Vorweg, ja, es gibt in "Blau ist eine warme Farbe" eine sehr lange Sexszene zwischen Adèle und Emma, voller Leidenschaft und sehr explizit. Doch mit Skandalösem oder gar Pornografischem hat das nichts zu tun. Denn das Körperliche wie das Sinnliche wie das Sexuelle, alles zusammen, fügt diese Liebesgeschichte erst zusammen.
Sex ist wichtig in einer leidenschaftlichen Beziehung. Auch in der Sexualität lernt man. Sagt Adèle Exarchchopuls. Abdellatif Kechiches Zugang war genauso wie bei den Ess- oder Schulszenen. Es mag irritierend sein, die beiden beim Sex zu beobachten, aber das Körperliche zwischen ihnen muss gezeigt werden. Es ist, als ob sie sich fressen wollen. Sagt Adèle Exarchopuls, mit Léa Seydoux zusammen die wunderbaren Hauptdarstellerinnen von "Blau ist eine warme Farbe".
Am Anfang ist Adèle Schülerin, am Ende eine erwachsene, vom Leben/Lieben reif gewordene Frau. Dazwischen liegt eine impulsive Achterbahnfahrt der Gefühle, der Leidenschaften, des Lernens, der Welterfahrung. Adèle, aus einfachen Verhältnissen stammend, hat den ersten Sex mit einem Jungen. Aber ihrem Vertrauten in der Schule erzählt sie von ihrer Unsicherheit:
"Ich habe das Gefühl, ich täusche nur vor. Ich täusche alles nur vor. - Also, wenn du dich in so einen Zustand versetzt, weißt du. … Nein, es liegt an mir. Er ist prima, es liegt an mir, mir fehlt was."
Warum - "dafür muss es doch irgendwie einen Grund geben" - ist bald klar, als Adèle auf der Straße an der Frau mit den blauen Haaren vorbeigeht, die eine andere Frau umarmt. In einer Schwulen- und Lesbenbar lernt sie Emma kennen; sie Adèles große Liebe. Emma, Künstlerin, Adèle, noch Schülerin.
"Ich wollte wissen, wie alt warst du, als du ein ersten Mal" - "Ein Würstchen probiert hab." - "Nein, ein Mädchen probiert hast." - "Ein Mädchen probiert? Geküsst oder probiert?" - "Geküsst für´s erste. Dann sehen wir weiter."
Abdellatif Kechiche, vor gut fünf Jahren bekannt geworden durch seinen Film "Couscous mit Fisch", inszeniert "Blau ist eine warme Farbe" als eine Ode an die Sinnlichkeit in allen vorstellbaren Tönen: Körper, Emotion, Liebe, Wut, Sex, Essen. Nicht ist ausgeblendet. Im Zentrum Adèles Reise. Am Anfang, egal, ob sie sich Schokolade in den Mund stopft, Spaghetti futtert, küsst, sich selbst befriedigt oder später, beim Sex mit Emma, sie schlingt alles, das ganze Leben, wie in sich hinein. So ist auch die Kamera von Kechiche: Sie scheint Adèle Exarchchopuls aufzusaugen auf ihrer Reise. Was mitunter eine irritierende Intensität erzeugt. Dann springt "Blau ist eine warme Farbe" wieder zu Adèles Versuchen beispielsweise, ihre lesbische Beziehung zu Emma geheim zu halten.
"Gib es doch einfach zu, gib es zu." - "Ich geb´ doch nicht etwas zu, was ich nicht bin. Was soll er Schwachsinn?"
Adèle lebt mit Emma zusammen, ist inzwischen eine engagierte Grundschullehrerin; Emma will ihre Karriere als Malerin vorantreiben. Bald kann die Liebe die bildungsbürgerlichen Unterschiede zwischen der Frau aus den einfachen Verhältnissen und der Künstlerin nicht mehr überdecken. Kommunikationsprobleme, Nichtverständnis, Alltag einer Beziehung, ob zwischen Mann und Frau oder hier zwischen Frau und Frau.
"Verschwinde aus meinem Leben. Hau ab!" - "Ich liebe dich, nur dich. Ich kann nicht gehen, was soll ich denn tun." - "Du verschwindest, hau ab!"
Später, nach Monaten des Trennungsschmerzes, geht Adèle noch einmal auf eine Vernissage von Emma. Sie ist ein Fremdkörper. Das letzte Bild zeigt die nun Erwachsene, wie sie eine Straße entlang geht. Wir sehen sie von hinten. In Rhythmus dieses Bildes liegt Melancholie, Vergänglichkeit, Abschied. Eine neuer Aufbruch ist nicht in Sicht, aber vielleicht bald.
Nach den Auszeichnungen für "Blau ist eine warme Farbe" auf den Filmfestspielen in Cannes beschwerte sich das Team von Kechiche über die die Bedingungen der Dreharbeiten. Léa Seydoux und Adèle Exarchchopuls wollen, wie sie verlautbaren, nie wieder mit diesem Regisseur arbeiten. Er hätte sie ausgenutzt. Inzwischen heizt Seydoux die Medienmühle mit ihrer Angst an, dass die Sexszenen im Film hätten "pornografisch werden können". Man beachte den Konjunktiv. Kechiche hingegen fühlte seinen Film verunglimpft und wollte ihn sogar nicht herausbringen.
Realistisch gesprochen wird uns das alles nicht interessieren, wenn wir uns von unserem Kinosessel aus - quasi in Komplizenschaft mit Kamerablick - auf diese impulsive, sehr, sehr schöne Geschichte stürzen. Fast drei Stunden ist Abdellatif Kechiches Film lang, 179 Minuten! Wie kurz kann einem so eine Zeit erscheinen, wenn sie so betörend erzählt wird.