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Israelischer Journalist über palästinensische Gebiete
Blick hinter den Grenzzaun

Sie werden als „besetzte Gebiete“ bezeichnet, doch über den Alltag der dort lebenden Palästinenser ist wenig bekannt. Der israelische Journalist Ohad Hemo wirbt in seinem Buch „Jenseits der grünen Linie“ für die Menschen dort. Er will Verständnis schaffen und zugleich rote Linien markieren.

Von Matthias Bertsch |
Ohad Hemo und sein Buch "Jenseits der Grünen Linie. Ein Israeli berichtet aus den palästinensischen Gebieten“
Der israelische Autor Ohad Hemo und sein Buch "Jenseits der Grünen Linie. Ein Israeli berichtet aus den palästinensischen Gebieten“ (Foto: (c) Ohad Hemo, Buchcover: Ch. Links Verlag)
Ohad Hemo beginnt sein Buch mit einer Anekdote. Er geht mit Muhammad, einem befreundeten Palästinenser, durch die Gassen eines Flüchtlingslagers bei Bethlehem. Dabei entspinnt sich ein Gespräch darüber, dass sich Teile der arabischen Welt in den letzten Jahren an Israel angenähert haben. „Kann es sein, dass ihr den Zug verpasst habt?“ stichelt Hemo. Als Antwort verweist Muhammad auf einen kleinen, barfüßigen Jungen.
„‘Wenn dieser Junge beschließt, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch zu schnallen oder sich eine Waffe zu nehmen, und einen Anschlag verübt, dann wird euch kein Millionär aus den Emiraten helfen können’, sagte er. ‘Und daher, löst erst einmal den Konflikt mit uns, euren Nachbarn, denn solange der nicht gelöst ist, werdet ihr keine wirkliche Ruhe haben und auch nicht aufhören, ein Fremdkörper im Nahen Osten zu sein.’ Diese einfache Wahrheit bringt derzeit die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts am besten auf den Punkt.“

Alltag unter Besatzung

Was folgt, sind knapp 300 Seiten Einblick in den Alltag unter Besatzung, von dem die meisten Israelis, aber auch ein Großteil der westlichen Welt, wenig wissen und noch weniger wissen wollen. Ohad Hemo zeichnet ein Bild der palästinensischen Gesellschaft heute – durch die Begegnungen mit Menschen innerhalb der vergangenen 20 Jahre:
„Ich habe mit Hamasmitgliedern geredet, die mit großer Offenheit über die Veränderungen sprechen, die ihre Organisation durchläuft, mit Häftlingen, die für den Mord an Israelis zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt wurden, mit palästinensischen Arbeitern, die in Israel arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen.“
Das Bild ist weder vollständig noch „objektiv“. Es kommt keine einzige Frau zu Wort, und die Männer, die mit Hemo reden, tun dies meist in dem Wissen – und manchmal auch mit der Absicht -, dass er als Journalist ihre Worte in die israelische Gesellschaft weiterträgt.

Die eigentliche Wurzel

Dennoch wirken die Aussagen seiner Gesprächspartner selten wie aufgesetzte politische Phrasen, sondern wie ehrliche Einblicke in ihr Denken und Fühlen, zum Beispiel, wenn ihm ein Hamas-Anhänger erklärt, wo seiner Ansicht nach die eigentliche Wurzel des palästinensisch-israelischen Konfliktes liegt.
“Es handelt sich nicht um einen Kampf zwischen uns und einem Kolonialfeind, den das Geld hierher gelockt hat; selbst die jüdischen Siedler sind keine Kolonialisten im klassischen Sinn wie zum Beispiel die Franzosen in Algerien. Hier kämpfen zwei Völker, die von religiösem Glauben und Nationalismus durchdrungen sind, um das Ihre: Ich kämpfe um meine al-Aqsa-Moschee, und du kämpfst um deinen Tempelberg. Ich habe keine Wahl – und mir scheint, du hast auch keine.“
Anstatt sich mit diesen unvereinbaren Ansprüchen aufzuhalten, weitet der Autor den Blick. Er beschreibt, mit welcher Gewalt sich die religiöse Hamas und die säkulare Fatah bekämpfen – vor allem, seit die Hamas 2007 in Gaza die Herrschaft übernommen hat -, und wie enttäuscht viele Palästinenser von der Korruption beider Gruppen und der palästinensischen Autonomiebehörde sind. Hemo besucht palästinensische Häftlinge in den israelischen Gefängnissen, die sich zum Teil radikalisieren - und zum Teil beginnen, den Rechtsstaat in Israel zu schätzen. Besonders spannend und erschütternd ist das Kapitel über die palästinensischen Kollaborateure. Wer sich mit dem israelischen Geheimdienst Schabak einlässt, muss in der eigenen Gesellschaft um sein Leben fürchten. Aber fast noch schlimmer ist sein Ausgeliefert-Sein, erklärt ein hoher Schabak-Mitarbeiter:
„Wenn jemand zu mir sagt, dass seine Tochter krebskrank ist, und ich benutze das zur Manipulation – das tut mir weh. Im Endeffekt spüre auch ich, dass ich zu viel Macht in Händen habe, eine ungute Macht. Was einen wirklich stört, ist die Tatsache, dass man einen Menschen hernimmt und ihn so durcheinanderbringt, dass er völlig transparent für dich wird.“

Grenzen des Verständnisses

Ohad Hemo berichtet nicht über die Palästinenser, er will auch Verständnis für sie schaffen. Aber sein Verständnis hat Grenzen und nirgends werden sie sichtbarer als im Kapitel über die Flüchtlingslager. Diese erinnern an die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung im Unabhängigkeitskrieg 1948/49. Das Recht auf Rückkehr ist unverhandelbar, betonen fast alle seine Gesprächspartner, doch für Hemo wird hier aus einer grünen Linie eine rote,
„denn seine Umsetzung würde den Charakter und die Identität Israels als jüdischen Staat bedrohen. Die überwältigende Ablehnung, ebenso wie das Bestreiten jeglicher Verantwortung für die Nakba, geht in Israel quer durch Lager und Schichten. Würden die Palästinenser hingegen auf die Rückkehr verzichten, bedeutete das in den Augen vieler Israelis die faktische Anerkennung Israels als Staat des jüdischen Volkes. Und solange es diese Verzichterklärung nicht gibt, kann über ein Ende des Konflikts nicht geredet werden.“
In solchen Stellen wird deutlich, dass Hemo nicht nur Journalist sondern auch Partei ist – und entsprechend das eigene Narrativ über das andere stellt, vor allem, wenn es um die Staatsgründung geht.
„Die jüdische Seite begann ihren Weg in die Unabhängigkeit, als sie schwach, unterdrückt und verfolgt war, und es ist ihr im weiteren Verlauf wie durch ein Wunder gelungen, einen Staat aus dem Nichts zu erschaffen.“

Das Ende der Zwei-Staaten-Lösung

Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Die jüdische Seite war nicht nur schwach, sondern hatte mächtige Verbündete. Ohne die engen Beziehungen der Zionisten zur Kolonial- und späteren Mandatsmacht Großbritannien wäre es nie zur Balfour-Deklaration gekommen. Auf ihr basierte die internationale Unterstützung für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Doch genau dieser ist in Gefahr, wenn man Hemos Fazit ernst nimmt. Denn die Palästinenser glauben ihrerseits nicht mehr an einen eigenen Staat, schreibt er. Sie seien desillusioniert und ohne Hoffnung.
„Immer mehr Menschen wünschen sich die Beseitigung der Grünen Linie, die Abwicklung der Palästinensischen Autonomiebehörde und de facto die Errichtung eines einzigen Staatsgebildes zwischen Jordan und Mittelmeer – mit allen damit verbundenen Risiken.“
Risiken vor allem für die jüdisch-israelische Seite. Denn sie hat mehr zu verlieren als die palästinensische.
Ohad Hemo: „Jenseits der Grünen Linie. Ein Israeli berichtet aus den palästinensischen Gebieten“
Ch. Links Verlag, Übersetzung: Barbara Linner
304 Seiten, 25 Euro.