Christiane Florin: Im November vergangenen Jahres wurden im Bistum Aachen die Kirchenvorstände gewählt. Dieses Gremium ist in den Gemeinden einflussreich. Es entscheidet unter dem Vorsitz des Pfarrers zum Beispiel darüber, was mit Geld und mit Gebäuden geschieht.
In der Pfarrei Sankt Petrus in Übach-Palenberg gab es nach der Wahl aus verschiedenen Gründen Einsprüche. Zum einen wurde der Vorwurf laut, für die Briefwahl seien Unterschriften gefälscht worden. Zum anderen ging es um Personen mit Sperrvermerk. Sperrvermerk bedeutet: Wer nicht möchte, dass Daten weitergegeben werden, kann einen solchen Vermerk bei kommunalen Meldebehörden eintragen lassen. Dass dies auch bedeutet, von einer kirchlichen Wahl ausgeschlossen zu sein, war jedoch der betroffenen Person nicht bewusst. Auch sie legte Einspruch gegen das Wahlergebnis ein.
Die Einsprüche wurden vom Kirchenvorstand und vom Bistum zurückgewiesen. Der Pfarrer der Gemeinde, Stephan Rüssel, hält hingegen die Kritik an der Wahl für substanziell. Er hat den Bischof kürzlich um Versetzung gebeten. Das alles klingt kompliziert und lokal, aber der Verdacht, bei einer Wahl sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen, ist keine Kleinigkeit. Mittlerweile hat sich die Staatsanwaltschaft Aachen eingeschaltet und prüft die Vorgänge. Und die Diskussion um Recht in der katholischen Kirche hat auch eine weltkirchliche Dimension.
Mit dem Priester der betroffenen Gemeinde, mit Stephan Rüssel, habe ich gestern gesprochen, auch das Bistum wird zu Wort kommen. Ich habe Stephan Rüssel zunächst gefragt, warum dieser Vorfall für ihn so wichtig ist, dass er sagt: Unter diesen Bedingungen verzichte ich auf mein Amt?
"Ich kämpfe um die Glaubwürdigkeit"
Stephan Rüssel: Mir geht es hier um Glaubwürdigkeit. Ich wäre Vorsitzender eines Gremiums, das durch Wahlmanipulation zustande kommt. Wir verlieren noch weiter Glaubwürdigkeit, ich würde sie verlieren. Ich kämpfe um die Glaubwürdigkeit – nach den Missbrauchsskandalen -, ich leide sehr darunter, und zwar jeden Tag. Wir spüren die Folgen dieses Skandals als Pfarrer, als Priester, sehr, sehr stark.
Es gibt noch einen zweiten Punkt: Die Mitarbeiter, die ich habe, leiden sehr darunter. Der Druck auf sie ist sehr hoch – ich sage mal, ich habe eine Verantwortung auch für die Mitarbeiter. Von daher hielt ich es einfach für notwendig, dem Bischof hier den Amtsverzicht anzubieten und um Versetzung zu bitten.
Florin: Schauen wir uns die Sachverhalte genauer an, denn wir reden jetzt nicht über sexuellen Missbrauch, sondern über eine Wahl, von der Sie sagen: "Da war etwas Gravierendes nicht in Ordnung." Dieser Punkt mit dem mit dem Sperrvermerk: Wir haben Ende April beim Bistum Aachen angefragt, ob die Betroffenen, also die, die diesen Sperrvermerk haben, ob sie sich informieren müssen, ob sie in der Wählerliste stehen, oder ob nicht das Bistum oder die Gemeinde, die Kirche also, informieren müsste. Und da wurde uns vom Bistum gesagt: Nein, nein, die Betroffenen seien in der Pflicht. Jetzt wird aber erklärt, man werde in Zukunft auf diese Besonderheit vor einer nächsten Wahl hinweisen. Und auf meine Nachfrage, warum dies künftig geändert wird, wenn man doch vorher behauptet hatte, es sei richtig gelaufen, antwortet der Sprecher des Bistums Aachen so:
"Zur Einordung: Grundsätzlich bleibt meine Aussage aus unserem Mailwechsel gültig: "Personen mit Sperrvermerk finden aus datenschutzrechtlichen Gründen keinen automatischen Eingang in die Wählerlisten. Die betreffenden Personen müssen innerhalb der Auslegungsfrist im Pfarramt ihre Wahlberechtigung nachweisen und werden dann nachträglich in die Wählerliste aufgenommen. Damit können sie an der Wahl teilnehmen.
Da wir davon ausgehen, dass die Entscheidung für einen Sperrvermerk in der Regel freiwillig getroffen worden ist, gehen wir auch davon aus, dass sich die Personen mit den damit einhergehenden Konsequenzen befasst haben. Dennoch werden wir künftig die Wahlvorstände darum bitten, im Rahmen des Wahlaufrufs rechtzeitig die Wähler mit Sperrvermerk zu sensibilisieren, sich nachträglich in die Wählerliste eintragen zu lassen."
Da wir davon ausgehen, dass die Entscheidung für einen Sperrvermerk in der Regel freiwillig getroffen worden ist, gehen wir auch davon aus, dass sich die Personen mit den damit einhergehenden Konsequenzen befasst haben. Dennoch werden wir künftig die Wahlvorstände darum bitten, im Rahmen des Wahlaufrufs rechtzeitig die Wähler mit Sperrvermerk zu sensibilisieren, sich nachträglich in die Wählerliste eintragen zu lassen."
Florin: Welcher Weg wäre Ihrer Ansicht nach richtig gewesen?
Rüssel: Bei den Kommunalwahlen ist es so: Dort stehen die Leute mit Sperrvermerk in der Wählerliste. Es ist allerdings vermerkt in der Wählerliste "Sperrvermerk", und derjenige, der da mit der Wählerliste sitzt, hat darauf zu achten, dass niemand Fremdes Einblick nimmt. Eigentlich müssen Sie als Wähler, weil es sich (bei einer Kirchenvorstandswahl) um eine staatliche Wahl handelt nach einem staatlichen Gesetz, nämlich eine Wahl nach dem Vermögensverwaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, davon ausgehen, dass es ähnlich läuft wie bei einer Kommunal- oder Landeswahl.
Das ist aber nicht der Fall. Man hat hier den Datenschutz über das Grundrecht auf Wahl gestellt. Und das Wahlrecht, so hat es auch eine Einspruchsführerin dargelegt, ist ein grundgesetzlich geschütztes Recht. Es hätte genügend Möglichkeiten gegeben, die Betreffenden zu informieren. Man hätte in einem solchen Fall die Pfarreien vorher darüber informieren müssen. Es kann auch nicht sein, dass sich eine ganze Wählergruppe durch Einsprüche gegen die Wählerliste das Wahlrecht erst erkämpfen muss. Und Rechtsanwälte, die ich befragt habe, Fachanwälte, die ich befragt habe, haben mir die Auskunft gegeben, dass sie der Auffassung sind, dass aufgrund dieser schwer mangelhaften Wählerliste die Wahl ungültig ist - und zwar im ganzen Bistum.
Grundrechte werden nicht durchgesetzt
Florin: Wenn wir uns mit der weltlichen Justiz befassen: Da kommt es ständig vor, dass der Eine aus diesen und jenen Gründen das sagt und der Andere sagt aus diesen und jenen Gründen das, der Eine plädiert so, der Andere so. Es gibt Experten, es gibt Gutachter, es wird ein Rechtsstreit ausgetragen. Sie haben auch einen Gutachter beauftragt, der im Grunde sagt: Das Bistum macht es sich zu einfach, wenn es diese Einsprüche gegen die Wahl zurückweist. Wir haben also diese klassische Streitsituation, die oft vor Gericht auftritt. Aber was passiert in diesem Fall, wenn es um kirchliches Recht geht oder um kirchliches Verwaltungsrecht, wenn man es genau nimmt? Was passiert da, wenn da zwei verschiedene Meinungen sind?
Rüssel: Ich sehe hier einen Mangel. In den 1970er-Jahren hat bereits die Würzburger Synode die Einführung einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit gefordert. Die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit war damals eigentlich von ihren Vorschriften und Gesetzen, soweit mir bekannt, fertig entwickelt. 1983, als das neue kirchliche Gesetzbuch CIC – Codex Iuris Canonici – erschien, tauchte die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit dort leider nicht auf. Es wurde zwar der Rechtsschutz der Gläubigen gefordert und betont. Es wird als ein Grundrecht eingestuft, dass der Gläubige gegenüber der Verwaltung einen Rechtsschutz hat und genießen muss. Es wurden hierzu aber im Grunde keine Ausführungsbestimmungen erlassen.
Florin: Die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit ist im Moment wieder in der Diskussion – auch im Zusammenhang mit dem "synodalen Weg" in Deutschland, aber auch auf weltkirchlicher Ebene. Eine solche Verwaltungsgerichtsbarkeit würde Ihnen helfen, dass Sie überhaupt die Chance haben, Widerspruch einzulegen gegen eine Entscheidung, die Sie als ungerecht empfinden?
Rüssel: Das ist so. Die Sache würde jetzt vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht landen. Dort würden im Grunde Richter entscheiden, wer recht hat. Diese Möglichkeit habe ich leider nicht.
"Gehorsam bezieht sich nicht auf Verwaltungsakte"
Florin: Auf unsere Frage, ob Sie die Möglichkeit haben, Widerspruch einzulegen, antwortet der Bistumssprecher:
"Die Kirchenvorstandswahl ist nach rechtlicher Prüfung bestätigt worden, die Wahl ist damit rechtskräftig."
Florin: Heißt das, der Bischof hat immer recht?
Rüssel: Der Bischof hat die Entscheidung ja nicht gefällt, sondern sein Justiziar. Ich habe keine Möglichkeit, Einspruch einzulegen. Sie ist endgültig. Und es gibt keine Möglichkeit, diese Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen. Das sehe ich schon als sehr problematisch an in diesem Fall.
Florin: Sie sitzen vor mir mit einem römischen Priesterkragen. Daraus würde ich vom Augenschein her ableiten: Sie sind ein gehorsamer Mann. Aber jetzt ist Ihnen sozusagen der römische Kragen geplatzt, kann man das so sagen? Weil blinder Gehorsam verlangt wird?
Rüssel: Ich sehe das nicht als eine Gehorsamsfrage an. Die Gehorsamsfrage bezieht sich nicht auf Verwaltungsakte. Ich fordere eigentlich nur die Kontrolle einer Entscheidung ein, die ich für falsch halte, und von der ich glaube, dass die Argumente nicht hinreichend berücksichtigt wurden.
Gehorsam und Kritik schließen sich nicht aus
Florin: Aber Sie haben dem Bischof ja Gehorsam gelobt bei Ihrer Weihe. Und aufgrund der Verfasstheit der katholischen Kirche ist klar: Auch die rechtsprechende Gewalt, würde man jetzt in einem Staat sagen, auch die rechtsprechende Gewalt liegt in der Hand des Bischofs. Es gibt keine Gewaltenteilung, alles läuft in der Person des Bischofs zusammen. Also, Sie haben es eigentlich gewusst, dass das in einem Konfliktfall so entschieden werden könnte – nicht muss, ein Bischof könnte auch anders handeln, aber er kann mit Recht so handeln wie er handelt.
Rüssel: Ich sehe das hier nicht als Gehorsamsfrage an. Der Gehorsam des Priesters bezieht sich zunächst immer auf Jesus Christus. Christus war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Und dieser Gehorsam ist denen geschuldet, die in die Fußstapfen Jesu Christi treten. Dazu zählt der Bischof. Es ist also zunächst einmal ein Glaubensgehorsam. Natürlich auch ein Gehorsam dem Hirten gegenüber. Das heißt aber nicht, dass man dem Hirten nicht sagen darf: Deine Entscheidung ist nicht korrekt. Im Gegenteil: Paulus hat Petrus, dem Papst, offen ins Angesicht widersprochen, als er der Meinung war, eine Entscheidung von ihm sei falsch. Petrus hat darum im Übrigen ja seine Entscheidung korrigiert. Es gab also durchaus auch hier Konflikte – und Paulus war gehorsam.
"Eventuell wäre ich stillschweigend versetzt worden"
Florin: Aber Sie greifen jetzt zu einem anderen Mittel. Sie sagen, ich lege mein Amt nieder. Die Reaktion des Bischofs ist wiederum: Er nimmt diesen Amtsverzicht an, verpflichtet Sie aber – und jetzt vermute ich auch mal im Namen Ihres gelobten Gehorsams -, die Amtsgeschäfte weiterzuführen, bis irgendetwas definitiv entschieden ist, wo Sie hin versetzt werden oder was auch immer. Ich habe beim Bistum nachgefragt, warum es kein persönliches Gespräch mit Ihnen gegeben hat. Das ist die Antwort:
"Bischof Helmut Dieser hat die Eingaben von Pfarrer Rüssel bezüglich der Kirchenvorstandswahl in die Zuständigkeit der Fachabteilung übergeben, um diese sachlich prüfen zu lassen. Von der Fachabteilung wurden die Eingaben beantwortet. Im Zusammenhang mit den vermeintlichen Unregelmäßigkeiten hatte der leitende Pfarrer der Pfarrei Sankt Petrus, Stephan Rüssel, dem Bischof von Aachen seinen Amtsverzicht angeboten. Bischof Dr. Helmut Dieser hat diesen am Freitag den 17. Mai angenommen. Offen ist jedoch, zu welchem Zeitpunkt der Amtsverzicht wirksam und ein Pfarradministrator ernannt wird. Bis dahin ist Pfarrer Rüssel gebeten, die Amtsgeschäfte weiterzuführen."
Florin: Hätten Sie sich ein persönliches Gespräch gewünscht?
Rüssel: Ja.
Florin: Was hätte das geändert?
Rüssel: Es hätte eine Konfliktbewältigungsstrategie gegeben, man hätte geredet und man hätte sich auf einen Modus Vivendi geeinigt, ohne dass ein Konflikt in die Öffentlichkeit getragen wird. Eventuell wäre es dazu gekommen, dass ich stillschweigend versetzt worden wäre. Das hätte ich dem Bischof vorgeschlagen. Zu sagen, das trage ich nicht mit, wenn Sie so entscheiden, dann kann ich das nicht mittragen, und ich ziehe die Konsequenzen daraus. Ich möchte keinen Konflikt in die Pfarrgemeinde tragen, ich möchte keinen Konflikt auf dem Rücken der Mitarbeiter austragen. Ich trage die Konsequenzen meines Verhaltens, und nicht andere.
Das Bistum spricht von "vermeintlichen Unregelmäßigkeiten"
Florin: Warum, meinen Sie, handelt der Bischof so? Er müsste doch auch an der Glaubwürdigkeit seiner Kirche, seiner Institution interessiert sein, wie Sie es auch in der ersten Antwort gesagt haben...
Rüssel: Ich bin mir nicht sicher, ob der Bischof über alle Details informiert ist.
Florin: Unregelmäßigkeiten bei einer Wahl sind ein gewichtiger Vorwurf. Das Bistum spricht in einer Presseerklärung von "vermeintlichen Unregelmäßigkeiten". Würden Sie das, was Sie erleben, als Recht bezeichnen oder ist das einfach Ausübung von Autorität?
Rüssel: Recht haben und recht bekommen, so ein alter Anwaltsspruch, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich habe die Unterschriften von einem Fachmann prüfen lassen, der mir schriftlich bestätigt hat, dass hier eine Unterschriftengleichheit vorlag, dass hier in einem Fall eine Person für drei die Wahlscheine unterschrieben hat. Damit wären drei Stimmen ungültig. In diesem Fall, wo die Wahlergebnisse extrem eng aneinanderliegen, wäre die Besetzung des Kirchenvorstands bei bis zu drei Personen eine andere – es gäbe andere Mehrheitsverhältnisse im Kirchenvorstand. Das Gutachten selber ist nicht angefordert worden.
Florin: Vom Bistum?
Rüssel: Vom Bistum. Was mich sehr enttäuscht hat.
"Ich bin ein loyaler Sohn der Kirche"
Florin: Wie steht es um Ihre innere Loyalität?
Rüssel: Ich bin Priester, und meine Loyalität gilt zunächst einmal Jesus Christus. Und dann hat er Vertreter – Papst, Bischof. Ich bin weiterhin loyaler Sohn der Kirche und werde es auch weiterhin bleiben.
Florin: Warum?
Rüssel: Weil ich die Kirche liebe. Sie ist meine Mutter. Dass man nicht immer gerecht behandelt wird im Leben, dass einen eventuell auch die Kirche nicht immer so behandelt, wie man sich das wünscht – ich denke, das gehört einfach zum Leben dazu.
Florin: Das soll bei Müttern auch vorkommen, dass die nicht immer gerecht handeln und entscheiden, auch bei Vätern. Aber trotzdem: Wir reden hier über eine Institution. Möchten Sie die verändern?
Rüssel: Ja, die möchte ich verändern. Wenn das nur ein einziger, kleiner Baustein bei der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit ist, dann habe ich etwas verändert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.