Wenn von Egozentrizität die Rede ist, so möchte der Autor diese unterschieden wissen vom negativ besetzten Egoismus – der krankhaften Ich- oder Selbstsucht. Egozentrizität schließe Altruismus nicht aus, da ich mir ja das Wohl anderer zum Zweck gewählt hätte. Man mag einwenden, daß so mancher Wohltäter weniger selbstlos handelt, als es auf den ersten Blick wirkt. Nämlich wenn er sich psychisch selbst belohnt und als Stifter, Sponsor, Mäzen seinen Namen, sein Andenken verewigt wissen will. Nach dem Motto: "Tue Gutes und spreche darüber."
Und was bedeutet es, wenn wir ‚ich‘ sagen? Wir objektivieren uns als bewußte Wesen. Allein der uns vertraute Mensch identifiziert uns anhand der Stimme, wenn wir "ich bin’s" sagen. Kommunikation, das ‚ich‘-Sagen, wäre das herausragendste Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Nur ‚ich‘-Sager könnten sich auf eine gemeinsame Sache – ein Gutes beziehen. Subjektivität definiert der Philosoph wie folgt: "Für einen ‚ich‘-Sager wandelt sich die rudimentäre Selbstzentrierung (...) zu einer Ego-Zentrizität um: man hat nicht nur Gefühle, Wünsche usw., sondern weiß sie als seine eigenen Wünsche." Beim bereits zitierten Guten differenziert der Autor zwischen vier Formen: dem, was für mich gut ist - der egozentrischen Variante; dem, was mir in den Augen der anderen das Prädikat ‚gut‘ einbringt, weil ich z.B. beruflich qualifiziert bin und gelungene Leistungen erbringe; dem moralischen Guten und zuletzt intellektueller Redlichkeit.
Das moralische Gute meint wechselseitige und unbedingte Forderungen, gültig für jede moralische Gemeinschaft. Wenn ich Forderungen als Vertrag, Konventionen oder Normen übersetze, bleibt immer noch die Frage nach der moralischen Gemeinschaft welchen Glaubens, welcher Kultur. Die allgemeinen Menschenrechte stellen deshalb nicht mehr als das Bemühen um den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Das Thema wird leider zu rasch abgehakt.
Tugendhats Buch fächert die Wege auf, wie Egozentrik teilweise oder scheinbar absolut überwunden wird. Schon der um sich besorgte Mensch der Arbeit stellt Zwecke sowie die eigene Zukunft über seine unmittelbaren Gefühle: er übt sich im Triebverzicht, verschiebt das Glück auf Morgen. Der Altruist dagegen tritt vom eigenen Wohl zurück, weil er andere und anderes wichtig nimmt, nicht so sehr nur sich selbst. Im Falle des Mystikers relativiere der ‚ich‘-Sager sich selbst, einschließlich seiner Sorgen, mit Blick auf das Universum.
Nun stellt die Mystik der fernöstlichen Schule den Grenzfall dar, daß sie eine "diesseitige" ist: mal mehr Weisheitslehre, mal mehr Weg zur Selbsterlösung ohne personifizierten Gott. Im Taoismus, im Buddhismus, im Zen, im Tantrismus geht es um die Ich-Überwindung, die Relativierung oder Leugnung der Wünsche. Angestrebt wird die "Transformation des Selbstverständnisses", hebt Tugendhat hervor. Die Religion hingegen setzt der Autor in Opposition zur Mystik, da der gläubige Mensch auf dem Wege einer "Wunschprojektion" die "Transformation der Welt" anstrebe. Er verhalte sich zu Gott oder Göttern wie zu mächtigen Mitmenschen in der Überzeugung, damit sein Schicksal positiv zu wenden. Beim religiösen Menschen sei der pragmatische Faktor dominant. Er opfere, befolge Riten etc. aus Berechnung.
Ich würde entgegnen, daß Christentum und Buddhismus einiges gemeinsam haben, so die Nächstenliebe bzw. das Mitleid mit allen Lebewesen. Die christliche Erlösungsvorstellung verspricht das ewige Leben im Jenseits – die buddhistische die Erlösung vom Leben im Nirvana, verstanden als Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten. Beiden Traditionen ist eine mehr oder minder extreme Weltverneinung eigen. Sicher ist in der asiatischen Mystik der Aspekt der Erkenntnis, der Erleuchtung wesentlicher als derjenige des Glaubens oder gar der mystischen Verschmelzung mit Gott, wie im Christentum. Gleichwohl sucht auch der asiatische Mystiker sein persönliches Heil in den Lehren der Desillusionierung, Ich-Überwindung etc.
Mit Ausnahme bestimmter Heiliger, die selbstlos anderen Gutes taten, fällt es schwer, überzeugende Beispiele für überwundene Egozentrik zu benennen. Noch der Mystiker, der sich im Nicht-Handeln übt oder anstrebt, auf die Früchte seines Tuns zu verzichten, will etwas, strebt etwas an, und sei es die Leere. Was ist der Mensch? Vielleicht dieses Paradox.
Ernst Tugendhat
Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie
C.H.Beck, 172 S. , EUR 19,90