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Bizets musikalische Perlen

Die Carmen-Inszenierung von Andrea Breth und Nikolaus Harnoncourt, erstaufgeführt zum Auftakt des styriarte-Festivals in Graz, überzeugt vor allem mit ihrer hohen musikalischen Qualität. Etliche Noten hat der Perfektionist Harnoncourt umgeschrieben, da Chor und Orchester schlichtweg überfordert waren. Letztlich findet er die ursprüngliche Bedeutung der Musik wieder und bringt sie auf die Bühne.

Von Susanne Lettenbauer | 26.06.2005
    Gut vier Stunden braucht es in dieser Urfassung, bis Don José hilflos zum Messer greift, unter Torreroklängen seiner Liebe fürs Leben den Hals aufschlitzt und im Kugelhagel des Schlussakkords einen sinnlosen Tod im Büßerhemd stirbt. Ein langer Abend, eine fade Inszenierung, dafür wenigstens musikalisch eine Wucht.

    Andrea Breth wirft dem Publikum im Prolog einen optischen Leckerbissen vor die Augen, dessen Sensationsgehalt die vollmundigen Versprechen von Intendantenseite hätte einlösen können. Ein Stillleben, ein nature morte, ohne Worte und Musik. Ein harter Lichtkegel schneidet den an Seilen hängenden Don José aus der Dunkelheit. Das Schlachtvieh wird abgeführt. Der Torrero hat gesiegt. Hart überblendet von der zackigen Ouvertüre nimmt die Geschichte ihren Lauf in den Untergang. Und Andrea Breth läuft mit.

    Quer über die mausgraue Bühne geht es, durch die Falltüren hindurch, an dem eindringlich wie betörend singenden Schönberg Chor vorbei in den Soldatenalltag: Ein Gefängnis und Arbeitslager samt harten Pritschen und schmalen Spinten. Verwunderlich, dass die grobe uniforme Baumwoll-Kleidung von Kostümbildnerin Françoise Clavel keine Streifen hat, albern hingegen, dass auch Harnoncourt und sein brillantes Chamber Orchestra of Europe diese Lumpen tragen.

    Der Don José des großen, schlanken Amerikaners Kurt Streit lümmelt mamaverloren in einer Ecke, während seine Stiefschwester Micaela von der Kompanie halb vergewaltigt wird. Bei Andrea Breth ist der gutgläubige junge Soldat José ein emotionsgestörter Frauen-nicht-Versteher, dessen fehlendes sinnliches Gespür sich auf die Carmen von Nora Gubisch überträgt. Ihr Don José verliebt sich in diesem monotonen Bühnenbild nur, weil das so im Libretto steht. Kein knisternder Augenaufschlag, kein flüchtig-scheues Berühren des Anderen. Man begehrt aneinander vorbei. All die im Liebesspiel aufeinander ausgedrückten Melonen und Apfelsinen – umsonst.

    Die musikalischen Perlen werden von den Sängern auf die Bühne geschleudert. In verführerischem, bittendem, scharfem oder hochmütigem Ton: die Carmen, wie einst Julia Migenes, der sie verblüffend ähnlich sieht.

    Die tödlich-langweiligen Dialoge kühlen die Emotionen auf Gefriertemperatur herunter. Don Camillo, der Stierkämpfer und Konkurrent der Buhlschaft kommt als Falco-Verschnitt daher. Wo blieb das szenische Ausloten dieser Dialoge, die so sterbenslangweilig nicht sein müssten? Wo blieb auf diesem Verschiebebahnhof von Stellwänden die Spannung dieser viel gepriesenen sensationellen Urfassung?

    Fragt man den Dirigenten, wie er in diesem Jahr auf Bizets letzte Oper kommt, dann klingt alles ganz plausibel: Der Weg von Mozart, über Offenbach zu George Bizet ist quasi vorgezeichnet. Die Hauslibrettisten von Offenbach schrieben für Bizet den Carmen-Text nach Prosper Mérimées. Die Geschichte einer spanischen Zigarettenarbeiterin, die an der Unvereinbarkeit von Liebe und Freiheit zugrunde geht.

    Ein so diffiziler Stoff, dass bereits der Komponist gut 14-mal die berühmte Habanera umkomponierte. Andere Partiturstellen musste er schlichtweg ändern. Einmal weil er selbst unzufrieden war, ein anderes Mal, weil die ungewohnten Rhythmen und Soli den Chor samt Orchester überforderten. In den Archiven lagern deshalb etliche verworfene Carmen-Noten.

    Eine Fundgrube für jeden, der sich wie Nicolaus Harnoncourt quellenkritischer Präzision bei der Erarbeitung von Werken verschrieben hat. Den vier verschiedenen Fassungen, die nach der letzten kritischen Ausgabe aus dem Hause Schott vorliegen, hat Harnoncourt nun eine fünfte hinzugefügt. Tapfer hat er nach den Quellen die ursprüngliche Dialogfassung rekonstruiert. So versucht Nicolaus Harnoncourt die ursprüngliche Idee hinter der Musik zu finden, die so genannte wahre Bedeutung dieses Werkes. Da blitzt die Komik eines Offenbach auf, da schwebt die Leichtigkeit eines Mozart über die Bühne, dann wieder breitet Harnoncourt einen schmelzend-romantischen Klangteppich aus.

    Wahrscheinlich hat sich Andrea Breth von dem wissenschaftlichen Anspruch Nicolaus Harnoncourts anstecken lassen, doch diese Detailbesessenheit fasziniert nur, sofern man sich für diese Details interessiert. Für alle anderen war es gestern einfach zu lang, zu unhomogen. Man konnte – wie vorab angekündigt - die Oper sehen, wie noch nie zuvor, aber wollte man das? Französische Originaldialoge ohne Übertitel, das verlangte vom Publikum einiges an Langmut.

    Und weil das so im Programmheft steht, schließen wir für einen Moment die Augen. Was fühlen Sie? Was hören Sie? Die Wirklichkeit. Die gehörte gestern Nikolaus Harnoncourt. Carmen ist Musik. Aber eben eigentlich auch noch viel mehr.