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Bleisarg unter der Neutronenlupe

In Garching bei München steht einer der modernsten Forschungsreaktoren der Welt: der FRM II. Für gewöhnlich arbeiten hier Physiker, um technisch interessante Materialien zu untersuchen, und Ingenieure prüfen Werkstücke aus der Industrie. Vor Kurzem aber stattete ein Archäologenteam dem Reaktor einen Besuch ab. Im Gepäck: ein geheimnisvoller Sarg aus dem dritten Jahrhundert nach Christus.

Von Frank Grotelüschen |
    Die Experimentierhalle des Forschungsreaktors FRM II. Die Archäologin Anna Gallone sägt ein Stück Metall zurecht - Vorbereitungen für einen spektakulären Versuch. Denn gleich will Gallone ein besonderes Fundstück unter die Lupe nehmen - ein Fundstück aus der antiken Stadt Gabii.

    "Gabii lag ganz in der Nähe von Rom. Einstmals war es eine blühende Stadt, heute ist da nur noch plattes Land. Seit Jahren führen wir in Gabii systematische Ausgrabungen durch. Anfang 2009 stießen wir auf einen bemerkenswerten Sarg. Darin muss eine bedeutende Person begraben sein. Denn der Sarg ist aus Blei. Und Blei war in der Antike überaus kostspielig."

    Eine archäologische Sensation - der einzige Bleisarg, der bislang im Mittelmeerraum gefunden wurde. Er ist rund 1700 Jahre alt und hat eine eigenartige Form: Das Blei ist über den Leichnam gefaltet wie ein Tuch - was den Sarg ein bisschen aussehen lässt wie einen Burrito, einen gefüllten mexikanischen Maispfannkuchen.

    "Der Sarg wiegt 350 Kilogramm. Er ist aus einem einzigen Stück Blei gefertigt, ein rechteckiges, zentimeterdickes Bleiblech. Dieses Blech wurde damals um den Leichnam herum gebogen. Dann wurde der Sarg ins Grab gelegt."

    Ist das Skelett noch erhalten, und stecken im Sarg Grabbeigaben? Um diese Fragen zu beantworten, wollen die Archäologen einen Blick in den Sarg werfen und haben ihn dazu zum Münchener Reaktor verfrachtet. Hier soll er mit Neutronen durchleuchtet werden. Das sind winzige Kernteilchen, die - anders als Röntgenstrahlung - durch Blei fliegen können als wäre es Luft.

    "Man sieht das Blei, so dick es auch ist, ist mit Neutronen mühelos zu durchdringen."

    Der Physiker Burkhard Schillinger zeigt auf seinen Rechner. Eine Aufnahme vom Bleimantel des Sarges, sie erinnert an ein altes Stück Dämmwolle, durchsetzt von unzähligen Poren, Rissen und Falten.

    "Das Blei ist sehr unregelmäßig, was damals gemacht wurde. Sie finden über 30 Elemente in diesem Blei. Das ist sehr unrein aus der damaligen Zeit."

    Nur: Vom Sarginhalt ist auf dieser Aufnahme noch nichts zu erkennen. Denn der Sarg ist mit Erdreich gefüllt. Und durch das kommen die Neutronen schlecht durch.

    "Wenn die Erde nicht wäre, könnten wir Ihnen schon längst ein komplettes Bild von der Leiche innen zeigen, vom Skelett."

    Doch die Forscher haben eine Idee: Würde man den Sarg etwas zur Seite kippen, müssten die Neutronen nicht ganz so weit durchs Erdreich fliegen. Die Chance steigt, dass auf dem Bild mehr zu erkennen ist als Erde.

    Die Forscher machen sich an die Arbeit. Der Sarg liegt auf einem Hydrauliktisch in einer Messkammer, abgeschirmt durch dicke Stahlbetonwände. Von rechts kommen die Neutronen aus dem Reaktor, fliegen durch den Sarg hindurch und landen im Detektor, einer Art Digitalkamera für Neutronen.

    Die Forscher schrauben Stützstreben an. Sie sollen den Sarg halten, wenn er zur Seite gekippt wird.

    Dann fährt Burkhard Schillinger den Tisch behutsam in die Seitenlage, auf fast 45 Grad. Die Archäologen wirken besorgt - doch die Konstruktion hält, der Sarg bleibt auf dem Tisch. Endlich kann die Aufnahme beginnen.

    "Wir fangen jetzt an. Schließen die Tür zur Kammer. Dann können wir den Strahl öffnen und werden hoffentlich in einer Minute das erste Bild haben."

    Schillinger geht zu seinem Messcomputer und drückt ein paar Tasten.

    "Jetzt öffnen wir erst den Hauptverschluss. Das dauert ein paar Sekunden. Jetzt läuft die Messzeit von 30 Sekunden und unsere Spannung wächst."

    Eine halbe Minute später erscheint auf dem Monitor eine dunkle Fläche.

    "Das ist das erste Bild. Leider sieht man noch nicht sehr viel. Ich glaube, wir haben immer noch zu viel Erde. Wir können sehen, dass wir das Blei mühelos durchdringen. Aber das Erdreich ist einfach noch zu viel. Wir werden es wahrscheinlich bei der anderen Anlage versuchen müssen."

    Diese andere Anlage findet sich ebenfalls am Münchener Reaktor. Sie wird deutlich schnellere Neutronen auf den Sarg schießen, mit noch größerer Durchdringtiefe. Und tatsächlich: Die Bilder mit den schnellen Neutronen deuten an, dass im Sarg etwas Gefäßartiges liegt - womöglich eine Grabbeigabe, die einiges über den Bestatteten verrät. Doch näheres werden die Archäologen erst Ende Oktober wissen. Dann wollen sie den Sarg aufschneiden und sorgsam durchsuchen. Und die Neutronen-Bilder aus München werden dabei als wertvolle Orientierung dienen.