In der Eiseskälte des Polarwinters ist der sechste Kontinent in der Vergangenheit praktisch immer wieder um das Doppelte gewachsen – weil sich das Meereis in der Antarktis so weit ausdehnte. Doch inzwischen friert der Südozean nicht mehr so stark zu, und es geht auch immer mehr von den gigantischen Gletscherzungen verloren, die sich vom Land aufs Meer hinaus schieben. So brach vor drei Jahren der bisher größte Eisberg vom Larsen-Eisschelf ab, mit einer Fläche fast zweieinhalbmal so groß wie das Saarland.
Für den Ozean sei das so, als würde man einen Vorhang zur Seite schieben, und Licht erhellt plötzlich die Szene, erklärt Christoph Held: "Der interessante Aspekt ist im Grunde, dass Gebiete, die bislang komplett durch Eis bedeckt waren und überhaupt nicht zur Besiedlung durch Organismen am Meeresboden zur Verfügung standen, jetzt langsam eisfrei werden."
Innerhalb weniger Jahre entsteht eine vielfältige Fauna
Es dauere nur wenige Jahre, bis Tiere diese Zonen eroberten und neue Ökosysteme entstehen ließen, sagt der Forscher vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Zunächst stellten sich Planktonalgen ein, die das Sonnenlicht für ihre Photosynthese nutzten, später dann andere Arten: "Das können zum Beispiel Schwämme sein, das können Moostierchen sein oder Schlangensterne. Seeigel, Seesterne. Das können auch Krebstiere sein, mit denen ich sehr viel arbeite. Also, da gibt es eine sehr reichhaltige Fauna."
Zusammen mit anderen Polarforschern weist der Biologe jetzt in der Fachzeitschrift Global Change Biology auf den Wert dieser neuen Lebensgemeinschaften. Die Tiere bauen nämlich Kohlenstoff in ihre Skelette und Körper ein, den sie dem Wasser entziehen.
Blauer Kohlenstoff, gebunkert im Südozean
Man spricht auch von blauem Kohlenstoff – weil er in Meeresorganismen gebunden ist. Christoph Held: "Und dieser Prozess führt dann dazu, dass auch netto CO2 aus der Atmosphäre dann wieder ins Meerwasser nachströmt. Also, die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre würde erniedrigt dadurch, dass Biomasse entsteht an einem Ort, an dem vorher keine Biomasse war."
Die Meeresfauna in den eisfreien Zonen schafft also neue Speicher für blauen Kohlenstoff und puffert so den Klimawandel ab. Andere marine Ökosysteme sind zwar viel reicher an Biomasse und lagern wesentlich mehr Kohlenstoff pro Quadratmeter ein - Seegraswiesen oder Mangrovenwälder zum Beispiel. Doch verglichen mit dem riesigen Küstenschelf rund um den antarktischen Kontinent bedeckten sie nur kleine Flächen im Ozean, sagt der Meeresökologe David Barnes vom Britischen Antarktis-Dienst: "Wir sprechen hier von ungeheuer großen Gebieten! Das Eisschelf um die Antarktis ist stellenweise tausend Kilometer breit, und das Meer ist dort bis zu 800 Meter tief. Es sind riesige Gebiete, die produktiver werden und der Atmosphäre Kohlenstoff entziehen, der dann in Organismen landet und teilweise auch im Meeresgrund. Das ist von großem Nutzen für uns."
Unverhoffte Hilfe im Kampf gegen den Klimawandel?
Doch wie viel CO2 könnte die aufblühende Meeresfauna in der Antarktis tatsächlich aufnehmen? Schwer zu sagen. Bisher gebe es nur einige punktuelle Untersuchungen dazu, so David Barnes – und auch nur an Tieren, die auf dem Meeresboden leben und nicht in ihm. Die benötigten ja ebenfalls Kohlenstoff:"Kürzlich haben wir versucht herauszufinden, wie das ist, wenn ein riesiger Eisberg abbricht. Wie viel Kohlenstoff wird in dem dann eisfreien Meeresgebiet gebunden? Bei einer Fläche, die etwa 5.000 Quadratkilometer groß ist? Unsere Schätzung: Die gebundene Menge entspricht dem CO2-Ausstoß von mehreren hunderttausend Autos."
Experten raten, die "Urwälder unter Wasser" zu schützen
Der natürliche Speicher für blauen Kohlenstoff wird sogar noch größer, wenn der Klimawandel fortschreitet und immer mehr Eis im Südpolarmeer verloren geht. Christoph Held und seine Ko-Autoren empfehlen daher, die neuentstehenden Ökosysteme der Antarktis streng zu schützen und das Thema auf die politische Agenda zu setzen: "Wenn wir nichts tun, werden diese Gebiete sehr schnell befischt werden. Das ist in anderen Gebieten der Antarktis ebenfalls so. Und dann werden sozusagen diese Urwälder unter Wasser, denn das sind sie ja aus Sicht der Kohlenstoffspeicherung, dann werden die zerstört. Es muss zwar noch Einiges an Forschungsarbeit geleistet werden, um wirklich beziffern zu können, wie viel Kohlenstoff das jetzt ganz genau ist. Aber wir können uns nicht erlauben, das erstmal abzuwarten und diese Zerstörung geschehen zu lassen."