfilmung durch Hollywood ärgern. Die Passagen, die den Versuch behandeln, Dürrenmatts tiefschwarzes Stück für ein amerikanisches Publikum zuzurichten, gehören zu den amüsantesten des ganzen Buches. Dürrenmatt zog später das sarkastische Fazit:
"Ein europäisches Stück hat in den USA nur dann Erfolg, wenn es drüben missverstanden werden kann und dieses Missverständnis zufällig zieht."
Der berüchtigte Hollywood-Produzent Daryll F. Zanuck setzte ein unblutiges Ende durch – denn Ingrid Bergman, die die Titelrolle spielte, war ein Publikumsliebling und durfte an keinem Mord schuldig sein. Trotz dieser und anderer Anpassungen wurde der Film kein Erfolg. Dürrenmatt sah ihn sich übrigens nie an. Allerdings hatte er sich einen neuen Schluss ausgedacht, wie er seinem Biografen erzählt:
"Die Güllener wollen ihren Scheck einlösen, und da stehen dann die Herren von der Bank und sagen: Was wollen Sie mit dem Papier, die Dame ist schon längst entmündigt."
Vielleicht eine Anregung für eine Neuinszenierung eines Stücks, das zwar rituell an deutschen Gymnasien gelesen wird, aber von der Bühne weitgehend verschwunden ist.
Peter Rüedis Buch ist übervoll von solchen Details und Entdeckungen. Man folgt ihm und verliert sich, blättert vor und zurück, bleibt bei den Anmerkungen (allein sie über 100 Seiten) hängen, stolpert über Wiederholungen und kapituliert schließlich vor diesem unerschöpflichen Denker, Erfinder, Visionär.
Und der "Mensch Dürrenmatt"? Auch der bekommt gegen Ende in einem Kapitel, als hätte sich Rüedi regelrecht dazu ermannen müssen, noch schärfere Konturen. Einfach kann es nicht gewesen sein, mit ihm zusammenzuleben. Er liebte seine Frau Lotti über alles, betrog sie auch fast gar nicht. Aber dass sie depressiv wurde und Alkoholikerin, daran war er sicher nicht ganz unbeteiligt. Die drei Kinder hatten es ebenfalls schwer.
"Arbeitete er, störten sie, und er arbeitete eigentlich immer. Auch, wenn er nicht an seinem Schreibtisch sass."
Da verwundert es nicht, dass die Kinder auch in Rüedis Biografie so gut wie keinen Platz bekommen, weniger sogar als der "Hofmeister" Pierre Lachat, der ursprünglich als Nachhilfelehrer für den Sohn Peter ins Haus kam und dann zehn Jahre dazugehörte. Mehr noch als von den Kindern erfahren wir von Dürrenmatts Hunden und wen sie alles gebissen haben. Bezeichnend auch, dass nur die Tochter Ruth bereit war, dem Biografen überhaupt Auskunft zu geben. Immerhin hat noch kein Kind, wie Max Frischs Tochter Ursula, ein Abrechnungsbuch über den Vater geschrieben. Im Schatten eines Genies aufzuwachsen, ist eine schwere Hypothek. Rüedi macht aber auch deutlich, wie schwer es das Genie mit sich selbst hatte, mit seiner apokalyptischen Grundausstattung, mit seiner schwer angeschlagenen Gesundheit – er war zuckerkrank - und dem künstlerischen Egoismus, der in Schaffensphasen autistische Züge annehmen konnte.
Wer sich vierzig Jahre mit einem Schriftsteller beschäftigt, für den stellt sich die Frage nach dessen Aktualität nicht. Peter Rüedis Dürrenmatt-Buch beantwortet sie denn auch implizit – aber für den geduldigen Leser unwiderstehlich. Seine Aktualität liegt in Dürrenmatts gnadenloser Art, die Dinge zu Ende zu denken, bis an, um ihn zu paraphrasieren, ihr notwendiges, schlimmstmögliches Ende. Jenseits der Frage, ob seine Stücke heute noch "funktionieren", ist das schwarze, komische Universum dieses Dichter-Denkers noch längst nicht ausgeforscht und ausgeschritten. Und schreit nicht fast täglich eine Zeitungsschlagseite nach dem Dürrenmattschen Kommentar? Schuldenkrise, Fukushima, Nine/Eleven, verzockte Milliarden: Das hätte ihn alles nicht überrascht. Der Mensch ist mit Fähigkeiten begabt, die ihn überfordern. Das führt zur "Wurstelei", wie er es nannte. Um die anstehenden Katastrophen zu erklären, braucht es das Böse nicht, das Signum der Epoche ist die Panne. Und in der Erzählung mit diesem Titel stehen die folgenden, auch heute unmittelbar treffenden, erschreckend zutreffenden Sätze:
"So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten. In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande nebst Reklamewänden für Bally-Schuhe, Studebaker, Eiscreme und den Gedenksteinen der Verunfallten sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgegangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen."
Peter Rüedi: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen
Biografie. Diogenes, Zürich 2011. 960 Seiten, 28,90 Euro