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Bischof Stäblein zur Corona-Pandemie
"Jeder Mensch, der stirbt, wird von uns vermisst"

Die Kirchen seien auch im zweiten Lockdown für die kranken und sterbenden Menschen da, sagte der evangelische Bischof Christian Stäblein im Interview der Woche im Dlf. Die Corona-Toten dürften keine Zahl bleiben. Deshalb müsse das Gedenken und das Begleiten der Trauernden noch wichtiger werden.

Christian Stäblein im Gespräch mit Andreas Main |
Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, bei einem ökumenischen Gottesdienst in der Kirche St. Peter und Paul
Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, bei einem ökumenischen Gottesdienst (picture alliance/ dpa/ Christian Ditsch)
"Wir sind da, wo Menschen krank sind, wo Menschen sterben", betonte Chrisitan Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, im Deutschlandfunk. Das sei schon im ersten Lockdown im Frühjahr der Fall gewesen, aber nicht deutlich genug geworden. Deshalb sei es ihm ein großes Anliegen, diesmal zu zeigen, dass die Kirche auch mit Abstand Nähe geben könne. Er warnte auch davor, den Menschen falsche Hoffnungen zu machen, was die Dauer des Lockdowns oder der Corona-Maßnahmen angehe. Mit Blick auf das nächste Jahr könne man aber "richtige Hoffnungen" machen - etwa darauf, dass das Sterben so vieler Menschen durch das Virus wieder aufhören werde, weil es einen Impfschutz geben werde.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Das Interview im Wortlaut:
Andreas Main: Herr Stäblein, als Bischof hören Sie womöglich mehr als andere Leitungspersonen in Politik oder Wirtschaft, oder wo auch immer, von Nöten und Sorgen von Menschen wie du und ich. Welche Begegnung hat Sie mit Blick auf Corona am meisten erschüttert?
Christian Stäblein: Also, es ist so, dass ich mich in den vergangenen Monaten sehr dafür eingesetzt habe, dass wir die, deren Stimme so schnell in unserer Gesellschaft überhört wird, nicht überhören. Da sind die Menschen, die obdachlos sind, auf der Straße leben, aber auch viele andere, die am Existenzminimum wirklich mit Armut kämpfen. Jetzt habe ich am zweiten Adventssonntag draußen bei der Suppenküche am Alexanderplatz in St. Marien an der Kirche mithelfen dürfen. Die vielen Ehrenamtlichen, die das jetzt auch über den Lockdown und über den Teil-Lockdown und die Sommermonate die ganze Zeit machen, haben mich einen Nachmittag mitmachen lassen. So möchte ich es formulieren. Und das hat mich sehr angerührt. Gespräche mit den Menschen, die ich da geführt habe, auch das Austeilen...

"Wir sind da, wo Menschen krank sind, wo Menschen sterben"

Main: Was haben Sie da gehört?
Stäblein: Also, da habe ich alles gehört, was wir sonst auch in der Gesellschaft hören: von der Frage, wie man damit umgehen kann, wie ich durch die nächste Woche komme; die große Dankbarkeit dafür, dass es Ehrenamtliche gibt, die Taschen mit Lebensmitteln ausgeben, die auch in dieser Zeit dableiben und sich nicht zurückziehen, sondern für die anderen Menschen da sind; Sorgen, Nöte, Sehnsüchte, die wir alle im Leben teilen und die nun noch mal ganz anders sind, weil man plötzlich auch da, auch auf der Straße, ganz alleine ist.
Main: Wenn Sie sich als Anwalt der Schwachen verstehen, welche Fehlentscheidungen dürfen nun in der zweiten Corona-Welle sowie im zweiten relativ harten Lockdown nicht noch mal so getroffen werden wie im Frühjahr?
Stäblein: Ich glaube, es ist ganz wichtig: Wir waren auch im Frühjahr als Kirchen, als Menschen, denen die Seelsorge als Erstes aufgegeben ist, bei den Kranken und den Sterbenden in den Heimen, überall da, wo wir gebraucht wurden. Aber es hat doch oft den Eindruck erweckt, wir wären nicht da oder wir würden die Stimme nicht deutlich genug für diese Menschen erheben und auch nicht deutlich genug einfordern. Dass wir da sind, wenn Menschen sterben, wenn die nicht alleine sterben wollen, dass wir auch dann in Abstand Nähe geben können – dies ist mir ein großes Anliegen, dass das in diesem zweiten Lockdown deutlich ist. Wir sind da, wo Menschen krank sind, wo Menschen sterben.
Ich glaube, wir müssen auch sehr viel deutlicher als bisher das Erinnern an die Toten, das Gedenken für die Toten und das Begleiten der Trauernden in den Kirchen laut machen. Ich habe dann doch durchweg das Gefühl, wir reden in der Gesellschaft überall ganz viel über das, was auch dazugehört, was auch schlimm ist, die existenziellen Nöte, alles, was dazugehört. Aber die Trauer um die Toten, wir haben ja im Moment Höchstzahlen von Menschen, die sterben, das darf nicht eine Zahl bleiben. Jeder Mensch, der stirbt, wird von uns vermisst. Wir geben sein Leben in Gottes Hand und wir bitten, dass es in Gottes Liebe umfangen ist.
Ein Beatmungsgerät des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein steht am Bett eines am Coronavirus erkrankten Patienten. Die Zahl der Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen hat erstmals die Schwelle von 4000 überschritten. Am Freitag meldete die Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) 4011 Menschen in intensivmedizinischer Behandlung. (Stand: 04.12., 12.15 Uhr).
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Zerrissenheit in der Gottesdienst-Frage

Main: Sie haben jetzt in puncto Fehlentscheidungen nicht Gottesdienste erwähnt. Weil es für Sie eine sekundäre Frage ist?
Stäblein: Weil es eine Frage ist, die uns auch als Kirchen im Moment doch, glaube ich, ganz zerrissen macht. Und ich kann diese Zerrissenheit gut verstehen. Es gibt viele, die sagen: Jetzt im strengen Lockdown müssen wir, wie in der Osterzeit auch, sagen, aus Gründen der Nächstenliebe, aus Gründen des Schutzes des Nächsten verzichten auch wir auf das Versammeln in Kirchen, verzichten auch wir auf Gottesdienste. Und es gibt andere, und die kann ich genauso gut verstehen, die sagen: Wir müssen doch gerade jetzt auch mit öffentlichem Gebet für die Menschen und für die Gesellschaft da sein.
So komisch das klingt: Ich sage, beides kann ich gut verstehen. Beides ist richtig. Und in evangelischer Freiheit müssen wir in jeder Situation das tun, was uns richtig geboten, aber vor allem auch dem Schutz des Nächsten dienlich ist. Insofern bin ich ganz auch bei denen, die jetzt sagen, angesichts der Umstände verzichten auch wir auf Präsenzgottesdienste. Wir stärken dann ja die Gottesdienste in anderer Form. In Funk, Fernsehen, digital, alles, was dazugehört. Ich bin auch ganz bei denen, die sagen, wir halten die Kirchen offen. Wir machen Gebete in kleiner Zahl. Wir halten uns ganz streng an die Vorschriften.
Es ist ganz schwer, in dieser Situation den richtigen Weg zu finden. Ich kann aber auch sagen, wir können gar nicht viel falsch machen. Über Weihnachten ist vor 2.000 Jahren entschieden. Und das hängt nicht an unserer Feier der Gottesdienste.
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"Richtige Hoffnung machen"

Main: Bischof Stäblein, in so einer Situation ist es unvermeidlich, dass Fehler gemacht werden, gesellschaftlich und politisch. Das sollten wir uns und auch Politikern zugestehen. Dennoch, welche Fehler in der Coronakrise gehen aufs Konto der Politik beziehungsweise der Regierung?
Stäblein: Ja, ich möchte erst mal in Ihren ersten Teil der Frage einstimmen. Ich finde den Satz des Gesundheitsministers: "Wir werden uns viel zu verzeihen haben", oder so ähnlich hat er es gesagt, einen ganz christlichen Satz. Ich denke auch an die Jahreslosung für das kommende Jahr 2021. "Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist." Ich glaube, diese Jahreslosung, die ja zwei Jahre vorher ausgesucht wird, ist sehr weise für uns, für unsere Gesellschaft, für das, was wir im Moment miteinander ertragen und erdulden müssen.
Main: Jetzt aber der zweite Teil der Frage.
Stäblein: Jetzt kommt dann gleich auch der zweite Teil, aber das war mir ganz wichtig. Ich glaube, es ist in diesen Phasen wichtig, richtige Hoffnung zu machen, weil Hoffnungslosigkeit und Depression sehr schwer zu ertragen sind. Es ist aber falsch, falsche Hoffnungen zu machen. Und Diskussionen, die wir Anfang November beim Einführen des Teil-Lockdown geführt haben oder die Versprechungen, die wir da gehört haben, die tun jetzt besonders weh. Wo man wirklich Hoffnung machen kann - und ich glaube, die können wir im Blick aufs nächste Jahr haben – da, finde ich, sollten wir auch durchaus mit einem Strahlen auf diese Hoffnung hinweisen. Aber wir sollten keine Reden mehr führen, die sagen, jetzt noch diese zwei Wochen und dann wird es schon. Jetzt dieser Teil-Lockdown im November und dann wird im Dezember auch alles wieder anders sein. Da haben wir gemerkt, das geht nicht. Aber noch mal jetzt wieder der erste Teil. Wer wäre ich, dass ich Vorwürfe an dieser Stelle mache? Ich weiß, wie schwer das in diesen Leitungsaufgaben im Moment ist. Ich teile das selber. Und ich teile auch selber die Erfahrung, man sagt etwas und merkt schon einige Wochen später: Es war falsch.

Vertrauen in die Impfkampagne

Main: Es ist jetzt monatelang über Schnelltests geredet worden, über Verbesserung der Corona-App, über wirkungsvollen Schutz für Altenheime und, und, und. Am Ende ist etwas passiert, aber wohl doch zu wenig. Was passiert, wenn die Impfung im Januar organisatorisch, na ja, an die Wand gefahren wird?
Stäblein: Da will ich überhaupt nicht dran denken. Und das - ehrlich gesagt - glaube ich auch gar nicht. Wir sind ja doch oft Organisationsweltmeister, wie man so schön sagt. Und ich habe den Eindruck, die Impfungen werden sehr gut vorbereitet. Ich wünsche mir jetzt, so wie viele andere Menschen, glaube ich, auch wie viele in der Politik, dass es noch ein bisschen schneller geht.
Die Ungeduld, das merkt man, wird ja bei uns allen größer. Ich neige auch dazu, eher ein ungeduldiger Mensch zu sein. Das ist unsere große Herausforderung im Moment, noch einen Moment miteinander Geduld zu üben. Ich habe großes Vertrauen, dass die Impfungen schnell und gut durchgeführt werden, zuverlässig und so, dass wir die Menschen, die so schnell übersehen werden in unserer Gesellschaft, auch beim Impfen nicht übersehen. Wir reden viel von den Risikogruppen. Und das ist richtig. Wir müssen aber auch von den sozial Schwachen an dieser Stelle reden, die genauso ein Recht darauf haben wie alle anderen.
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"Der Staat, das sind wir alle"

Main: Ich möchte Sie jetzt nicht in eine Ecke drängen oder in eine Schublade pressen, aber Sie wirken in Corona-Fragen durchaus staatstragend. Ist das für Sie ein Vorwurf oder ein Kompliment?
Stäblein: Ach, ich finde, das ist an dieser Stelle gar nicht so entscheidend tatsächlich. Ich kriege diesen Vorwurf öfter mal zu hören in den letzten Monaten. Aber nicht der Staat hat sich diese Pandemie ausgedacht. Sondern wir als Gesellschaft sind alle herausgefordert und im Staat eben die Verantwortungsträger und die Verantwortungsträgerinnen, genauso wie in der Gesellschaft.
Wir alle sind miteinander herausgefordert, nun nach bestem Wissen und Gewissen mit dieser Pandemie so umzugehen, dass möglichst viele Menschen geschützt bleiben und möglichst wenig infiziert werden oder daran sterben. Und ich erlebe an keiner Stelle, dass sich der Staat – ich sage das jetzt mal fast in Anführungsstrichen, das klingt immer wie so ein Gegenüber – das sind wir alle.
Dass da irgendwer ist, der sich Dinge ausdenkt aus Gemeinheit gegenüber uns allen - darum geht es doch nicht. Es geht darum, dass wir miteinander eine Herausforderung bewältigen. Wenn es an anderen Stellen Dinge gäbe, von staatlicher Seite, auch bei anderen Themen, wo ich sagen würde, nein, das müssen wir als Kirchen anders sehen, bin ich nicht verlegen darum, auch die Stimme laut und deutlich zu erheben. Aber an dieser Stelle wünschte ich mir weniger 'Gegenüber', das suggeriert, der Staat hat sich das ausgedacht. Das haben die sich nicht ausgedacht.

"Kein Ort, wo wir verboten hätten zu trösten"

Main: Umgekehrt gibt es ja auch in den Kirchen erhebliche Zweifel, was die Corona-Maßnahmen betrifft. Ein Dorfpfarrer Ihrer Landeskirche hat hier im Deutschlandfunk kritisiert, die Menschen seien in eine Angstpsychose versetzt worden. Trost, Ermutigung, Orientierung würden unterbunden. Was halten Sie Ihrem Kollegen entgegen?
Stäblein: Das stimmt einfach nicht. Das muss man so deutlich sagen. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unsere evangelische Kirche, dass wir diese verschiedenen Stimmen haben und dass die auch in einem guten evangelischen und demokratischen Diskurs alle gleich ganz laut sein dürfen. Aber es stimmt nicht. Ich kann keinen einzigen Ort erkennen, wo Trostdinge unterbunden worden sind, wo wir irgendjemandem verboten hätten zu trösten. Wir haben natürlich da, wo es geboten ist, mit den Hygieneregeln für Gottesdienste und auch mit den Hygieneregeln für seelsorgliche Kontakte dafür gesorgt, dass die, mit denen wir in Kontakt kommen und die, die die Kontakte herstellen, in bester Weise geschützt sind. Das halte ich aber auch für sinnvollen Trost.

Reduziertes Weihnachtsfest

Main: Herr Stäblein, die Gottesdienstfrage haben wir zu Beginn angesprochen. Weihnachten ist aber auch ein Familienfest. Sie haben eine große Familie. Wie feiern Sie das unter der Maßgabe Kontakte einzuschränken?
Stäblein: Wir feiern das so, wie es vorgegeben ist. Das heißt dann in diesem Fall: die kleine Familie, die Kernfamilie. Das ist in diesem Jahr dann tatsächlich eine reduzierte Form, von der ich manchmal denke, sie kann uns, auch wenn sie nun von außen eben uns geboten ist - und von außen, noch mal, heißt nicht der Staat, sondern zunächst einmal das Virus, die Pandemie -, natürlich trotzdem noch mal Augen für andere Dinge bei diesem Fest öffnen.
Sonst war das eigentlich üblich, dass wir nach den Feiertagen oder zwischen den Jahren dann von einem Elternhaus zum nächsten fahren durch die Bundesrepublik. Hier besuchen, da besuchen. Alles immer sehr schöne Besuche. Das muss nun in diesem Jahr entfallen. Wir bleiben also ein ganzes Stück mehr bei uns. Auch meine Mutter, die Ende 80 ist und zur Risikogruppe gehört und sonst immer, weil sie alleine lebt, bei uns gefeiert hat, kann dieses Jahr nicht kommen. Wir werden sie vermissen.
07.05.2019, Baden-Württemberg, Freiburg: Die evangelische Theologin Margot Käßmann spricht während eines dpa-Interviews mit einem Redakteur. Käßmann wünscht sich einen flexibleren Umgang in Deutschland mit dem Ruhestand. Foto: Patrick Seeger/dpa | Verwendung weltweit
Theologin Margot Käßmann - "Vielleicht ist ein abgespecktes Weihnachtsfest eine Chance"
Die evangelische Theologin Margot Käßmann schlägt vor, die Corona-Zeit und das Weihnachtsfest als Chance zu sehen. Man könne sich von Druck und Überfrachtung befreien und sich als Familie auf das Wesentliche konzentrieren.

"Jesus war bei den Kranken, bei den Sterbenden"

Main: Sie wird auch Sie vermissen.
Stäblein: Davon gehe ich mal aus. Sie hat von sich aus relativ bald entschieden und gesagt: Das ist ganz klar, ich kann dieses Jahr nicht kommen. Das ist für uns alle viel zu gefährlich, zumal ich ja nun auch wiederum zu der Berufsgruppe gehöre, die an Heiligabend arbeiten, auch am ersten Weihnachtstag. Und auch, wenn ich mich an alle Vorschriften halte, bleiben Kontakte eben mit anderen Menschen nicht aus - innerhalb der Vorschriften. Damit möchte ich niemand anders dann im privaten Bereich gefährden.
Main: Christian Stöcker, Psychologe, Journalist, Professor in Hamburg, hat kürzlich ein Essay im Spiegel hingelegt, der es in sich hat. Der Titel: "Jesus hätte Oma dieses Jahr nicht besucht". Das würden Sie offenbar unterschreiben?
Stäblein: Ja, also mit aller Vorsicht. Ich verstehe, was er da sagen wollte. Ich bin so ein bisschen zurückhaltend, wenn wir das, was wir selber für richtig halten, alles immer gleich mit Jesus identifizieren. Ja, Jesus hat immer die Nächstenliebe und die Liebe zum Nächsten zum Höchsten erklärt und daraus gehandelt. Und seine Logik, die Logik dieses Artikels ist ja: und deswegen kein Kontakt. Andererseits war Jesus mit Sicherheit bei den Kranken, bei den Sterbenden.
Stühle stehen mit großem Abstand in der Trauerhalle des Bestattungsunternehmens Seemann. Hamburger Bestatter fürchten, im Falle einer Verschärfung der Corona-Pandemie nicht ausreichend mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln versorgt zu sein. (zu dpa "Bestatter: Wir brauchen ausreichend Schutzkleidung und Systemrelevanz")
Bischöfin: ″Wie wir mit dem Tod umgehen, so gehen wir auch mit dem Leben um″
Der Trauer über die COVID-19-Toten müssten ″wir uns kollektiv stellen″ und dafür auch Zeit nehmen, sagte die evangelische Theologin Petra Bahr im Dlf. Derzeit habe sie Sorge, dass der Umgang mit dem Tod ″uns weiter entzweie″.
Main: Bei den Aussätzigen.
Stäblein: Bei den Aussätzigen. Und hat an dieser Stelle für sich jedes Risiko aufgenommen. Also, die Logik ist insofern richtig. Kein Risiko, mit dem ich den anderen gefährde. Aber bei Jesus ist durchaus die Liebe so stark, dass er manches, nein, sein ganzes Leben auf sich nimmt, um für andere da zu sein. Insofern wäre ich vorsichtig mit diesen Parolen, die im Moment von der einen und der anderen Seite so leicht daherkommen: Jesus hätte dies gewollt, Jesus hätte die Gottesdienste abgesagt, Jesus hätte die Gottesdienste nicht abgesagt, hätte Oma besucht, hätte Oma nicht besucht. "What would Jesus do" - ist ja eine ganz beliebte alte Frage. Aber schon bei diesem Thema zeigt es uns dann wieder: Christliche Ethik ist noch einen Tick komplexer.

"Eine ganz neue Weihnachtsstimmung erzeugen"

Main: Christian Stöcker spricht ja auch weiter von einer Überhöhung des Festes, das für die meisten hierzulande nur noch ein familiäres Ritual sei, losgelöst von Religion. Und, weil auf diese Überhöhung mit Unvernunft und politischer Feigheit reagiert worden sei, drohten nun tausende Menschen alt und allein auf Intensivstationen zu sterben, sagt er. Also, aus Ihrer Sicht auch ein Gebot der Nächstenliebe, die Alten alleinzulassen?
Stäblein: Nein, kein Gebot der Nächstenliebe, die Alten alleinzulassen. Das könnte ich niemals unterstützen. Ein Gebot der Nächstenliebe, die Alten zu schützen, die älteren Menschen. Aber es hat im ersten Lockdown und auch jetzt im zweiten Lockdown ja keine Zeit gegeben, wo die Menschen, die Pflegerinnen und Pfleger zum Beispiel als allererstes ja selbstverständlich bei den Alten sind. Deswegen haben wir ja immer wieder auch die schwierigen Situationen in den Heimen.
18.11.2020, Baden-Württemberg, Tübingen: Eine Altenpflegerin in Schutzausrüstunghält die Hand eines Bewohners. Foto: Sebastian Gollnow/dpa | Verwendung weltweit
Senioren und Corona - Heime im Spagat
Heimbewohner brauchen Gesundheitsschutz, aber auch Kontakt zu Angehörigen. Nachdem sich im ersten Lockdown viele Senioren isoliert fühlten, versuchen Einrichtungen nun den Spat. Aber Verordnungen und Umsetzung sind sehr uneinheitlich.
Main: Und Unglaubliches leisten zum Teil.
Stäblein: Unglaubliches leisten und schwierige Situationen auf sich nehmen und durchstehen. Und da werde ich schon manchmal ein bisschen irritiert, sage ich mal vorsichtig, wenn von außen alles noch mal drei Nummern besser und schlauer gewusst wird. So einfach ist das ja nicht. Und ich würde auch die Familien und die Gesellschaft um ihres Feierns des Weihnachtsfestes nicht einfach so beschimpfen.
Noch mal: Es ist für uns alle eine Chance, neue Seiten an diesem Fest zu entdecken. Das sonst übliche Ritual wird durchbrochen. Es kann halt dieses Jahr nicht einfach alles so sein, wie es immer war. Wenn ein Ritual durchbrochen wird, dann merkt man: Was ist mir jetzt eigentlich genau daran wichtig? Was feiere ich da gerade? Wie ist das mit dieser Liebe Gottes? Wie kommt die jetzt eigentlich in mein Herz? Und alle diese Fragen können gerade im kleinen Kreise auch neu aufbrechen und eine ganz neue Weihnachtsstimmung auch erzeugen.

Abwägung zwischen Lebensschutz und Lebenswürde

Main: Herr Stäblein, der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, hat in seinem legendären Interview im Frühjahr wörtlich gesagt: "Wenn ich höre, alles andere habe vor den Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar, aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." Damals große Aufregung. Hat er im Nachhinein recht?
Stäblein: Ich glaube ja. Wolfgang Schäuble hat da in beeindruckender Weise ganz wichtige Sätze für die Debatte in unserer Gesellschaft gesagt. Was uns allen in gleicher Weise zukommt, ist die Würde. Ist, wir sagen ja theologisch dann auch, die Ebenbildlichkeit Gottes, dass wir nach seinem Bilde geschaffen sind, und zwar jeder und jede. Das schafft auch, dass alle die gleiche Würde und daraus die gleichen Rechte, die gleichen Menschenrechte in diesem Leben haben. Das ist ein ganz wichtiger Satz, wenn wir zum Beispiel, um mal jetzt nur für einen Moment auf was Anderes zu schauen, auf unser Handeln an den Grenzen Europas, auf das Retten von Geflüchteten auf dem Mittelmeer, unseren Einsatz für Geflüchtete, die bei uns ankommen.
Den Menschen kommt das gleiche Lebensrecht und die gleiche Würde von Gott zu. Und es tut ganz gut in dieser bisweilen ja doch auch sehr aufgeheizten Corona-Debatte, mal auf andere Dinge auch hinzuweisen. Die Frage des Lebensschutzes, die dann ja auch sehr heftig diskutiert worden ist in der Folge des Wortes von Wolfgang Schäuble, glaube ich, muss man eben genau in dieser Verbindung sehen. Zur Lebenswürde gehört vieles dazu. Und oft eben in unserem Handeln auch etwas, was gleichzeitig im Blick auf den Lebensschutz auch Risiken bedeutet.
Also, zum Beispiel die Rettung von anderem Leben bedeutet bisweilen auch ein Risiko für den Lebensschutz, gerade zum Beispiel von Menschen in Rettungsdiensten, die oft ihr Leben aufs Spiel setzen, um für andere das Leben in Würde zu bewahren. Also, dass wir immer wieder auch Abwägungen zwischen Risikoeinsatz, auch Risiko für das eigene Leben und der Lebenswürde und dem Lebensschutz anderer haben, das gehört sozusagen seit Urzeiten dazu. Und das betrifft dann auch viele andere Bereiche der Gesellschaft, in denen wir um die Lebenswürde ringen, aber deswegen auch im Blick auf den Lebensschutz immer wieder Abwägungen treffen.
Hinweisschild an einem Laden in der Leipziger Innenstadt, dass man einen Mindestabstand von 2 Metern einhalten soll.
Infektionsschutzregelungen - Grundrechte während und nach Corona
Experten betonen: Grundrechte sind prinzipiell einschränkbar – nur die Menschenwürde nicht.

"Die Würde macht uns frei"

Main: Wolfgang Schäuble hat seinen Satz, dass der Schutz des Lebens nicht der höchste Wert in unserer Verfassung sei, ja nochmals wiederholt vor einigen Tagen in der "Welt am Sonntag". Es gibt Zeitgenossen, die sagen, dass dieser Satz des evangelischen Christen Schäuble eine zutiefst theologische Aussage sei. Was halten Sie von dieser These?
Stäblein: Mindestens höre ich darin einen theologisch tiefgebildeten Menschen, der sehr gut weiß - ich schätze Wolfgang Schäuble sehr -, welch wichtige Debatte er damit für uns alle neu anstößt.
Main: Was ist denn die theologische Spitze für Sie darin?
Stäblein: Die theologische Spitze ist in der Tat: Die Würde kommt uns von Gott zu. Und sie macht uns frei. Gott spricht uns frei zu einem Leben, das wir dann in all den Risiken, die zu diesem Leben dazugehören, für andere einsetzen können. Das ist eigentlich der tiefste theologische Gedanke, dass Liebe und Freiheit ja nicht sozusagen die Wahlfreiheit von allen möglichen Optionen des Lebens ist, sondern Liebe und Freiheit die Verantwortung ist, das eigene Leben ganz in den Dienst der Gesellschaft und damit auch bisweilen in die Risiken, die zu diesem Leben dazugehören, zu stellen.

Die Kraft des Singens

Main: Wir haben uns Gespräch begonnen mit Begegnungen, die Sie erschüttert haben. Vielleicht können wir enden mit Lichtblicken. Welche Begegnung in Corona-Zeiten war für Sie der Lichtblick schlechthin?
Stäblein: Also, sonderbarerweise doch, obwohl das ja im Moment besonders gefährdet und deswegen verboten ist, habe ich am Reformationstag Menschen singen gehört, in ganz kleinem Kreise natürlich, nach allen Vorschriften. Das hat mich so angerührt, dass ich gemerkt habe, was wir vermissen – vermissen müssen – in diesem Jahr, welche Kraft das Singen gibt. Deswegen möchte ich doch damit auch schließen, dass ich sage: Für den Heiligabend um 20 Uhr laden wir dazu ein, für sich im Wohnzimmer, auf dem Balkon, vor der Tür für einen Moment mit allen anderen zusammen ein Lied zu singen. Vor der Tür mit großem Abstand.
Main: Aber welches Lied? Nicht, dass es zu einer Kakophonie wird.
Stäblein: Stille Nacht, heilige Nacht.
In Darmstadt treffen sich Frauen und Männer zum sogenannten Rudelsingen mit Gitarrenbegleitung. 
Die Kraft des Gesangs - „Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied?“
Singen ist ein universelles Bedürfnis. Die Intensität einer Gesangslinie kann Menschen beglücken, zu Tränen rühren oder provozieren.

"Die Gesellschaft hält zusammen"

Main: Stille Nacht, heilige Nacht. Wir sind bei Licht und Dunkel. Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels? Davon ist ja viel die Rede. Ist der Tunnel aus Ihrer Sicht noch lang? Oder sehen Sie schon das Licht?
Stäblein: Also, ich habe große Hoffnung und, ich glaube, begründete Hoffnung, dass wir nächstes Jahr im Sommer doch wieder auch ganz viel in unserem Leben finden werden, in neuer Weise finden werden, was wir jetzt so sehr vermissen. Dazu mag hoffentlich das Singen gehören. Dazu gehört ganz bestimmt auch etwas, was wir uns ja fast schon abgewöhnt haben, nämlich das Schütteln der Hände von anderen. Dazu werden gerade auch die vielen, vielen existentiellen Sorgen, die Menschen in der Wirtschaft im Moment haben, gehören. Dazu wird aber vor allem gehören, dass ich große Hoffnung habe, dass im Jahr 2021 das Sterben, dieses Sterben von so vielen Menschen im Moment, wieder aufhören wird, weil wir dank der Medizin einen Impfschutz haben werden.
Teilnehmer sammeln sich in der Friedrichstraße zu einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen.
Corona-Demonstrationen - Wer marschiert da zusammen?
Die Gegner der Corona-Politik bilden ein breites Milieu ab. Und doch eint sie der Protest gegen die Beschränkungen durch die Corona-Maßnahmen. Wer steckt hinter den Protesten?
Main: Wie werden wir in 2021 die Spaltung der Gesellschaft, die sich seit Längerem abzeichnet, die sich jetzt aber noch mal verstärkt hat, gekittet kriegen?
Stäblein: Wir haben, glaube ich, in der Lautstärke sehr starke Pole. Wenn man auf die Zeit der letzten acht Monate guckt, muss man doch sagen: Zu 60, 70, 80 Prozent, ja bisweilen 90 Prozent hält diese Gesellschaft gerade in der schweren Zeit in unheimlicher Weise zusammen. Und ich möchte, dass wir das nicht kleinreden, sondern dass wir das immer wieder auch wahrnehmen, diesen enormen Zusammenhalt. Man könnte sich ja ganz andere Auseinandersetzungen über diese Verordnungen vorstellen, auch ganz andere Formen von öffentlichem Protest. Das ist doch relativ klein.
Was nicht heißt, dass die Sorgen und Nöte der Menschen, die hier an einem ganz anderen Pol landen, von uns ernstgenommen werden müssen, das Gespräch gesucht, aber auch klare Kante gezeigt werden muss, wenn es sozusagen um die Versuche geht, diese Gesellschaft in ihren Grundfesten zu untergraben oder umzustürzen.
Main: Abschließend, 2021 wird noch besser als 2020?
Stäblein: 2021 wird seine eigenen Herausforderungen haben. Über die Hoffnung haben wir geredet. Es wird auch 2021 Schweres geben. Und der Satz, der über 2021 steht, der darf auch schon über 2020 stehen: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.